»Ich sehe die Saat für Veränderung«
Wie würden Sie die Situation im Gaza-Streifen beschreiben?
Leider haben wir die denkbar schlechteste Konstellation, bei der die Hamas sich weiter behaupten kann, auch wenn sie ernsthaft geschwächt ist. Kein Cent für den Wiederaufbau wird hereinkommen, solange die Hamas die Kontrolle ausübt. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) ist unfähig und interessiert sich für den Gaza-Streifen nur als Teil eines künftigen Palästina mit der Westbank und Ostjerusalem im Rahmen einer Zweistaatenlösung.
Wie geht es der Bevölkerung des Gaza-Streifens?
Die Bevölkerung ist traumatisiert, verbittert, hat weder Elektrizität noch fließendes Wasser. Dennoch wird Hamas nach dem Waffenstillstand die Kontrolle behalten und sich selbst bereichern. Es gibt das Szenario, dass Israel nach Freilassung der Geiseln in einigen Monaten den Krieg wiederaufnimmt oder schwere Schläge gegen die sich neu formierende Hamas ausführt. Trotzdem möchte ich als jemand, der im Gaza-Streifen aufgewachsen ist und dort Familie hat, dass der Krieg endet.
»Wir befinden uns in einem verfluchten Debakel, aber zumindest ist die Hamas-Herrschaft erschüttert.«
Auch dann, wenn die Hamas die Kontrolle behält?
Ja. Israel hat sich nach 15 Monaten als unfähig erwiesen, Hamas zu zerstören. Der damalige US-Außenminister Antony Blinken hat am 14. Januar beim Atlantic Council seine Einschätzung abgegeben, dass die Hamas in etwa so viele Leute neu rekrutieren konnte, wie Israel eliminiert hat. Joe Biden hatte Israel davor gewarnt, die gleichen Fehler zu machen wie die USA nach dem 11. September. Wir befinden uns in einem verfluchten Debakel, aber zumindest ist die Hamas-Herrschaft erschüttert.
Im August 2025 jährt sich der israelische Rückzug aus dem Gaza-Streifen zum 20. Mal.
Das sollte Anlass für Reflexion sein: Was haben die Palästinenser im Gaza-Streifen dadurch gewonnen? Geht es uns ökonomisch besser, gibt es bessere Infrastruktur, gibt es einen eigenen palästinensischen Staat? Nichts davon. Der israelische Rückzug hätte ein überzeugendes Vorbild für palästinensische Selbstregierung, für eine Westbank ohne Besatzung werden können. Stattdessen verkam er zum Argument dafür, bloß keine israelischen Siedlungen in der Westbank abzubauen. Ich sage nicht, dass ich dem zustimme, aber die vergangenen 20 Jahre waren für uns Palästinenser, nicht nur für Israelis, ein einziges Desaster, das vom Massaker am 7. Oktober und den Folgen gekrönt wurde.
Die vom Iran geführte »Achse des Widerstands« wurde in den vergangenen Monaten durch die israelischen Schläge gegen die Hizbollah im Libanon und den Sturz des syrischen Assad-Regimes stark geschwächt. Welche Kräfte könnten die Macht im Gaza-Streifen übernehmen?
Es sollte eine Übergangsphase mit internationaler Beteiligung geben. Die PA kann und will dort nichts erreichen, um das eigene verbleibende politische Kapital nicht zu gefährden, hat aber jeden anderen Einfluss im Gaza-Streifen blockiert, sei es durch die Vereinten Arabischen Emirate, internationale Friedenstruppen oder eine Übergangsregierung. Das Problem ist, dass der Gaza-Streifen nicht nur wiederaufgebaut, sondern neu verfasst werden muss.
»Das Problem ist, dass der Gaza-Streifen nicht nur wiederaufgebaut, sondern neu verfasst werden muss.«
International wird das israelische Handeln unterschiedlich eingeschätzt, die einen sprechen von einer alternativlosen und Israel von der Hamas aufgezwungenen Art der Kriegführung, andere erheben den Vorwurf, Israel wolle den Gaza-Streifen unbewohnbar machen. Wie sehen Sie es?
