Humanismus-Karaoke auf Eis
Der Hype ums Weiß kennzeichnet die Moderne: geweißelte Häuser im Bauhaus-Stil, die Kalkwände in Leonard Cohens Haus auf der griechischen Insel Hydra, der White Cube, das weiße Quadrat von Kasimir Malewitsch. Um die begehrte Farbe, die keine ist, dreht sich auch Christian Krachts Künstlerroman »Air«. Ein echter Kracht-Stoff, der Nerdigkeit, Ästhetik und Mythologie verbindet. Die funkelnden Erwartungen, die er anfangs weckt, unterläuft der Roman aber sehr bald, und zwar unerwartet schroff.
Paul, gleich dem Protagonisten aus »1979« von Beruf Innenarchitekt, lebt abgeschieden in Stromness, einer steingrauen Hafenstadt auf den schottischen Orkney-Inseln. Stromness, das klingt nach gut ausgedacht, den Ort dieses Namens kann man sich aber schnell mal auf Google Maps anschauen. Ist man in der Geographie des Nordens nicht beschlagen, lässt man die Navi-App beim Lesen am besten auf. Allerdings geht es ab der Mitte des Buchs nicht mehr ums Reisen von einem Ort zum anderen, sondern um Zeitreisen durch kahle Landschaften und blendend weißes Eis.
Im soghaften Auftakt reist Paul per Flugzeug und Elektrotaxi in die norwegische Küstenstadt Stavanger. Es winkt ein obskurer, lukrativer Auftrag. Für das von ihm verehrte Kunstmagazin Küki soll er eine gigantische schwarze Halle mit dem perfekten Weiß streichen. Ein Traumjob! Dafür lässt Paul sogar das von Schwamm befallene Ingmar-Bergman-Haus auf der schwedischen Insel Fårö im Stich.
Mit der zynischen Magie spektakulärer Schauplätze kennt Kracht sich aus.
Wie es sich für den Protagonisten eines Romans von Kracht gehört, verachtet Paul seine Profession nach Kräften. Statt Häuser zu modernisieren, Fußbodenheizungen und Deckenstrahler einzubauen, übernimmt er bevorzugt Home-Staging-Aufträge; verteilt Gummistiefel, Stühle und aufgeschlagene Bücher in leeren Immobilien, um potentiellen Käufern ein warmes, stilvolles Ambiente vorzugaukeln. Alles Fake und Fassade. Wie auch die Redaktion des elitären Kunstmagazins. Die ist in Wahrheit in einem unaufgeräumten Zimmer mit einem Kühlschrank untergebracht, in dem ein Stück ranzige Butter liegt. Der Herausgeber von Küki ist ein komischer Vogel.
Mit ihm, dem geheimnisvollen Cohen, kommt nicht nur die zweite Hauptfigur ins Spiel, sondern auch die schräge Ebene von Traum, Mystery und Science Fiction. Deutlicher noch als Paul ist Cohen ein Suchender, ein besessener Pixel-Philosoph, der nicht ganz von dieser Welt ist. Bei der ersten Begegnung ist Paul enttäuscht: An Stil, um den sich im Heft alles dreht, ist der Küki-Macher überhaupt nicht interessiert. Das Mag ist nur dekorative Tarnung. Cohens Mission ist größer, Pauls Part darin wird es auch sein. So wie Stanley Kubrick sein Filmprojekt »A.I. – Künstliche Intelligenz« an Steven Spielberg übergeben hat, überträgt Cohen nun seinen Auftrag an Paul: Er soll an jenen dunklen Ort reisen, an dem das Menschheitsgedächtnis aufbewahrt wird.
Mit der zynischen Magie spektakulärer Schauplätze kennt Kracht sich aus. Inmitten der trügerischen Idylle des Zürichsees verliert sich am Ende von »Faserland« die Spur des rasenden Schnösel-Erzählers. Der Protagonist von »1979« endet in der Brutalität eines nordkoreanischen Arbeitslagers. In »Air« wird der Protagonist nun von dem in einem alten Nato-Bunker untergebrachten Mountain Data Center verschluckt. Synkope. Stromausfall. Schwarzes Bild.
