Kleines Land, was nun?
Nachdem der Bundesobmann der in Teilen rechtsextremen FPÖ, Herbert Kickl, am 12. Februar das Scheitern der Verhandlungen mit der konservativen ÖVP bekannt gegeben hatte, lud Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen die Obleute aller Parlamentsparteien zu sich in die Hofburg und drängte zur Eile: »Allen ist klar, dass nun rasch und verantwortungsbewusst gehandelt werden muss.«
Es ist bereits der zweite gescheiterte Anlauf zur Regierungsbildung seit der österreichischen Nationalratswahl am 30. September 2024. Einen Monat zuvor waren die Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP, den Sozialdemokraten (SPÖ) und den liberalen Neos abgebrochen worden.
Die FPÖ wollte eine starke Einschränkung des Versammlungsrechts, den Ausstieg aus der Partnerschaft mit der Nato und die Abschaffung der Asylantragstellung auf »europäischem Boden«.
Van der Bellen, ein habilitierter Finanzwissenschaftler, der bis 2016 den Grünen angehörte, weiß um den Ernst der Lage. Die Vorgängerregierung hinterließ dem Staat nach Angaben des Bundesministeriums für Finanzen ein Haushaltsdefizit in Höhe von 19,1 Milliarden Euro. Das EU-konforme Neuverschuldungsziel von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts scheint kaum noch erreichbar, die Wirtschaft steckt in der längsten Rezession seit Jahrzehnten, die Arbeitslosigkeit steigt, die Konsumausgaben sinken. Nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen droht nun ein neuerliches Defizitverfahren der EU (wie bereits von 2009 bis 2014) und vor allem werden die internationalen Finanzmärkte langsam aktiv. Am 14. Februar senkte die US-amerikanische Rating-Agentur Standard & Poor’s den Ausblick für Österreich von »positiv« auf »stabil«.
Beinahe alle Medien berichten, es gebe nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP nun vier Möglichkeiten, wie es politisch weitergehen könne: eine ÖVP-SPÖ-Koalition (eventuell mit den Grünen oder den Neos, die zuletzt für einen zweiten Anlauf einer Dreierkoalition geworben hatten), Neuwahlen, eine Expertenregierung oder eine Minderheitsregierung (bestehend zum Beispiel aus ÖVP und Neos). Es gibt allerdings noch eine fünfte Möglichkeit: Doch noch eine FPÖ-ÖVP-Regierung.
Wer das für undenkbar hält, dem ist wohl entgangen, wie die neue US-Regierung derzeit keine Gelegenheit auslässt, zur Normalisierung rechtsextremer Parteien und Politik in Europa beizutragen. Auch ist es nicht unwahrscheinlich, dass Vertreter der österreichischen Industrie versuchen werden, auf die ÖVP einzuwirken, es doch noch mit der FPÖ zu versuchen.
Sympathien der ÖVP-nahen Industriellenvereinigung für die FPÖ
Der Präsident der ÖVP-nahen Industriellenvereinigung, Georg Knill, hatte schon vor der Nationalratswahl deutlich gemacht, wo seine Sympathien liegen, als er feststellte: »Beim Wirtschaftsprogramm der FPÖ sehen wir eine sehr große Deckungsgleichheit mit jenem der ÖVP.« Bei den Koalitionsgesprächen zwischen ÖVP, SPÖ und den Neos waren es denn auch maßgeblich die Vertreter des Industrie- und Wirtschaftsflügels der ÖVP, die die Verhandlungen hintertrieben.
Nachdem die unter dem geschäftsführenden ÖVP-Vorsitzenden Christian Stocker erfolgten Regierungsverhandlungen mit der FPÖ ebenfalls gescheitert waren, holte Knill in der Tageszeitung Kurier abermals zur Kritik aus. Er sei nicht nur enttäuscht, sondern »entsetzt«, dass es »wegen Ressortverteilungen und ideologischen Hürden« zu keiner FPÖ-ÖVP-Regierung gekommen sei. Knills »Entsetzen« hängt wohl auch mit dessen politischen Abneigung gegen den SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler zusammen. Der ist für Knill eine Art feuerrotes Tuch, ein weltfremder Marxist, dessen politische Forderungen »eine Katastrophe« seien.
