Akademischer Antisemitismus
Es ist vor allem die Einsamkeit, die vielen jüdischen Student:innen zu schaffen macht. Sie fühlen sich seit dem Pogrom, das die Hamas am 7. Oktober 2023 im Süden Israels verübt hat, im Stich gelassen – von den Hochschulen als Institutionen, vor allem jedoch von ihren Kommiliton:innen. »Ich saß am 9. Oktober in einer Vorlesung und habe gesagt, dass ich Angst habe. Niemand hat darauf reagiert«, sagt Sharon Spievak der Jungle World. Sie war zu dieser Zeit AStA-Vorsitzende der Hochschule Rhein-Waal in Kleve.
Dass sie als Jüdin dieses Amt innehatte, schien vielen ein Dorn im Auge: Es begann eine beispiellose Hetzkampagne gegen sie. Täglich habe sie neue Aufkleber an der Tür ihres Büros im AStA vorgefunden, sie habe antisemitische Briefe und E-Mails erhalten und in Whatsapp-Gruppen seien Lügen und Verleumdungen über sie verbreitet worden. Sie berichtet von einer studentischen Gruppe, die für sich sogar mit dem Slogan geworben habe: »Wenn ihr uns wählt, schmeißen wir die Juden aus dem AStA.« Schließlich trat Spievak von ihrem Posten zurück. Unterstützung habe sie während dieser Monate nur von wenigen bekommen, sagt sie. Mittlerweile meidet sie den Campus.
»Ich saß am 9. Oktober in einer Vorlesung und habe gesagt, dass ich Angst habe. Niemand hat darauf reagiert.« Sharon Spievak, ehemalige AStA-Vorsitzende der Hochschule Rhein-Waal in Kleve
Dem jüngst veröffentlichten »Lagebericht zum Antisemitismus an deutschen Hochschulen« des American Jewish Committee Berlin (AJC) und der Jüdischen Studierendenunion (JSUD) zufolge hat der Antisemitismus im universitären Raum Ausmaße erreicht, die für die Nachkriegszeit beispiellos sind. Antisemitische Vorfälle haben sich dort 2023 im Vergleich zum Vorjahr demnach fast versiebenfacht: Der Bericht verzeichnet einen Anstieg von 23 Vorfällen auf 151. Die Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) bestätigen das. Auch der Verein Ofek, der von Antisemitismus Betroffene berät, berichtet von einer Vervielfachung der Anfragen. Eigenen Angaben zufolge sind es seit dem Angriff der Hamas fünfmal so viel wie zuvor.
Der Antisemitismus an Hochschulen erzeugt inzwischen ein solches Bedrohungspotential, dass beispielsweise Schmierereien und Aufkleber, die teils unverblümt Judenmord propagieren, bereits zum Grundrauschen gehören. Es ist dem Bericht zufolge zwar nur eine kleine Minderheit, die sich gegen Jüdinnen und Juden feindlich verhält, die ist dafür aber laut, gut organisiert und zum Teil gewaltbereit. Die enge Taktung von Performances, Versammlungen, Besetzungen und Camps soll vor allem eines vermitteln, schreibt Hanna Veiler, ehemalige Präsidentin der JSUD, in dem Bericht: »Jüdinnen und Juden sowie alle, die mit dem jüdischen Staat solidarisch sind, sollen sich nirgends sicher fühlen dürfen.«
Student brutal zusammengeschlagen
Spätestens seit der Berliner Student Lahav Shapira brutal zusammengeschlagen wurde, ist diese Drohung wörtlich zu begreifen. Banner, die bei der Besetzung der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin Mitte Januar zu sehen waren, unterstreichen Veilers Aussage. Zu lesen waren da unter anderem positive Bezugnahmen auf die Hamas: »Hamas Habibi« (Hamas, mein Liebling).
