Cinematographischer Schrei
Immer mal wieder gibt es Filme, die die Sehgewohnheiten und Genrekonventionen unterlaufen, indem sie zu einem radikal eigenen Ausdruck finden und so etwas Neues erzählen. Der irgendwo zwischen Body Horror, Trennungsdrama und politisch-religiöser Parabel anzusiedelnde Film »Possession« des polnischen Regisseurs Andrzej Żuławski aus dem Jahr 1981 ist so ein Film. Er spielt in jener Wahnwelt, die sich in den Rissen auftun kann, die das Ende einer Liebe erzeugt. Żuławski überdehnt diese Risse zu klaffenden Abgründen, in denen sich auch der Schrecken der realsozialistischen Diktatur in seinem Herkunftsland ausdrückt. Der Filmverleih Drop-Out Cinema bringt »Possession« nun in restaurierter Fassung noch einmal in die Kinos, erstmals auch in einer deutschen Synchronfassung.
Mark (Sam Neill), Mitarbeiter eines Geheimdiensts, kehrt von einer Auslandsreise zurück nach Westberlin. Zu einem synthlastigen Score fährt die Kamera durch die triste, dreckige Stadt hin zu dem modernen Mehrfamilienhaus, in dem Mark mit seiner Ehefrau Anna (Isabelle Adjani) und dem gemeinsamen kleinen Sohn Bob lebt.
Atmosphärisch vermitteln bereits die ungewöhnlichen Kameraperspektiven auf Straßenzüge, Gebäude und Inneneinrichtungen gemeinsam mit einem beunruhigenden Sounddesign, dass sich hier ein größerer Abgrund aufzutun droht.
Der Empfang fällt frostig aus, in der nächsten Szene zeigt die Kamera in schonungsloser Draufsicht das Gespräch des nebeneinander auf dem Ehebett liegenden Paars, das sich, ohne sich anzublicken, das Ende seiner Liebe eingestehen muss. Mark nimmt sich eine berufliche Auszeit und verzweifelt immer mehr an der zerfallenden Beziehung, während Anna sich abwendet. Atmosphärisch vermitteln bereits die ungewöhnlichen Kameraperspektiven auf Straßenzüge, Gebäude und Inneneinrichtungen gemeinsam mit einem beunruhigenden Sounddesign und den kalten, milchigen Farben, dass sich hier ein Abgrund aufzutun droht.
Mark findet eine an Anna adressierte Postkarte romantischen Inhalts vom Taj Mahal, der Absender ist ein gewisser Heinrich. Im als Kulisse dienenden Café Einstein in der Kurfürstenstraße (das leider vor zwei Jahren dichtgemacht hat) stellt Mark sie zur Rede; wieder zeigt die Kamera frontal, wie sie voneinander abgewandt zueinander sprechen. Anna gesteht die Affäre ein, woraufhin Mark in einem exzessiven Wutausbruch die Einrichtung des Kaffeehauses zerlegt, ehe er sich in einem Hotel für mehrere Wochen dem eigenen Elend überlässt.
Spätestens hier fällt der ungewohnte Stil des Schauspiels auf, mit vollem Körper- und Stimmeinsatz wird der Text übersteigert nach außen gekehrt. Żuławski ließ sich dazu vom modernen polnischen Theater in-spirieren und adaptierte die vom polnischen Theaterregisseur Jerzy Grotowski geprägte expressive Spielweise für das Kino. Was zunächst etwas irritieren mag, entfaltet im weiteren Verlauf des Films eine große Intensität.
Mark reißt sich nach den Wochen des Leidens wieder einigermaßen zusammen, doch dann findet er Bob alleine in der chaotischen Wohnung vor. Nach Annas Rückkehr kommt es zu einem verzweifelten Versöhnungsversuch, im Zuge dessen jedoch deutlich wird, wie sehr Anna Heinrich verfallen ist. Mark sucht schließlich die Konfrontation mit seinem Widersacher.
Heinrich (Heinz Bennent) ist ein charismatischer Guru, der mit seiner Mutter in einer riesigen Altbauwohnung lebt und ununterbrochen mit spiritistischen Pseudoweisheiten um sich wirft. Zu allem Überfluss ist der indienbegeisterte Unsympath, der aufdringlich sein Brusthaar zur Schau stellt, Mark körperlich weit überlegen und schlägt diesen, als er angemessen aggressiv auf das harmoniegeschwängerte Geseier des erleuchteten Muttersöhnchens reagiert, kurzerhand blutig – eine treffendere Verkörperung des schlimmstmöglichen Schreckbilds eines libidinösen Konkurrenten hat das Kino bisher nicht gesehen. Man könnte fast meinen, der Horror des Verlassenwerdens um eines anderen willen fände in dieser dumpfen Überlegenheit eines ausgemachten Idioten bereits seinen höchsten filmischen Ausdruck, doch Żuławski ist erst am Anfang seiner abgründigen Dehnübungen.
