30.01.2025
Ukrainische Blogger suchen auf der Videochat-Website Chatroulette das Gespräch mit Russen

Russisch-ukrainisches Chatroulette

Ukrainische Blogger:innen sprechen auf der Videochat-Website Chat­roulette mit Russ:innen über den Krieg und streamen das für ein großes Publikum. Ihre Gesprächspartner reagieren manchmal gleichgültig, manchmal feindselig.

Nicht nur auf Regierungsebene sind die Kontakte zwischen Russland und der Ukraine auf ein absolutes Minimum reduziert. Auch zwischen Verwandten und Freund:innen, die auf unterschiedlichen Seiten der Front leben, ist die Kommunikation oft ins Stocken geraten. Alte Freundschaften und Bekanntschaften zu pflegen, ist schwierig, über Grenzen hinweg neue zu knüpfen, scheint fast unmöglich. 

Obwohl beispielsweise im Ausland lebende Russ:innen und Ukrainer:in­nen vielerorts durchaus Umgang pflegen, sind vor allem Letztere oft zurückhaltend, wenn es darum geht, das öffentlich zuzugeben. Den Ton geben eher beispielsweise ukrainische Künstler oder Kulturinstitutionen an, die nach der russischen Vollinvasion zum Boykott russischer Künstler und Institutionen aufriefen.

Wo es keinen öffentlichen Austausch mehr gibt, ist der Videochat-Dienst Chat­roulette ein Weg, auf dem Ukrai­ne­r:innen und Russ:innen miteinander reden können. Das Konzept ist simpel: Nach dem Zufallsprinzip werden zwei Nutzer:innen zum Video­chat zusammengeführt, die jederzeit das Gespräch abbrechen können und dann beim nächsten Gesprächspartner landen.

Auf den Vorschlag von Stanislaw Tschumak, über den Krieg zu sprechen, antworten zwei Russen, sie redeten nicht gerne über dieses Thema, es betreffe sie gar nicht.

Etliche ukrainische Blogger:innen, mehrheitlich männlich, führen im russischsprachigen Segment von Chatroulette Videogespräche mit Menschen aus Russland, an denen sie per Videostream Tausende Zuschauer:innen teilhaben lassen. Den russischen Teil­nehmenden ist nicht immer von Anfang an bewusst, dass ein Publikum mithört und Clips des Gesprächs später im Internet landen können. Erfahren sie davon, scheint es sie nicht zu stören, auch wenn sie ein eklatantes Ausmaß an Unwissenheit über ihr west­liches Nachbarland demonstrieren, oftmals kombiniert mit unverhohlener Arroganz. 

Die Gespräche verlaufen meist unharmonisch. Im Chatroulette hat sich eine eigenartige Unkultur des verbalen Schlagabtauschs etabliert, bei dem sich das russische Gegenüber eine Blöße gibt und der ukrainische Part seine rhetorische Überlegenheit auskostet. Dabei beginnt der Dialog in der Regel mit der harmlosen Frage, welches Thema heute anstehe. Aber die Blogger:in­nen machen schnell klar, worum es ihnen eigentlich geht: Sie wollen über den Krieg sprechen, den Russland gegen die Ukraine führt.

Im ­Weiteren kommen unterschiedliche Taktiken zur Anwendung, um das Gegenüber aus dem Konzept zu bringen. Die Bloggerin mit dem Spitznamen »Saint Javelina« pflegt einen sanften Tonfall, während männlichen Blogger zur Provokation neigen. Unter ihnen gibt es einige, die abseits von Chatroulette oft zum Spaß eine falsche Identität annehmen oder andere Streiche (pranks) spielen, wie der unter dem Pseudonym Major Tschernobajew auftretende Jewgenij Wolnow. Mal gibt er vor, im Auftrag der ukrainischen Präsidialverwaltung aufzutreten, mal als Vertreter des Sicherheitsdiensts SBU. Auf Youtube hat er 359.000 Follower. 

Schwer, sich das Lachen zu verkneifen

Kvitan zählt mit 205.000 Followern ebenfalls zu den populären Bloggern. Anders als Wolnow, der seinen Kanal bereits seit 2016 betreibt, hat Kvitan erst nach Beginn der Vollinvasion angefangen. Im August 2024 gab er sich auf Chatroulette als gehbehinderter Bewohner des von ukrainischen Truppen besetzten Teils des Kursker Gebiets aus, der dort im Kriegsgebiet festsaß. Kriegsbegeisterte russische Z-Blogger versuchten, das auszuschlachten, weil sie sich damit brüsten konnten, einen Ukrainer der Lüge überführt zu haben. Aber all das änderte nichts daran, dass in dem Video Kvitans aus Russland zugeschalteter Gesprächspartner als der eigentliche Verlierer erschien, weil er verunsichert, hilflos und ungläubig auf dessen hysterischen Redeschwall reagierte.

