Wider den Partikularismus
Gleich hinter der Grenze zum Libanon dreht der Taxifahrer die Anlage auf: »Du wirst fallen, du wirst fallen, Ya Bashar!« tönt es daraus. Es ist ein Spottlied auf den am 8. Dezember gestürzten Diktator Bashar al-Assad. »Willkommen im freien Syrien«, sagt der Fahrer.
Tatsächlich fühlt sich Syrien frei an. Überall hängt die Revolutionsfahne mit den drei roten Sternen zwischen dem grünen und dem schwarzen Balken. Die meterhohen Porträts von Bashar al-Assad an Gebäuden sind zerrissen oder weggekokelt. Überschwänglich erzählen einem Menschen von den drei, vier Tagen der Revolution, die eigentlich ein Coup war: Der Sturz Assads gelang nach 14 Jahren Protesten und Krieg durch einen Überraschungsangriff von Milizen aus der nördlichen Stadt Idlib. Fast ohne Blutvergießen nahmen sie mehrere Städte ein. In der Hauptstadt Damaskus zogen die Soldaten des Regimes ihre Uniformen aus und gingen nach Hause, nachdem sie durch Lautsprecheransagen dazu aufgefordert worden waren.
Von ehemaligen Jihadisten regiert
Doch viele, die seit 2011 für Demokratie gekämpft haben, sind skeptisch, ob es in Syrien die Freiheit geben wird, die sie meinten. Denn seit dem Coup wird Syrien von ehemaligen Jihadisten regiert, den Männern der Miliz Hay’at Tahrir al-Sham (HTS). Der jetzige Übergangspräsident Ahmed Hussein al-Sharaa war ihr Anführer. Er hat sich vor ein paar Jahren den zotteligen Jihadistenbart gestutzt und gibt sich geläutert.
Bisher lassen seine Äußerungen kein islamistisches Programm erkennen. Er betont die Beteiligung aller Gruppen und Minderheiten am Aufbau des neuen Syrien. In seiner Antrittsrede als Übergangspräsident am 29. Januar versprach er die baldige Einberufung einer Konferenz des nationalen Dialogs und die Schaffung von Institutionen, die freie und faire Wahlen ermöglichen sollen. Er verzichtet auf islamistisches Vokabular.
»Jeden Tag mussten wir vier Gefangene benennen, die gefoltert werden sollten.« Abdullatif Khutabi, ehemaliger Insasse des Foltergefängnisses Sednaya
Doch nicht nur dem Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh fällt auf, dass Sharaa nie von Demokratie spricht. »Er ist vorsichtig. Er spricht nur von Wahlen, nicht darüber, welches System es geben könnte«, hat der einstige Revolutionär Mohammed beobachtet, den die Jungle World in einem Café nahe der Umayyaden-Moschee trifft. Sharaa wolle seine Gefolgsleute nicht verprellen.
»Es gibt Hardcore-Jihadisten, die enttäuscht sein werden, wenn es keine strengen Regeln gibt, wenn Alkohol erlaubt ist und die Menschen auf der Straße tanzen.« Zugleich spüre er, dass in der Gesellschaft eine Art Reifung stattgefunden habe. »Früher wäre es nicht so einfach gewesen, dass Menschen verschiedener politischer Ansicht zusammenarbeiten.«
In der Tat integriert die HTS-Interimsregierung sowohl demokratische Oppositionelle als auch ehemalige Anhänger der früheren Staatspartei. In einem ersten Schritt wurden zwar die Führer des Ba’ath-Regimes abgesetzt, nicht aber das Personal aus der zweiten Riege. Bilal, der in der Vergangenheit für Demokratie in Syrien kämpfte und heutzutage Leiter eines privaten Energieversorgers ist, erläutert, wie das funktioniert: »Im Energieministerium haben sie nur den Minister und den Staatssekretär ausgetauscht. Den alten Minister haben sie zum Assistenten des neuen Ministers gemacht.«
Doch obwohl das alte Personal großteils bleibt, ist der Neuanfang in den Verwaltungsgebäuden greifbar. Die Angestellten lächeln, im Flur debattieren Bürger laut über ihre Rechte, es riecht nach Farbe, die Wände sind frisch gestrichen. In der kleinen Stadt Yabroud am Fuße des Antilibanon-Gebirges führt einer der neu ernannten Stadtdezernenten in sein Büro. Zum neuen, ins Graue tendierenden Weiß der Wände hängen passende Vorhänge in Anthrazit vor den Fenstern. Die Wanduhr hat die Form einer Gitarre. Nichts erinnert mehr an die vergilbten, in Brauntönen möblierten Amtstuben der Diktatur.
