06.03.2025
Die Gefahr, Opfer sexualisierter ­Gewalt zu werden, ist für obdach- und wohnungslose Frauen hoch

Gefährliche Abhängigkeit

Ob auf der Straße, in Notunterkünften oder bei Gelegenheits­schlaf­plätzen: Das Risiko, dass obdach- und wohnungslose Frauen Opfer sexualisierter Gewalt werden, ist hoch.

Der Duft in den Gängen kündigt bereits das Abendessen an. »Wir kochen immer frisch«, betont Teamleiterin Natalie Kulik, während sie durch die Räume von »Evas Obdach« führt. »Viele der Frauen«, sagt sie der Jungle World, »haben gesundheitliche Probleme«, weswegen gesunde Ernährung besonders wichtig sei. Evas Obdach ist eine von vier Notunterkünften in Berlin, die ausschließlich Frauen aufnehmen.

Seit 2016 gibt es die Einrichtung. Anfangs bot Evas Obdach im Bernhard-Lichtenberg-Haus im Bezirk Mitte zehn Frauen einen sicheren Schlafplatz, warmes Essen, eine Dusche und bei Bedarf Sozialberatung. Zwei Jahre später erfolgte der Umzug nach Neukölln; zwei Wohnungen und eine ehemalige Arztpraxis wurden dort in der Fuldaer Straße zusammengelegt, so dass nun 30 Frauen einen Platz finden. Ab 19 Uhr stehen ihnen die Türen offen, am nächsten Tag müssen die Frauen die Unterkunft um 9 Uhr wieder verlassen.

Weil der Eigentümer den Mietvertrag nicht verlängern will, muss die Einrichtung bis Mai neue Räumlichkeiten finden; also genau dann, wenn die Kältehilfeeinrichtungen schließen und bei Evas Obdach die Nachfrage wächst. Bereits jetzt kann nicht jeder Frau, die einen Schlafplatz sucht, auch einer angeboten werden. »Wir versuchen dann, einen Platz für die Frauen zu finden. Aber es wird zunehmend schwieriger«, sagt Kulik. Die Zahl derer, die auf Notunterkünfte angewiesen sind, sei deutlich gestiegen und die vorhandenen Unterkünfte können den Bedarf nicht decken.

»Wenn Frauenhäuser keine Kapazitäten mehr haben, werden wir oft kontaktiert.« Natalie Kulik, Teamleiterin von »Evas Obdach«, einer Notunterkunft für wohnungslose Frauen

Wie wichtig solche Räume speziell für Frauen sind, weiß Johanna aus eigener Erfahrung. Sie heißt eigentlich anders, möchte aber ihren Namen nicht gedruckt sehen. Mehrfach sei sie bereits obdach- oder wohnungslos gewesen, sagt sie der Jungle World. Sie ist in der Wohnungslosenstiftung, der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen, organisiert.

Während ihrer Zeit ohne eigene Wohnung sei sie auch in gemischtgeschlechtlichen Notunterkünften untergekommen. Unbehagen habe ihr dort vor allem bereitet, dass die Räume oft nicht abschließbar gewesen seien, nicht einmal die Duschräume. Wie ihr geht es auch anderen Frauen. Räume müssen mit Männern geteilt werden, oft gibt es keine separaten Schutzräume und es fehlt an Gewaltschutzkonzepten; die sind nämlich nicht verpflichtend für Notunterkünfte. Frauen, die schlechte Erfahrungen ­gemacht haben, kehren häufig auf die Straße zurück.

»Frauen versuchen ganz häufig, Notunterkünfte mit allen Mitteln zu vermeiden, da sie Angst vor gewalttätigen Übergriffen haben«, sagt Anna Maretzki von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe der Jungle World. »Im Leben von wohnungslosen Frauen spielt Gewalt eine Riesenrolle.« Oft haben die Frauen bereits in ihrer Kindheit und später dann in ihrer Partnerschaft Gewalt erfahren, sind davon traumatisiert und wollen deswegen nicht in Notunterkünfte mit Männern. Allerdings gibt es zu wenige Angebote, die dem Unterstützungsbedarf dieser Frauen gerecht werden. »Deswegen fordern wir ja frauenspezifische Einrichtungen«, so Maretzki. Sie meint damit unter anderem Tagesaufenthalte, Beratungsstellen und Duschmobile für Frauen.

Gewalt und Armut

Gewalt und Armut sind die häufigsten Auslöser weiblicher Wohnungslosigkeit. Im Schnitt erlebt jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal im Leben häusliche Gewalt. Will sich eine Frau aus ihrer gewalttätigen Partnerschaft lösen, findet sie häufig keinen bezahlbaren Wohnraum. Oft sind die Frauen finanziell von ihren Partnern abhängig. Eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbunds kam Mitte Februar zu dem Ergebnis, dass bei jeder zweiten berufstätigen Frau das Einkommen nicht hoch genug für eine eigenständige Existenzsicherung ist. Gründe dafür sind unter anderem, dass Frauen länger und häufiger als Männer ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, öfter in Teilzeit arbeiten und ihre Stundenlöhne im Durchschnitt um rund ein Fünftel niedriger sind; in Zeiten ohne ­eigenes Einkommen sind sie somit finanziell zu schlecht oder gar nicht ­abgesichert.