Typisch ist auch ein fast eine Dreiviertelstunde andauernder Dialog, den Kvitan mit einem auf dem Sofa liegenden Mann Mitte Dreißig geführt hat. Nachdem dieser verstanden hat, dass er mit einem Blogger und noch dazu vor Publikum spricht, wiederholt er ein ums andere Mal genüsslich, dass in der Ukraine zwar Kriegsrecht gelte, aber die ukrainische Regierung Russland nicht einmal den Krieg erklärt habe, worin er einen wichtigen Widerspruch im ukrainischen Staats­wesen erkannt zu haben meint. Obwohl er sogar zugibt, dass in Russland ebenfalls nicht alles gesetzeskonform ablaufe, selbst die sogenannte Spezialoperation, interessieren ihn einzig die Widersprüche in der Ukraine. 

Gelegentlich ist es schwer, sich das Lachen zu verkneifen. Beispielsweise wenn ein Russe wissen will, wer auf dem bei Kvitan häufig im Hintergrund zu sehenden Foto abgebildet sei. Stalin, Lenin oder vielleicht Jurij Andropow, einer der letzten sowjetischen Staatsführer? Auf die Idee, dass es sich um Stepan Bandera handeln könnte, den Volkshelden nationalistisch gesinnter Ukrainer, kommt er erst gar nicht. Dabei werden für die Unabhängigkeit eintretende Ukrainer:innen im russischen Propagandajargon als banderowzy abgestempelt. Kvitan antwortet aus Jux, ja, das sei der junge Lenin.

Wirklich komische Situationen sind selten

Doch wirklich komische Situationen sind selten. Manche Russ:innen suchen gezielt den Kontakt zu Gesprächs­partner:in­nen aus der Ukraine, andere nutzen durchaus gerne die Gelegenheit zum Dialog. Die meisten haben sich aber einfach aus Langeweile eingeloggt, wie ein junger Typ Anfang zwanzig und sein Freund. Auf den Vorschlag von Stanislaw Tschumak, dessen Kanal 204.000 Follower hat, über den Krieg zu sprechen, antworten sie, sie redeten nicht gerne über dieses Thema. Auch untereinander nicht, will Tschumak wissen. Nein, warum auch, kommt als Antwort, das betreffe sie gar nicht. Überhaupt gehe es ihnen gut, ob es Tschumak auch gutgehe? 

Die Geduld des Bloggers wird manchmal dermaßen strapaziert, dass es kaum auszuhalten ist. Reißt ihm der Geduldsfaden, redet er seine Gesprächspartner, meist Männer, in Grund und Boden. In diesem Fall hält er sich erstaunlich zurück. Die beiden Russen wollten, wie sie sagten, schon immer einen »richtigen Ukrainer« fragen, was denn zwischen 2014 und 2022 passiert sei. Tschumaks Ausführungen zu folgen, fällt ihnen jedoch allein schon deshalb schwer, weil sie selbst in russischen Staatsmedien nicht geleugnete Fakten anzweifeln oder gar nicht ­kennen.

Als Disclaimer steht bei Tschumaks Youtube-Videos: »Achtung! Das Video enthält Aufnahmen mit lebenden Russen.« Manchmal bricht das Gespräch ab, kaum dass es angefangen hat. Es kommt schon mal vor, dass ein Russe gleich beim Auftakt ausfällig wird oder jemand wissen will, wann die Ukraine endlich kapituliere. Häufiger jedoch folgt auf Tschumaks Eingangsfrage, ob das Gegenüber den Angriff Russlands auf die Ukraine unterstütze, die Behauptung, Russland habe gar nicht angegriffen. Oder es handle sich keinesfalls um einen Krieg, dafür müssten schließlich weitaus mehr Soldaten beteiligt sein. 

Die Chatsitzung endet mit einem »Fuck you!«

Regelmäßig klinken sich Teenager zum Chatten ein. Eine Gruppe, die hinter sich eine Fahne der sogenannten Donezker Volksrepublik drapiert hat, will wissen, wie der Konflikt ende und wofür die Ukraine eigentlich kämpfe, wo dort schließlich Korruption an der Tagesordnung sei. Ihre Liste mit Kritikpunkten wird immer länger. Eine halbe Stunde lang versucht Tschumak, ihnen zu erklären, dass Russland das Recht des Stärkeren für sich beanspruche, die ukrainische ­Bevölkerung gerade wegen der Korruption im Staat es vorziehe, selbst aktiv zu werden, und Geld sammele für die Verteidigung, damit sich die russische Armee in Zukunft fernhalte.

Erst wenn außenpolitische Ziele erreicht seien, könnten sie die Lösung der inneren Probleme angehen. Doch der Blogger erntet nur Verständnislosigkeit. Ob sie in Russland alles tun könnten, was ihnen in den Sinn komme, fragt er. Nein, sagt einer der Teenager mit Sonnenbrille. Ein anderer droht mit physischer Gewalt. Der einzige, der sein Gesicht unverhüllt vor der Kamera zeigt, entschuldigt sich schließlich für das Verhalten seiner Freunde, trotzdem endet die Chatsitzung mit einem an den Ukrainer gerichteten lauten: »Fuck you!«

Um mehr über Sinn und Zweck ­dieser eigenartigen Form des virtuellen Aufeinandertreffens herauszu­finden, wäre es interessant, wenn einige Blogger Auskunft gäben. Entsprechende Anfragen der Jungle World blieben jedoch unbeantwortet. Es bliebe die wenig attraktive Option, sein Glück im Selbstversuch auf Chatroulette zu versuchen, auch wenn man dabei leicht vor einem großen Publikum landen kann.