Jungle+ Artikel 06.03.2025
Maria Anna Willer, Kulturwissenschaftlerin, im Gespräch über ihre Studie »Nationalsozialismus auf dem Dorf«

»In jeden Verfolgungsfall waren viele Menschen involviert«

Die Kulturwissenschaftlerin Maria Anna Willer untersucht in ihre Dissertation »Nationalsozialismus auf dem Dorf« Strukturen der Kontrolle und Verfolgung im regionalen Raum. Nach 1945 ist eine Kontinuität der Ausgrenzung insbesondere dort erkennbar, wo die Erinnerung an Opfer der NS-Verfolgung verdrängt wird.

Ihre Studie »Nationalsozialismus auf dem Dorf« erforscht ein Gebiet, das in der Geschichtswissenschaft bislang kaum eine Rolle spielte. Warum vernachlässigt die Forschung zum NS den ländlichen Raum?
Zur NS-Zeit lebten rund 70 Prozent der Deutschen auf dem Land. Trotzdem erfährt das Thema wenig bis keine Aufmerksamkeit. Regionalgeschichte ist in der BRD nicht an der Universität angesiedelt. Universitäten überlassen die Beschäftigung den Landesvereinen für Heimatpflege und Laienhistorikern in lokalen Geschichtsvereinen. Wissenschaft sucht wie die Medien das Spektakuläre, was nicht unbedingt auf dem Dorf vermutet wird.

»In der Dorfgemeinde gab es keine Scheu, politische Gegner oder sogenannte Arbeitsscheue zu denunzieren, die schließlich im Arbeits- oder Konzentrationslager gelandet sind. Der Denunziation sind Tür und Tor geöffnet, weil man fast alles über den anderen weiß.«

Als die Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft gegründet wurde, war plötzlich das Thema Zwangsarbeit präsent. In meiner Magisterarbeit hatte ich mich bereits mit der Landwirtschaftsgeschichte befasst und anschließend gefragt, welche Rolle die Zwangsarbeit dort spielte. Ich habe Interviews mit Bäuerinnen und Landwirten aus Aschau im Chiemgau geführt und dabei von den Schick­salen von Zwangsarbeitern erfahren, die kurz vor Kriegsende auf der Flucht getötet wurden. In dem Dorf war das völlig unbekannt. Nichts er­innerte an deren Schicksal, niemand konnte oder wollte sich erinnern. Das hat mich neugierig gemacht, weiter zu forschen. Ich habe dann entdeckt, dass es eine Art Geheimarchiv gab, das aber völlig unbearbeitet war. Um dieses Archiv auszuwerten, habe ich mich für die Doktorarbeit angemeldet. Der damalige Bürgermeister hat mir die Genehmigung erteilt, was nicht selbstverständlich ist.

Noch kein Abonnement?

Um diesen Inhalt zu lesen, wird ein Online-Abo benötigt::