Der Mann der Vernunft
Henry Fonda war das gute Gewissen der Vereinigten Staaten. Dem Schauspieler, der mit seiner fünf Jahrzehnte umspannenden Karriere zu den größten Filmstars des klassischen Hollywood-Kinos zählt, haftete Zeit seines Lebens das gern bemühte Bild des everyman, also eines einfachen und bescheidenen Charakters, an. Dazu trugen nicht unerheblich seine tugendhaften Rollen bei, die er in einer Vielzahl seiner mehr als 100 Filmen, wie in »Früchte des Zorns« (1940), »Keine Zeit für Heldentum« (1955) oder »Die zwölf Geschworenen« (1957), spielte. Mit Fonda auf der Leinwand vergewisserten sich die USA trotz ihrer blutgetränkten Geschichte immer wieder der eigenen Rechtschaffenheit. Dass er auch immer wieder abgründige Figuren spielte, wird gerne unterschlagen. Auch seine Aussagen als Privatperson entsprachen nicht immer diesem braven Bild.
Davon zeugt sein letztes Interview, das er dem Journalisten Lawrence Grobel im Juli 1981 gab, ein Jahr vor seinem Tod. Auf die Frage, was er von Ronald Reagan halte, der zu dem Zeitpunkt seit knapp einem halben Jahr im Amt des Präsidenten war, antwortet Fonda zunächst zurückhaltend. Es falle ihm schwer, über Reagan zu reden, da dieser das Land in ein Desaster führe. »Ich glaube, er hat uns auf einen Weg gebracht, auf dem wir noch lange bleiben werden.«
Warum Reagan denn so erfolgreich sei, wird er daraufhin gefragt. Seine Antwort: »Er ist ein verdammt guter Redner. Er sagt die Dinge, die die Leute hören wollen. Er sagt sie sehr überzeugend und mit etwas, das nach Aufrichtigkeit klingt. Er spricht eine Sprache, die die Menschen schon lange nicht mehr gehört haben, und das beeindruckt sie.« Nach einer kurzen Pause bricht es aus ihm heraus: »Wenn ich eine Rede von Reagan höre, will ich mich übergeben!«
Der Regisseur Horwath begab sich auf einen Roadtrip durch die USA, um auf den Spuren des zurückhaltenden und wortkargen Schauspielers Henry Fonda zu wandeln.
Jenes Interview ist der Ausgangspunkt von »Henry Fonda for President«, eines äußerst beeindruckenden, knapp dreistündigen Essayfilms des österreichischen Filmhistorikers und Kurators Alexander Horwath, der anhand des Schauspielers und seiner Filmrollen ein großangelegtes Kaleidoskop der Geschichte der USA und ihrer gesellschaftlichen Verwerfungen entwirft. Fonda wird gewissermaßen zum Autor einer ganz eigenen Erzählung, der Erzählung über die »United States of Fonda«, wie Horwath sie nennt. Dafür verwendet er nicht nur die Tonaufnahmen dieses letzten Interviews und zahlreiche Ausschnitte aus Fondas Filmen. Horwath begab sich selbst auf einen Roadtrip durch die USA, um auf den Spuren des zurückhaltenden und wortkargen Schauspielers zu wandeln, der sich in seinem Understatement nie als Künstler begriff.
Es ist verblüffend, wie sehr sich Henry Fonda für dieses Vorhaben eignet. So gehörten seine niederländischen Vorfahren zu den ersten Siedlern in den damaligen Kolonien am Hudson River. In Albany im heutigen Bundesstaat New York lässt sich die Anwesenheit der Fondas bis in das Jahr 1651 nachweisen. Nur wenige Meilen entfernt wurde eine Siedlung nach Douw Fonda benannt, einem Vorfahren Henrys, der während des Unabhängigkeitskriegs von Mohawks skalpiert wurde.
Das filmische Pendant zur eigenen Familiengeschichte findet sich in »Trommeln am Mohawk« (1939) von Regisseur John Ford, in dem Fonda einen Farmer spielt, der sich mit seiner Frau gegen Angriffe von Loyalisten der britischen Krone und Mohawks zur Wehr setzen muss. Es war Ford, der in Fonda immer wieder archetypische Figuren der US-amerikanischen Geschichte sah, wie den Landburschen und späteren Präsidenten Abraham Lincoln in »Der junge Mr. Lincoln« (1939). Oder in »Bis zum letzten Mann« (1948), in dem er einen widerwärtigen Colonel spielt, der nach dem Vorbild von George Armstrong Custer, einem General zur Zeit der großen Kriege gegen die amerikanischen Ureinwohner, geformt ist.
Für seine Rolle als rechtschaffener Outlaw Tom Joad in »Früchte des Zorns«, ebenfalls von John Ford, wurde Fonda erstmals für den Oscar nominiert. Der Film zählt nicht nur wegen seiner ästhetischen Qualitäten zu Hollywoods Filmkanon. Der große Studiofilm – produziert wurde er von 20th Century Fox – ist überaus politisch und klassenkämpferisch angelegt. Die Geschichte vertriebener und verarmter Farmer, die in Kalifornien ihr Glück suchen und mit dem ausbeuterischen Markt der Saisonarbeiter konfrontiert werden, entblößt hinter dem demokratischen Freiheitsversprechen die Freiheit eines so regel- wie skrupellosen Kapitalismus. Gleichzeitig ist der Film ein erstaunliches Beispiel für die standardisierte Massenproduktion der großen Studios. So kam der Film bereits elf Monate nach Erscheinen der gleichnamigen Buchvorlage von John Steinbeck in die Kinos.