Die Hamas hat sich bewusst in dichtbesiedelten Gebieten und hinter ziviler Infrastruktur versteckt, aber das heißt nicht, dass Israel sich darauf hätte einlassen sollen. Ich würde viel lieber an nichtmilitärischen Alternativen arbeiten, als dass die Reste des Gaza-Streifens und meine Familie und Freunde bombardiert werden. Wenn ich Israels internationales Ansehen betrachte, die negativen Folgen noch über Generationen, hätte Israel es anders angehen müssen, auch wenn es wie jedes andere Land ein Recht auf Selbstverteidigung hat.
Was halten Sie vom Vorwurf, Israel begehe einen Genozid?
Auch wenn es in der israelischen Regierung durchaus Kräfte mit genozidaler Intention gibt, denke ich nicht, dass im Gaza-Streifen ein Genozid stattfindet. Es gab fürchterlichste Kriegsverbrechen, darunter das Abschlachten meiner Familie, über das in der New York Times und in Foreign Policy in einem Porträt über mich berichtet wurde. Bei bewaffneten Konflikten fliehen Menschen, sei es im Jemen, in Libyen, im Sudan. In Mossul hatten die meisten die Stadt verlassen, obwohl sie der »Islamische Staat« 2017 als menschliche Schutzschilde gebrauchen wollte. Die Mehrheit der Bevölkerung im Gaza-Streifen wurde hingegen nicht evakuiert. Die Menschen mussten bleiben und sich von einem Ort zum anderen bewegen. Israel hat meine Familie getötet, aber die Hamas hat sie Israel ausgeliefert und den Krieg begonnen.
»Auch wenn es in der israelischen Regierung durchaus Kräfte mit genozidaler Intention gibt, denke ich nicht, dass im Gaza-Streifen ein Genozid stattfindet.«
Auf israelischer Seite gab es die Haltung, dass es im Gaza-Streifen keine unschuldigen Zivilisten gebe, dass alle Hamas seien. Der Schock nach dem 7. Oktober war so fürchterlich, dass der Vorschlag aufkam, die Gaza-Bevölkerung in den Sinai zu treiben. Dabei wurde unterschätzt, wie schrecklich das nach hinten losgehen würde, was die Beziehung zu Ägypten angeht. Durch sichere und temporäre Ausreise nach Ägypten, das seine Grenze allerdings geschlossen hatte, hätten Leben gerettet werden können, ohne dass Ägypten hätte fürchten müssen, dass es dauerhaft zwei Millionen Menschen aufnehmen muss.
Die Hamas ist zwar geschwächt, existiert aber noch. Wie hätte man sie effektiver bekämpfen können?
Man hätte militärisch gezielter und geduldiger gegen bekannte Hamas-Ziele und -Funktionäre vorgehen können, aber das Tempo, mit dem Militärschläge auf Grundlage fragwürdiger Geheimdienstinformationen nach dem 7. Oktober durchgeführt wurden, das Bemühen, maximalen Schaden anzurichten, und den Einsatz überwältigender Feuerkraft in engem Gebiet mit dort gefangenen Zivilisten hat Israel beschlossen. Wenn die Bevölkerung isoliert, verzweifelt und ohne Optionen ist, wird es für die Hamas einfach sein, diese Wut und Verzweiflung auszunutzen und Menschen als Kanonenfutter für ihr nihilistisches und suizidales Unterfangen zu rekrutieren.
Sie haben die Hoffnung geäußert, dieser Krieg könnte der letzte sein und die Ideologie dahinter an Zustimmung verlieren. Warum sollte dies gerade jetzt eintreten? Die Ablehnung Israels hat der palästinensischen Seite doch schon viele Jahrzehnte lang Leid und Niederlagen gebracht.