Schießbefehl verweigert
Am Rand des großen Schreibtischs des Dezernenten sitzt ein junger bärtiger Mann und tippt auf einem Laptop, ohne von den Gästen Notiz zu nehmen. Er ist einer der vielen ehemaligen HTS-Milizionäre, die in die Verwaltung integriert wurden. Der Dezernent selbst wurde ebenfalls von der HTS ernannt. Ihr politisches Programm teilt er nicht. Abdullatif Khutabi war bis 2011 Offizier der Armee. Als der Schießbefehl gegen friedliche Demonstranten kam, weigerte er sich. Dafür saß er vier Jahre im berüchtigten Foltergefängnis des Regimes ein. Aus Sednaya, hieß es, komme man nicht lebend heraus.
Jeweils 25 Gefangene mussten sich dort einen fensterlosen rund 30 Quadratmeter großen Raum teilen. »Einmal am Tag brachte uns die Wache drei Eier, zwei Kartoffeln, zehn Oliven und ein altes Brot – für 25 Personen«, erzählt Khutabi. »Jeden Tag mussten wir vier Gefangene benennen, die gefoltert werden sollten. Morgens kam jemand und fragte: Wie viele sind über Nacht gestorben? Jeden Tag trugen sie viele Säcke mit Toten hinaus.«
Khutabi überlebte, weil seine Familie wohlhabend ist. Seinem Vater gelang es, ihn nach vier Jahren freizukaufen – für 100.000 Dollar. Der ehemalige Offizier floh in die Provinz Idlib, die von der damals noch jihadistischen, zeitweise mit al-Qaida alliierten HTS-Miliz kontrolliert wurde. »Die HTS-Leute trauen mir, weil sie mich kennen«, erläutert Khutabi, warum er nun in Yabroud ein hohes Amt bekam. Außerdem stammt er aus der Stadt.
Eine Frau als Gouverneurin?
Die neuen Machthaber versuchen, soweit möglich, keine Ortsfremden auf hohe Posten der lokalen Verwaltungen zu setzen. Das gelingt nicht immer. Für die Provinz al-Suwayda, Hochburg der Drusen, bestimmten sie einen Gouverneur aus Idlib, einen Sunniten. Das stieß bei der drusischen Bevölkerung auf Widerstand. Ein Komitee votierte für eine andere Gouverneurin: die ehemalige Leiterin der Finanzinspektionsbehörde der Provinz, Muhsina Mahithaui. Sie hatte 2023 aus Protest gegen die vom Regime begünstigte Korruption ihren Dienst quittiert und sich den Demonstrationen gegen das Regime angeschlossen. Den Drusen gelang es damals, Assads Truppen weitestgehend aus der Provinz zu verdrängen.
Doch bisher hat die HTS Mahithaui nach Angaben der Nachrichtenagentur Sana zwar ernannt, aber nicht als Gouverneurin bestätigt. Über den Grund wird nur spekuliert. Eine Frau gab es in Syrien noch nie auf dieser Position. Das Assad-Regime setzte Frauen genau wie jetzt die HTS als Behördenleiterinnen, seltener als Ministerinnen ein, aber nie als Hauptverantwortliche für eine ganze Provinz.