In den Bilderwelten Hollywoods, darauf verweist Horwath, vermengen sich Fiktion und historische Fakten. Die demokratischen Aushandlungsprozesse finden nicht nur in der politischen Debatte statt, sondern auch in der öffentlichen Imagination. »Henry Fonda for President« erkundet, was diese Imagination über die USA, jenes widersprüchliche Land, das ebenso gehasst wie geliebt wird, erzählt und wie sie in die Realität hineinwirkt.
Objektiv auf das US-amerikanische Justizsystem
Fonda ist mit seinem Leben und Wirken wie geschaffen für dieses Unterfangen, wie Horwath in einer Stellungnahme erwähnt: »Dank seiner Familiengeschichte, seiner persönlichen Konflikte, Schwächen und Überzeugungen, seiner Filme und seines besonderen Vermögens als Darsteller fungiert Fonda auch ein bisschen wie ein Zoom-Objektiv, das mittels variabler Brennweite verschiedenste Dimensionen der Geschichte und des Lebens in Amerika einfängt.«
1957 richtet sich dieses Objektiv auf das US-amerikanische Justizsystem. »Die zwölf Geschworenen« in der Regie von Sidney Lumet ist ein Plädoyer für die Sorgfalt gerichtlicher Beweisführung. Fonda spielt den Geschworenen Nr. 8, der sich einem vorschnellen Schuldspruch entgegenstellt. 1964 verkörpert Fonda in »Der Kandidat« von Franklin J. Schaffner einen Präsidentschaftskandidaten, der, um Schlimmeres zu verhindern, auf seine Kandidatur verzichtet. Fonda als der Mann der Vernunft, der in seinem Spiel nie den eigenen Vorteil suchte – im Gegenteil.
»Er sucht das kleinere Übel und die kleinere Geste. Versteckt darin ist das Gewicht der Welt, das es zu bewahren gilt«, heißt es einmal aus dem von Horwath selbst gesprochenen Voice-over. Horwath, der bereits in seiner Zeit als Leiter des Österreichischen Filmmuseums den großen Wert der Schauspielkunst hervorhob, sieht in Henry Fonda einen Beleg dafür, dass dem Schauspieler im Gesamtwerk eines Films ebenso eine Autorenschaft zukommt wie dem Regisseur oder Drehbuchautor.
Peter Fondas »Easy Rider«, Jane Fondas »Barbarella«
Die späten Sechziger bilden einen Kristallisationspunkt sowohl in Fondas Karriere als auch in Hollywood. Sein Sohn Peter stellt sich mit »Easy Rider« (1969) an die Speerspitze einer neuen Generation von Filmemachern. Auch seine Tochter Jane wendet sich im Camp-Klassiker »Barbarella« (1968) der aufkommenden linken Gegenkultur zu.
Und der Vater? Der kehrt nochmals zur urwüchsigen Gewalt Amerikas zurück. Seine Rolle in »Spiel mir das Lied vom Tod« von 1969 in der Regie von Sergio Leone ist eine radikale Abkehr vom Bild des rechtschaffenen und besonnenen Amerikaners, das ihm immer wieder nachgesagt wurde. Legendär ist jene Einstellung auf Fondas Gesicht mit seinen kristallblauen Augen, der dem erstaunten Publikum klarmacht, dass er, der good guy, hier den Bösewicht spielt, der sogleich das vor ihm stehende Kind ohne mit der Wimper zu zucken niederschießt. Horwath versteht den Film als Ausdruck des US-amerikanischen Niedergangs: »Die politische Macht der USA kippt in Ohnmacht. ›Once Upon A Time‹ wurde zwei Wochen nach einem Massaker in Vietnam gedreht.«
Anders als es der Filmtitel »Henry Fonda for President« vermuten lässt, hatte der Schauspieler, der ein großer Unterstützer der Demokraten war und Franklin D. Roosevelt bewunderte, nie politische Ambitionen.
Anders als es der Filmtitel »Henry Fonda for President« vermuten lässt, hatte der Schauspieler, der ein großer Unterstützer der Demokraten war und Franklin D. Roosevelt bewunderte, nie politische Ambitionen. Den Titel entnahm Alexander Horwath der Sitcom »Maude« aus den siebziger Jahren, in der die Hauptfigur Maude Findlay (gespielt vom späteren »Golden Girl« Bea Arthur) davon phantasiert, dass Henry Fonda für das Präsidentenamt kandidieren könnte. Fonda selbst ist in einem Cameo-Auftritt zu sehen und erteilt Maude eine freundliche Abfuhr, wie es nur ein everyman kann.
Die Frage, ob er ein besserer Präsident gewesen wäre als sein Schauspielkollege Ronald Reagan, lässt der Film offen. Eines dürfte aber gewiss sein: Dass sich Henry Fonda, würde er heute noch leben, wohl auch bei den Reden des soeben inaugurierten Präsidenten am liebsten übergeben würde.
Henry Fonda for President (Österreich/Deutschland 2024). Buch und Regie: Alexander Horwath. Filmstart: 30. Januar