»Was seit Oktober 2023 am Campus passiert, muss als Machtdemonstration verstanden werden«, meint Andreas Stahl im Gespräch mit der Jungle World. Er leitet seit August 2024 die Anlaufstelle für Betroffene von Antisemitismus an Hochschulen in Nordrhein-Westfalen. Es ist das erste Bundesland, das mit einem Maßnahmenpaket explizit auf Antisemitismus auf dem Campus reagiert.
Stahl berichtet vom Austausch mit jüdischen Studierenden: »Oft geht es um eine niedrigschwellige Erstberatung. Das betrifft Fälle, die teils nicht die Kriterien als antisemitischer Vorfall erfüllen, bei denen die Studierenden aber dennoch besprechen wollen, wie sie mit der Situation umgehen können.« Viele Jüdinnen und Juden würden aber auch von Einschüchterungen berichten; zum Beispiel würden sie von antizionistischen Akteur:innen fotografiert. In der Folge ziehen sie sich zurück: Aus der Hochschulpolitik, aus Whatsapp-Gruppen, und einige gehen gar nicht mehr auf den Campus oder pausieren ihr Studium.
Belästigungen, physische Gewalt und Sachbeschädigung
Diesen Rückzug nimmt auch Naomi Tamir wahr. Sie ist gerade erst als Vorstandsmitglied der JSUD gewählt worden und koordiniert die jüdische Hochschulgruppe an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Gleichzeitig, so Tamir im Gespräch mit der Jungle World, seien jüdische Studierende die Hauptverantwortlichen für die Bekämpfung von Antisemitismus. Von den Hochschulen verlangt sie deshalb, mehr Verantwortung zu übernehmen: »Wir mussten die Gespräche mit den Hochschulen einfordern. Wenn wir als Jüdinnen und Juden das nicht gemacht hätten, hätte es niemand gemacht.«
Betroffen sind nicht nur Student:innen, sondern auch Dozent:innen. Einer Umfrage innerhalb des Netzwerks jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz lassen sich gewisse Trends entnehmen: So erlebten viele Belästigungen per Social Media oder per E-Mail, verbale Angriffe im akademischen Umfeld und einige sogar physische Gewalt und Sachbeschädigung.
Insgesamt nehmen die jüdischen Hochschullehrer:innen ein Klima der Entsolidarisierung und der Empathielosigkeit wahr und ergreifen Sicherheitsmaßnahmen: Sie steigen auf Online-Unterricht um, verzichten auf jüdische Symbole und Gespräche auf Hebräisch, teils organisieren sie sich sogar Personenschutz.
»Die Hochschulen waren anfangs um ihren Ruf bemüht und wollten deshalb, dass es ruhig bleibt.« Naomi Tamir, Vorstandsmitglied der JSUD
Erste Beratungs- und Vernetzungsangebote gibt es bereits. Ergänzend dazu sieht Stahl einen großen Bedarf an Aufklärungsarbeit zum israelisch-arabischen Konflikt. Das setze aber Interesse der Hochschule voraus. Tamir nimmt die Hochschulen als schwerfällig wahr. Es habe viel Überzeugungsarbeit gekostet, strukturelle Angebote für die Betroffenen von Antisemitismus zu schaffen. »Die Hochschulen waren anfangs um ihren Ruf bemüht und wollten deshalb, dass es ruhig bleibt.« Die Benennung von Ansprechpersonen an den Hochschulen sei jedoch ein guter und richtiger Schritt gewesen.
Unter anderem aus diesem Grund entschied Spievak nach ihrem Rücktritt als AStA-Vorsitzende, ihre Erfahrungen öffentlich zu machen. Spievak nimmt wahr, dass andere Jüdinnen und Juden Kraft aus ihrer Offenheit schöpften und sich weniger allein fühlten. Sie möchte so aber auch die Öffentlichkeit zur Verantwortung ziehen: »Ich will nicht, dass am Ende irgendwer sagen kann, dass er oder sie es nicht gewusst hätte.«