Wohin aber, wenn sich in der Not so schnell kein bezahlbarer Wohnraum auftreiben lässt? Die für solche Fälle vorgesehenen Frauenhäuser sind konstant überbelegt. »Wenn Frauenhäuser keine Kapazitäten mehr haben, werden oft wir kontaktiert«, berichtet Kulik. Zwar gibt es bei Evas Obdach für solche Fälle ein Akutzimmer. Das Problem aber ist: »Diese Adresse hier ist nicht geschützt. Die ist relativ schnell herauszufinden.«

Frauen, die befürchten müssen, verfolgt zu werden, könnte Evas Obdach also nur für einen ganz kurzen Zeitraum aufnehmen. »Wir fragen sehr genau die Gefährdungssituation der jeweiligen Frau ab, um einschätzen zu können, ob es eine Gefährdung für die anderen Besucherinnen und Mitarbeiterinnen hier gibt.«

Viele harren in Gewaltbeziehungen aus oder gehen neue Beziehungen ein – nur um nicht auf der Straße zu landen. Tatsächlich sind Frauen seltener obdachlos, also ohne jegliche Unterkunft, als Männer. Spezifisch für Wohnungslosigkeit unter Frauen ist die sogenannte verdeckte Wohnungslosigkeit. Das heißt, sie finden temporär Zuflucht bei Bekannten, Freunden oder Angehörigen. Laut dem Wohnungslosenbericht der Bundesregierung von Anfang Januar sind um die 20 Prozent der Menschen, die ohne Unterkunft auf der Straße oder in Behelfsunterkünften leben, Frauen. Unter den verdeckt Wohnungslosen ist der Frauenanteil demnach mit 43 Prozent wesentlich höher. Seit der ersten Umfrage 2022 haben sich die Zahlen nur geringfügig geändert.

Notlage kaschieren

Aufgrund ihrer Sozialisation bemühen sich Frauen meist lange, ihre Notlage zu kaschieren, und ertragen einiges, bevor sie sich Hilfe suchen. Sie achten auf ihr Äußeres, legen Wert darauf, gepflegt zu sein, halten sich vor allem an Orten auf, an denen sie anonym sein können. »Die tun wirklich alles dafür, dass sie ein bisschen verschwinden und unsichtbar werden«, sagt Kulik. Diese Strategie werde »dann zum Problem, wenn eben keiner die Not wahrnimmt. Nicht jede Frau kommt und sagt, ich brauche gerade Unterstützung.«

Erst wenn die Situation extrem werde, würden sich Frauen an Beratungsstellen oder andere Hilfsangebote wenden. »Viele wohnungslose ­Frauen versuchen sehr lange, ihre Situation eigenständig zu überwinden, auf ihre eigene Ressourcenfähigkeit zurückzugreifen, auch auf das soziale Netzwerk.«

»Da denkt man, dass das doch eine gute Sache ist«, meint Maretzki, »aber das geht ganz häufig mit gewaltgeprägten Abhängigkeitsverhältnissen einher.« Bevor sie auf der Straße landen, sind viele Frauen bereit, einiges in Kauf zu nehmen. Bei »einem Kumpel« unterzukommen, sei nicht zwangs­läufig sicher, bestätigt Johanna: »Da es passieren kann, dass sexuelle Handlungen als Gegenleistung gefordert sowie durchgesetzt werden«, selbst wenn die Frau das nicht wolle.

Plötzlich eine Hand im Schritt

Wohnungslose Frauen werden deutlich häufiger Opfer sexualisierter Gewalt als Männer. Sie werden belästigt, sind Opfer von sexuellen Übergriffen und werden vergewaltigt. Fremde bieten ihnen einen Schlafplatz an oder laden sie auf Getränke ein. Einige nutzen ihre Not aus und wollen sie zur Prostitution drängen. »Ein Mensch, der auf einer Isomatte liegt und schläft, der ist natürlich nicht geschützt«, so Maretzki. »Ich habe einen ganz schlimmen Fall aus dem vergangenen Jahr im Kopf, wo eine schlafende obdachlose Frau im Rollstuhl aufgewacht ist und eine Hand im Schritt hatte.«

Kulik zufolge schließen sich manche Frauen auf der Straße zum Teil Männergruppen an, um Schutz zu erhalten. »Oft ist es so, dass dann eine Gegenleistung erwartet wird für den Schutz, der ihnen versprochen wird.« Das kommt freilich nicht für alle Frauen in Frage, womit neue Gefahren entstehen, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen.

Die scheidende Bundesregierung hatte sich vorgenommen, bis 2030 Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden. Von besonders viel Erfolg ist das Vorhaben bislang nicht gekrönt.

Die scheidende Bundesregierung hatte sich vorgenommen, bis 2030 Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden. Von besonders viel Erfolg ist das Vorhaben bislang nicht gekrönt. Der Wohnungslosenbericht vermeldet eine Zunahme der Anzahl wohnungs­loser Menschen. Kulik spricht davon, dass immer mehr Besucherinnen von Evas Obdach im Alter verarmt seien. Sie hatten oft eine Wohnung, konnten die aber wegen erhöhter Mieten und Betriebskosten oder anderen Problemen nicht halten. »Das Problem ist, dass sie oft gar nicht auf die Rentenhöhe kommen, mit der sie sich im Alter absichern könnten.« Dieses Problem dürfte sich wohl weiter verschärfen, denn die Mieten steigen weiter, der Wohnraum in den großen Städten wird immer knapper und das Nettorenten­niveau sinkt.

Dass die künftige Bundesregierung wohnungspolitisch ambitionierter ­antritt als die bisherige, ist eher unwahrscheinlich. Deshalb braucht es nach Johannas Meinung wenigstens mit sofortiger Wirkung einen »besseren Schutz in Schlafstellen« und »kostenfreie sowie regelmäßige Selbstverteidigungskurse«. Sie betont allerdings auch, dass das nicht ausreiche und das Ziel, Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden, nicht aus den Augen verloren werden dürfe.