Jahre in Aspik
Ein Mann – Trenchcoat, Zigarette, schönes Gesicht – kommt unter neuem Namen nach München. Er steigt in einem unscheinbaren Hotel ab, klärt die Lage, nimmt Kontakt mit jemandem auf, in seinem Koffer liegen zwei Millionen D-Mark von einem Bankraub und die Knarre. Spätestens wenn er beiläufig seine ehemalige Frau wiedertrifft, beginnt der geradlinig begonnene Genrefilm zu schlendern.
Für die unaufgeregte Wiederaufnahme der Beziehung und für Nebenfiguren wie den Nachhilfelehrer Schmalohr oder den Fische züchtenden Untermieter Schrott interessiert sich »Fremde Stadt« (BRD 1972) bald mehr als für die Jagd nach dem Koffer, an der sich ein Gaunerpaar, ein korrupter Beamter und der im Fall ermittelnde Kommissar beteiligen.
Rudolf Thome drehte den Film mit Roger Fritz und Karin Thome in den Hauptrollen nach dem Vorbild US-amerikanischer B-Movies mit wenig Geld und in Schwarzweiß. Alles daran ist selbstverständlich, gelassen und freundlich, ob Geiselnahme, Kindesentführung oder das gemeinsame Frühstück mit der alten wie neuen Kleinfamilie. »Fremde Stadt« endet mit einer schönen Utopie: »Warum teilen wir nicht?« – »Ja, warum nicht?« Es spricht ja auch wirklich nichts dagegen. Also wird geteilt, alle sind zufrieden.
»Fremde Stadt« endet mit einer schönen Utopie: »Warum teilen wir nicht?« – »Ja, warum nicht?« Es spricht ja auch wirklich nichts dagegen. Also wird geteilt, alle sind zufrieden.
Im selben Jahr, wieder ein Banküberfall, wieder in München, entwirft Rolf Olsen mit der Härte und Drastik des italienischen Genrekinos ein ganz anderes Szenario. Die entspannte Körperlichkeit, die bei Thome so bezaubert, weicht in »Blutiger Freitag« (BRD 1972) brutaler Aggression und maskuliner Überreiztheit.
Exploitation und Gesellschaftskritik sind dabei eng miteinander verknüpft. Inmitten von Blut, halbzermatschten Körpern und Hysterie zeichnet Olsen ein düsteres Stimmungsbild der westdeutschen siebziger Jahre, eine Zeit, in der sich gegen die Kontinuitäten der Nazi-Zeit und die Enge kleinbürgerlicher Lebensentwürfe auf verschiedenste Weise gewaltsamer Widerstand regte. Im Hintergrund wirken Gegenwartsbezüge wie der Banküberfall mit Geiselnahme in der Münchner Prinzregentenstraße 1971 und die Verbrechen der RAF.
Unter dem Titel »Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der Siebziger« richtet die Retrospektive der 75. Berlinale den Blick auf die bisher eher vernachlässigten Bereiche im west- und ostdeutschen Kino. Bedingt durch ständige Budgetkürzungen ist die Retrospektive – in diesem Jahr zum letzten Mal von Rainer Rother, dem scheidenden Leiter der Deutschen Kinemathek, kuratiert – auf lediglich 15 Filme geschrumpft. Zum Vergleich: Die Reihe zu King Vidor vor zehn Jahren umfasste noch 35 Filme, die Retrospektive »Das andere Kino – Aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek« im vergangenen Jahr immerhin immerhin 23.
Überraschungen sollte man nicht erwarten
Überraschungen sollte man in dem übersichtlichen Programm in diesem Jahr nicht erwarten. Zu sehen sind Klassiker des deutschen Genrekinos im Fach Western, Gangster-, Serienmörder-, Vampir- und Rockerfilm, darunter Ulli Lommels »Die Zärtlichkeit der Wölfe« (BRD 1973) über den Jungenmörder Fritz Haarmann und Klaus Lemkes Kultfilm »Rocker« (BRD 1972). Das ostdeutsche Kino ist ausschließlich mit Komödien und Musikfilmen wie Schlagerfilm und Operettenverfilmung vertreten und nicht etwa mit Science-Fiction, Krimi oder seiner spezifischen Variante des »Indianerfilms«.
Der der Retrospektive zugrunde liegende Genrebegriff ist vage und auch ein wenig verwirrend. Die Idee des Populären, die den Regisseur Roland Klick oder auch die Vertreter der Neuen Münchner Gruppe um Rudolf Thome, Klaus Lemke und Max Zihlmann antrieb, kannte das ostdeutsche Kino so nicht. Unter dem Monopol der Defa gab es die Notwendigkeit günstiger und unabhängiger Filmproduktionen, die sich noch dazu an der Kasse behaupten, schlichtweg nicht.