Die innere Unruhe der Protagonisten scheint auf die Außenwelt überzugreifen
Denn Mark vergreift sich infolge dieser körperlichen Auseinandersetzung an der immer haltloser verzweifelten Anna, die sodann blutverschmiert und schreiend durch die dreckigen Straßen läuft und dabei auch noch einen Unfall provoziert, bei dem ein vorbeifahrender Autotransporter umkippt – die extreme innere Unruhe der Protagonisten scheint unvermittelt auf die Außenwelt überzugreifen. Auch sonst ist alles ständig in Bewegung, unruhig folgen die dynamischen Kamerafahrten um sich schlagenden Leibern. Mal wippt Mark manisch auf einem Schaukelstuhl, dann dreht er sich im Bürosessel, während sich Anna immer mehr wie eine Besessene geriert. Bei einem der zahlreichen Streite schneiden sie sich beide selbst mit einem elektrischen Fleischmesser die Haut auf, und überhaupt sind fortan die Protagonisten aus unterschiedlichen Gründen meist blutverschmiert.
Żuławski ließ seine Schauspieler in Vorbereitung auf dieses ausufernde Spiel in hypnosetherapeutischen Sitzungen in Trance versetzen. Am eindrücklichsten zeugt davon eine unvergessliche Szene, in der Anna im U-Bahnhof Platz der Luftbrücke einen Anfall bekommt und minutenlang lachend und schreiend krampfhaft um sich schlägt, ehe sie eine blutige, schleimige Fehlgeburt erleidet – eine darstellerische Ausnahmeleistung Isabelle Adjanis.
Unter zahlreichen Todesopfern und einer ausufernden Abfolge von Geschehnissen offenbart sich schließlich, dass Anna auch Heinrich abtrünnig geworden ist und sich in einer heruntergekommenen Kreuzberger Wohnung einem noch dämonischeren Liebhaber hingibt, dem sie immer mehr zu verfallen droht – und der Mark womöglich nähersteht, als ihm lieb ist. Denn während Mark in Helen, Bobs ebenfalls von Adjani gespielter Klassenlehrerin, Annas nach seinen Wünschen umgestaltetes Ebenbild zu finden scheint, nährt Anna in selbstverzehrenden Liebesakten einen monströsen, mit Tentakeln versehenen Wiedergänger Marks – gestaltet wurde dieser von Carlo Rambaldi, der auch für die Maskeneffekte in Ridley Scotts »Alien« verantwortlich war.
Die Doppelgängerthematik verweist auch auf die unterschiedlichen Spaltungen, die sich in der titelgebenden Besessenheit reflektieren. Da ist die Trennung selbst und da sind die Zerrbilder, die die ehemals Liebenden voneinander erschaffen, da ist der Kampf mit dem Wahnsinn, den Anna auszutragen hat und dem auch Mark zu verfallen droht – wenngleich eine Äußerung Helens, die Mark attestiert, er könne sich die Freiheit nur als das Böse vorstellen, suggeriert, dass Annas diabolische Besessenheit wiederum nur Marks phantastisches Zerrbild ihrer Abwendung von der zerrütteten Beziehung hin zur Freiheit sein könnte.
Während Mark in Helen, Bobs ebenfalls von Adjani gespielter Klassenlehrerin, Annas nach seinen Wünschen umgestaltetes Ebenbild zu finden scheint, nährt Anna in selbstverzehrenden Liebesakten einen monströsen, mit Tentakeln versehenen Wiedergänger Marks.
Und dann ist da die ganz reale Spaltung Berlins, in der sich Żuławskis zerrüttetes Verhältnis zum sowjetisch unterworfenen Polen ausdrückt. Denn neben seiner eigenen Scheidung verarbeitet der Regisseur mit »Possession« die Restriktionen der dortigen Zensurbehörden, die ihm die Arbeit in seinem Heimatland unmöglich machten und ihn nach Frankreich ins Exil zwangen, wo er auch Teile seiner Jugend verbracht hatte. In »Possession« tauchen jene finsteren Mächte der Unterdrückung in Gestalt der Ostberliner Mauerschützen auf, die die unmittelbar an der Grenze gelegene Wohnung der jungen Familie zu beschatten scheinen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Żuławskis großer Trennungsfilm als komplexe Untersuchung der Spaltung von Gut und Böse verstehen, wobei sich das Böse fern jeder Eindeutigkeit sowohl im Selbstverlust durch eine dämonische oder politische Übermacht auftut als auch in den Abgründen zwischen zwei Menschen, die einander nicht mehr verstehen. Żuławski hat in »Possession« zu einer unverwechselbaren Ausdrucksweise für ein vielschichtiges biographisches Leiden gefunden, die sich in Form eines einzigen cinematographischen Schreis vermittelt, der es unbedingt wert ist, noch einmal in den Kinos gehört zu werden.
Possession (FR/D 1981). Buch: Andrzej Żuławski, Frederic Tuten. Regie: Andrzej Żuławski. Darsteller: Isabelle Adjani, Sam Neill, Heinz Bennent