Dabei mag wohl der Interessenstandpunkt Knills, der ein Sprössling des alten Industrieadels ist, die Sicht auf die Realität etwas verstellt haben. Denn die wirtschaftspolitischen Forderungen der Babler-SPÖ waren alles andere als radikal.
Die Forderung der Einführung einer Erbschaftssteuer ab einem Vermögen von einer Million Euro dürfte Knill, der zusammen mit seinem Bruder die Knill-Gruppe mit einem Jahresumsatz von einer halben Milliarde Euro als Familienbetrieb führt, aber direkt betreffen.
FPÖ-nahe Kanäle raunen vom »tiefen Staat« und den »Globalisten«
In der FPÖ, die bereits einen »Volkskanzler Kickl« (FPÖ-Diktion) in Reichweite gesehen hatte, herrscht seit dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP aggressive Katerstimmung. Während auf den der FPÖ nahestehenden Kanälen in den sozialen Medien vom »System«, dem »tiefen Staat« und den »Globalisten« geraunt wird, die halt nicht wollten, dass »das Volk« an die Macht kommt, prescht die FPÖ mit der Forderung nach zügigen Neuwahlen vor. Keinesfalls, so FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker, dürfe nun ein »chaotisches Verliererbündnis« die Regierungsverantwortung übernehmen.
Die ÖVP wiederum hatte feststellen müssen, dass die FPÖ als Seniorpartnerin keine angenehmere Koalitionspartnerin gewesen wäre als die den Konservativen verhasste SPÖ. Wie den durchgestochenen Protokollen der Verhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP zu entnehmen ist, stellte die FPÖ, die bei den Nationalratswahlen im Herbst 2024 gerade mal um zweieinhalb Prozentpunkte stärker war als die ÖVP, Forderungen, die selbst den seit 2017 unter Sebastian Kurz scharf nach rechts abgebogenen Konservativen zu weit gingen.
Die FPÖ wollte eine weitgehende Einschränkung des Versammlungsrechts, einen Förderungsstopp für NGOs die sich für Umwelt- und Klimaschutz einsetzen, eine »Evaluierung« der Sanktionen gegen Russland, den Ausstieg aus Partnerschaft mit der Nato, die Abschaffung der Asylantragstellung auf »europäischem Boden«, die Wiedereinführung der Möglichkeit permanenter innereuropäischer Grenzkontrollen und weitere Absurditäten wie die Entfernung der EU-Flagge von öffentlichen Gebäuden.
Allen Unsicherheiten zum Trotz sieht es derzeit danach aus, als könnten sich ÖVP und SPÖ zusammenraufen.
Das alles wurde vor allem dem an der EU orientierten Flügel der ÖVP immer peinlicher, und letztlich sprach sich sogar die Wirtschaftskammer gegen eine Koalition mit der FPÖ aus. Im Gegensatz zur Industriellenvereinigung vertritt diese vor allem kleinere und mittlere Unternehmen, für die eine Schließung der EU-Binnengrenzen oder gar ein Austritt aus der EU wesentlich schlimmere Folgen hätte als für große Industriebetriebe, die den zusätzlichen Bürokratieaufwand leichter stemmen könnten und die außerdem weltweit exportieren statt nur in die unmittelbare Nachbarschaft. Dass die FPÖ auch ein Ende der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern forderte (die Kammern sind in Österreich gesetzliche Interessenvertretungen, denen die Berufsausübenden automatisch angehören), was die Finanzierung der Wirtschaftskammer direkt gefährdet hätte, spielte bei deren Richtungswechsel wohl auch eine Rolle.
Allen Unsicherheiten zum Trotz sieht es derzeit danach aus, als könnten sich ÖVP und SPÖ zusammenraufen. Von Verhandlungen möchte zwar niemand reden, aber »es laufen Gespräche darüber, ob eine Zusammenarbeit und der Abschluss für ein Regierungsübereinkommen möglich sind oder nicht« heißt es bei der ÖVP. Neuwahlen würden, zumindest aktuellen Umfragen zufolge, die Ausgangslage nicht entscheidend ändern. Voraussichtlich würde die FPÖ weiter zulegen und womöglich sogar eine Sperrminorität gegen Verfassungsänderungen im Parlament erreichen. Aber sie und die anderen Parteien stünden vor denselben Schwierigkeiten wie schon jetzt, eine Regierungsmehrheit zu finden.