Mountain Data Center im alten Nato-Bunker
Eine letzte Aufnahme auf einer Überwachungskamera wird auf Seite 108 vermerkt, erst 100 Seiten später taucht Paul aus den Tiefen eines Bewusstseinsstroms an anderem Ort zu anderer Zeit wieder auf, und damit ist der Roman schon beendet. Ob Paul immer noch der Alte ist oder nur eine geträumte, digitale Version seiner selbst, bleibt offen. Die Sache mit dem makellosen Anstrich hat sich in jedem Fall erledigt.
Eine zweite, so gar nicht Kracht-typische Handlung hat die elegant-mosernde Paul-Erzählung mehrmals unterbrochen und dann abgelöst. Auf dieser Erzählebene wird nicht mehr über den Vorzug des Strickpullovers vor Fleeceware räsoniert, sondern ums nackte Überleben gekämpft. Soldaten mit Schwertern und primitiven Pistolen kreuzen auf. Eine Seuche geht um. Ein Mädchen namens Ildr und ein namenloser Fremder entfliehen den Häschern eines Herzogs in Richtung Süden. Sogar ein Hund, noch dazu mit verletzter Pfote, hechelt hinterher. Augengläser und ein weißes Pulver, anscheinend ein Antibiotikum, weisen den Unbekannten als Zeitreisenden aus. Trägt der Fremdling etwa die Brille von Paul auf?
Die Dialoge zwischen dem offenbar über den Wissensschatz der Moderne verfügenden Mann und dem neunjährigen Kind gehören zum Seltsamsten, was Kracht bisher geschrieben hat. Ein spätes Echo des Autors auf die Kritik an zur Schau gestelltem Weltekel, an Misanthropie, Markenfetischismus und nihilistischen Charakteren. Barbourjacken sind den Wald- und Eismenschen, um die es hier geht, natürlich unbekannt, man trägt Wämse aus Wolle und Mäntel aus Otterfell. Die Figuren, auch die beiden Protagonisten, sind wie mit dem Taschenmesser aus einem Pfeil- und Bogenfilm herausgeschnitten. Die Erzählperspektive ist neutral, so dass man sich fragt: Ist es eine KI, die hier übernimmt? Ist »Air« eine Abkürzung für »Artificial Intelligence Roman«?
Esoterische Sekten, Spott über klimagerechte Architektur und die Frage nach Zugehörigkeit
Die Geschichte, so lange sie sich auch zieht, entfaltet kein wirkliches emotionales Eigenleben. Die archaische Anmut, die mit der aus wildem, aber grundgutem Mädchen und väterlichem Freund bestehenden Konstellation intendiert sein mag, will sich nicht einstellen. Es klingt mehr wie Humanismus-Karaoke. Man hält die Lektüre durch, weil man die Auflösung erfahren will, ahnt aber, dass sich der Riss, der stilistisch durch den Roman läuft, nur immer mehr vertiefen wird.
»Air«, 30 Jahre nach dem Debütroman »Faserland« erscheinend, schlägt bekannte Töne an und drückt auch die alten Knöpfe. Esoterische Sekten, Spott über klimagerechte Architektur und die Frage danach, wie lange einer wohl an einem Ort leben muss, um dazuzugehören. Aber er hat auch ein paar neue Ideen. Kalt weht einen im Roman die Frage an, was am Ende eines Menschenlebens, wenn nicht gar der Menschheit selbst, bleiben wird. Auch die erschütterte Gewissheit vom Krieg, der nie wiederkehren wird, kann man aus der verkorksten Fluchtgeschichte herauslesen. Mit Trumps Griff nach dem arktischen Eis ist dem Roman zudem ein unerwarteter Gegenwartsbezug zugefallen.
Für einen guten Roman ist das alles nicht genug. Man fühlt sich ein wenig an Spielbergs hochstapelndes Cyberepos erinnert, auf das Kracht mehrmals Bezug nimmt. Wie »A.I.« scheitert »Air« an seiner völligen ästhetischen Inkongruenz, gleichwohl man das ganze Potential der Geschichte auf jeder Seite durchschimmern sieht. Am Ende weiß man einfach nicht zu sagen, ob Kracht es sich zu leicht gemacht hat oder zu schwer.
Christian Kracht: Air. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2025, 224 Seiten, 25 Euro