Gut möglich, dass Sharaa abwartet, wie seine islamistischen Gefolgsleute die Ernennung von Frauen in andere hohe Regierungsämter aufnehmen. Im Dezember wurde die Menschenrechtsaktivistin Aisha al-Dibs als Leiterin der neugeschaffenen Behörde für Frauenangelegenheiten ernannt. Auch die Zentralbank wird nun von einer Frau geleitet – erstmals in der Geschichte Syriens. Die Ernennung einer Kulturministerin im Januar musste hingegen nach Protesten zurückgenommen werden. Sie sei zu sehr in das alte Regime verstrickt gewesen, hieß es.
Gruppenrechte statt Bürgerrechte
In al-Suwayda ist das weitere Vorgehen umstritten. Das geistliche Oberhaupt der Drusen, Hikmat al-Hajri, fordert die Bestätigung Mahithauis. Doch viele, die sich noch immer täglich auf dem zentralen Platz der Stadt treffen, befürchten, dass sie so in ein System geraten könnten, das die Minderheiten zwar toleriert, aber gegeneinander ausspielt. »Wir unterstützen Muhsina voll und ganz, sie ist eine von uns. Aber wir wollen Teil Syriens sein und keine Sonderrechte als Minderheit«, erläutert eine Frau auf dem Platz der Jungle World. »Wenn die allgemeine Regel ist, dass die neue Regierung ihre Leute in die Provinzen schickt, dann sollen sie das auch hier machen und uns nicht anders behandeln, weil wir Drusen sind.«
Auch in Damaskus fürchten liberale und linke Demokraten, dass die neuen Machthaber mehr auf Gruppenrechte denn auf Bürgerrechte zielen könnten. Das hat in der Region Tradition. Schon im Osmanischen Reich hatten Christen, Juden und Drusen ihre eigene Gerichtsbarkeit.
Mit islamistischen Vorstellungen ließe sich ein System vereinbaren, in dem gewählte Minderheitenvertreter ihre Anliegen in einer Nationalversammlung vertreten. Auch der frühere Aktivist Mohammed ist besorgt: »Sharaa trifft sich nur mit den Vertretern der religiösen und ethnischen Gruppen der Christen, Alawiten, Drusen und Kurden – nie mit Vertretern politischer Gruppen.« Er findet, dass zu wenig darüber gesprochen werde, welches politische System es geben solle. »Die wirtschaftliche Situation dominiert alles.«
90 Prozent der Menschen in Syrien leben in Armut. Der Staat liefert nur ein bis drei Stunden Strom am Tag. Benzin ist rationiert. Wohnungsmangel und Inflation machen das Leben nahezu unbezahlbar.
Die ist verheerend. Ganze Stadtviertel und rund ein Drittel der Hauptstadt Damaskus hat das alte Regime in Schutt und Asche gebombt, um die Aufstände niederzuschlagen. Die Hälfte der Bevölkerung des Landes musste fliehen. 90 Prozent der Menschen in Syrien leben in Armut. Der Staat liefert nur ein bis drei Stunden Strom am Tag. Benzin ist rationiert, wer zusätzliches braucht, kauft am Straßenrand teure, im Libanon abgefüllte Kanister mit Treibstoff. Wohnungsmangel und Inflation machen das Leben nahezu unbezahlbar.
Die neuen Machthaber haben vor diesem Hintergrund als eine der ersten Amtshandlungen die Gehälter der Staatsbeamten vervierfacht. Zuvor verdiente ein Beamter umgerechnet rund 30 Euro im Monat, eine angestellte Lehrerin kaum 15 Euro. »Aber eine Wohnung für eine Familie kostet 200 Euro, ein Kilo Fleisch zehn Euro«, rechnet die Detmolder Sozialpädagogin Mais al-Jenniat vor, die gerade ihre Eltern in Damaskus besucht. Viele Menschen überleben nur, weil Verwandte im Ausland ihnen Geld schicken.
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