Neben Horst Bonnets Operettenverfilmung »Orpheus in der Unterwelt« (DDR 1974) steht »Hut ab, wenn du küsst!« (DDR 1971) von Rolf Losansky auf dem Programm, eine musikalische Liebeskomödie vor der Kulisse der Leipziger Messe, für »Nicht schummeln, Liebling« (DDR 1973) von Joachim Hasler mit den Schlagerstars Chris Doerk und Frank Schöbel braucht man schon filmhistorisches Spezialinteresse.
Der Zensur zum Opfer gefallen
Mit »Nelken in Aspik« (DDR 1976) von Günter Reisch ist auch eine schnelle, wuselige und subversive Komödie mit pythoneskem Humor dabei, die nach nur einer Aufführung der Zensur zum Opfer fiel. Armin Mueller-Stahl spielt einen verquatschten Werbezeichner, der wegen des Verlusts zweier Schneidezähne seinen Mund nicht mehr aufkriegt. Sein beharrliches Schweigen führt zu einem ungewollten beruflichen Aufstieg im Werbekombinat.
Dass im Westen neben dem Neuen Deutschen Film auch ein »anderes«, publikumsaffines Kino existierte, ist bekannt. Nicht zuletzt rückte »Verfluchte Liebe deutscher Film« (D 2016), Dominik Grafs und Johannes F. Sieverts essayistische Spurensuche in die unentdeckte deutsche Filmgeschichte (gezeigt im Forum der Berlinale), den Genrebegriff wieder verstärkt ins Bewusstsein. Nach dem Vorbild des klassischen Hollywood-Kinos (Noirs) und seiner Adaptionen im französischen Autorenfilm (Nouvelle Vague) und italienischem Genrekino (Italowestern, Giallo) entstanden Filme, die der »Absenz des Körperlichen« (Roland Klick) ein Kino der Körper und der Alltagssprache entgegensetzten.
»Rocker«, Klaus Lemkes Antwort auf den amerikanischen Biker-Film, lebt ganz von der Präsenz seiner Laiendarsteller aus dem Hamburger Rockermilieu und ihrem spezifisch subkulturellen Dialekt (»Mach dich grade«). Roland Klick wiederum drehte mit »Deadlock« (BRD 1970, wieder ein Bankraub) in der mexikanischen Sierra einen psychedelischen Neo-Western, unterlegt mit der Musik der Krautrockband Can. Zu den zahlreichen Bewunderern des Films zählt auch Quentin Tarantino.
Das Spannungsverhältnis zwischen angestauter Gewalttätigkeit und unkontrolliertem Exzess ist vielleicht in keinem deutschen Film so intensiv zu erfahren wie in »Mädchen mit Gewalt« (BRD 1970) von Roger Fritz. Als Fotograf für unter anderem Bunte und Stern und Schauspieler mit Nähe zum Jetset hatte der Regisseur bei der Filmkritik von vornherein einen schweren Stand. Sie lehnte den Film mehrheitlich ab und schob ihn als zynischen Reißer in die Schmuddelecke ab. Dabei ist das düstere Kammerspiel viel zu verstörend für den leichten Konsum und das Bild, das von Männern gezeichnet wird, zu hässlich und kaputt. Sam Peckinpah ließ sich davon für seinen Psychothriller »Straw Dogs« (1971) inspirieren.
Erstaunlich ist, wie deutlich die gesellschaftliche Entfesselung im damaligen Aktualitätenkino immer wieder aufscheint.
Klaus Löwitsch und Arthur Brauss spielen in Fritz’ Film zwei unterschwellig rivalisierende Arbeitskollegen, die in ihrer Freizeit gemeinsam auf Jagd nach sogenannten sexuellen Abenteuern gehen. Bei einem ihrer Streifzüge schaukelt sich die aggressive, übergriffige Stimmung immer höher. Mit Anbruch der Nacht locken sie eine junge Frau (Helga Anders) unter einem Vorwand in eine Kiesgrube, wo es zur Vergewaltigung und anderen Gewaltakten, auch unter den beiden Männern, kommt.
Der Film gewährt dem Publikum dabei keine Entlastung – etwa in Form eines Rape-and-Revenge-Plots, wie es im Exploitation-Kino der siebziger Jahre populär war. Am Ende kommen die beiden Täter mit einer Geldstrafe in Höhe von fünf D-Mark davon. Bei aller genrespezifischen Verdichtung zeichnet »Mädchen mit Gewalt« ein erschreckend prägnantes Bild der Wirklichkeit. Überhaupt ist erstaunlich, wie deutlich die gesellschaftliche Entfesselung im damaligen Aktualitätenkino immer wieder aufscheint.
»Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der Siebziger«. Retrospektive bei der Berlinale 2025