Die Palästinenser haben sich schon vor der israelischen Staatsgründung mit Waffen gewehrt und sind damit gescheitert. Märtyrerkult ist Teil der palästinensischen Geschichte, aber man kann sich weiterentwickeln. Das Massaker der Hamas mit der folgenden Zerstörung im Gaza-Streifen war vollkommen ohne Rücksicht auf das Wohl der Bevölkerung, so dass ich nicht glaube, dass die Hamas die Bevölkerung nochmal in so ein suizidales und schändliches Unternehmen verwickeln kann. Ich sehe wie nie zuvor die Saat für Veränderung. Das bedeutet nicht, dass die über Nacht geschieht und die Hamas keine Unterstützung mehr hat, aber die Menschen haben sich auf bisher beispiellose Weise gegen Hamas gewandt.
Haben Sie Beispiele für die Auflehnung?
Es gibt massenhaft Kritik an der Hamas in arabischen sozialen Medien, die nicht nur von deren politischen Rivalen, der Fatah, kommt. Das Framing von Hamas als »Widerstand« gegen Israel und der ganze ideologische Müll wird da zurückgewiesen. Für die Menschen im Gaza-Streifen ist es eine Frage von Leben und Tod. Der Blick auf die Hamas als selbstsüchtig, destruktiv und nicht hilfreich normalisiert sich auf eine Weise, die ich bisher noch nicht gesehen habe.
Was könnten propalästinensische Kräfte tun, um eine friedliche Lösung des Konflikts zu befördern?
Radikaler Pragmatismus ist vonnöten. Wir müssen verstehen, dass nichts Gutes aus der Herrschaft der Hamas, aus der Verherrlichung von Gewalt und Terror erwächst. Es wird für Palästinenser keinen bedeutenden Fortschritt geben, solange sie nicht gemeinsam die Idee einer Zweistaatenlösung verfolgen, die nicht die Auslöschung des jüdischen Staats bedeutet. Es muss ein Ende des »bewaffneten Widerstands« geben, was ohnehin nur für den 7. Oktober mit Raub, Mord und Vergewaltigung steht.
»Es muss ein Ende des ›bewaffneten Widerstands‹ geben, was ohnehin nur für den 7. Oktober mit Raub, Mord und Vergewaltigung steht.«
Eine bessere Zukunft für uns verlangt eine gewisse Abgrenzung von Israel, aber auch Kooperation. Israel besteht nicht nur aus dem rechten Lager, wie auch Palästinenser nicht alle im Hamas-Lager sind. Die Kräfte in der Diaspora müssen für eine solche Zukunft werben, nicht für Intifada, Selbstmordattentate und Messerstechereien. Selbst wenn man die historischen Wurzeln Israels in der Gegend nicht anerkennen will, ist Israel ein fait accompli, eine Tatsache, die man akzeptieren muss.
Und was könnten proisraelische Kräfte tun?
Sie müssen verstehen, dass es mehr braucht als Hasbara (die diplomatische Kommunikationsstrategie der israelischen Regierung, ihre Handlungen zu erklären; Anm. d. Red.), zumal die Argumente oft peinlich sind. Ein Haufen Studenten bei internationalen propalästinensischen Protesten hat den Diskurs auf eine Weise dominiert, wie es Israel mit Millionen Dollar an Hasbara nicht gelungen ist.
Sie müssen anerkennen, dass Israel immense Macht über Palästinenser ausübt und deshalb einen größeren Grad an Verantwortung hat. Im Rahmen dieses Ungleichgewichts haben Palästinenser Handlungsspielraum, aber Israel hält die Karten in der Hand. So bösartig propalästinensische Kräfte oft sind, sollte das kein Grund sein, auf gleiche Weise zu reagieren, darüber zu reden, dass es Palästinenser gar nicht gebe, dass sie nach Ägypten gehen sollen, dass man sie alle töten solle. Das ist ein Kreislauf der Entmenschlichung, den ich durch Allianzen und Brückenbau zu durchbrechen versuche. Beide Seiten im Ausland müssen versuchen, zu einer tatsächlichen Annäherung zwischen Israelis und Palästinensern beizutragen.
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