Slet im Strahov
Nimmt man in Prag die Straßenbahn auf den Petřín (früher: Laurenziberg) und hält sich zu Fuß links vom Aussichtsturm, trifft man auf ein gigantisches Gebäude, einen wahren Koloss aus Beton. Es ist das Strahov-Stadion, das während seiner Betriebszeit von 1932 bis 1991 das größte Sportstadion der Welt war. Es bot bis zu 250.000 Menschen Platz und war damit größer als jedes andere Stadion und jede Arena, ob in der Antike oder in der Moderne.
Der Gedanke liegt nahe, es könne sich dabei nur um eine typisches Monumentalbauwerk des realsozialistischen Brutalismus handeln, doch das Strahov-Stadion entstand bereits Jahre vor dem Einmarsch der Roten Armee und der kommunistischen Machtübernahme.
Die Geschichte des »Großen Strahov-Stadions«, wie es genau heißt (Velký strahovský stadion), geht auf die Turnbewegung des 19. Jahrhunderts zurück. Damals gründeten im Zuge des aufziehenden Nationalismus alle möglichen Gruppen zumeist ethnisch orientierte Turnvereine, von denen in der Tradition des berüchtigten deutschnationalen Antisemiten Friedrich Ludwig Jahn bis zur jüdischen Sportbewegung, aus der heraus 1898 Bar Kochba Berlin gegründet wurde, der erste jüdische Sportverein Deutschlands. Die Tschechen, insbesondere die panslawistisch orientierten, wollten vor allem der Jahn-Bewegung nicht nachstehen, und so gründeten Miroslav Tyrš und Jindřich Fügner im Jahre 1862 den Sportverein Sokol (Falke).
Im Vergleich zu den deutschen Jahn-Turnvereinen war die ursprünglich tschechische panslawistische Sokol-Bewegung viel liberaler ausgerichtet.
Tyrš und Fügner stammten beide aus deutschsprachigen Familien des damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Prag, waren aber begeistert vom slawischen Nationalismus. So begeistert, dass sie ihre Namen änderten. Aus Friedrich wurde Miroslav und aus Heinrich Jindřich. Ihre Ablehnung der deutschen Sprache hinderte die beiden jungen Romantiker nicht daran, sich mit der deutschen Turnbewegung ein aus heutiger Sicht nicht nur positives Vorbild auszuwählen. Ihr Verein Sokol wurde jedenfalls ein Riesenerfolg, denn schon in wenigen Jahren gründeten Turner in allen größeren Städten Osteuropas örtliche Sokol-Ableger.
Im Vergleich zu den deutschen Jahn-Turnvereinen war Sokol viel liberaler. Das spiegelte sich auch in der sozialen Zusammensetzung der Mitglieder, die sich größtenteils aus dem Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft rekrutierten statt aus dem Adel und Großkapital nacheifernden Bürgertum. Ähnlich wie bei anderen nationalistisch orientierten Sportvereinen jener Zeit war es aber auch bei Sokol eines der erklärten Ziele, den »Volkskörper« für den Wehrdienst zu stählen. Schon 1866 dienten Sokol-Mitglieder während des Preußisch-Österreichischen Kriegs als Objektschützer und agierten bei öffentlichen Veranstaltungen als Sicherheitsdienst. In andere Fragen war man dagegen recht progressiv, denn schon 1890 öffnete sich der Verein Sokol auch weiblichen Turnerinnen.
Beim Slet von 1938 waren 350.000 Menschen live dabei
Wo viele Menschen im Verein rennen und hüpfen und strampeln, wächst der Wunsch, sich mit anderen Rennern und Hüpfern und Stramplern zu messen, was die Idee hervorbrachte, alle Sokol-Vereine in einem großen Wettbewerb antreten zu lassen. 1882 fand in Prag der erste »Slet« statt, was man als »Schwarmtreffen« von Vögeln und allgemein als »Versammlung« übersetzen kann.
Die Slety wurden so populär, dass man sich nach dem Ersten Weltkrieg in der unabhängig gewordenen Tschechoslowakei den Kopf darüber zerbrach, wo man all die Athleten und Athletinnen und vor allem die vielen Zuschauer und Zuschauerinnen unterbringen könnte. 1926 legte der Architekt Alois Dryák dann den Plan für ein gigantisches Sportstadion in einer Dimension vor, die die Welt noch nicht gesehen hatte. 1932 schließlich goss man in Beton, was noch immer zu besichtigen ist, nämlich ein irrwitzig großes ovales Monster von einem Stadion.
Das Fassungsvermögen der Strahov-Arena lag in etwa bei 250.000 Menschen, doch wenn man ein bisschen zusammenrückte, ging da sogar noch mehr. Beim Slet von 1938 waren sagenhafte 350.000 Zuschauer live dabei, bis heute ist es das Sportfestival vor der größten Publikumskulisse. Menschen aus allen slawischsprachigen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns reisten an, um bei diesem Spektakel dabei zu sein. Das gibt eine Vorstellung davon, wie stark die Sokol-Bewegung die Massen anzog und wie beliebt Leichtathletik und Synchronturnen einst waren. Die Spielfläche des Stadions umfasste 70.000 Quadratmeter und war damit in etwa zehnmal so groß, wie ein normaler Fußballplatz nach den Richtlinien von Fifa und Uefa sein muss.
Viel zu groß für die nach 1991 geschrumpfte Turnbewegung
Dann kamen die Nazis und es wurde finster. Die Deutschen verboten die Sokol-Vereine sofort und ermordeten fast alle wichtigen Funktionäre. Im Untergrund aber lebte die Sokol-Bewegung fort und ihre Mitglieder beteiligten sich aktiv am Widerstand gegen die deutschen Besatzer. 1945 erhob sich Sokol aus der Asche von Faschismus und Krieg, aber die neue Freiheit währte nur kurz, denn schon 1948 verboten die neuen Machthaber, diesmal Kommunisten, erneut alle Sokol-Organisationen.
Deswegen blieb das Strahov-Stadion aber noch lange nicht leer. Die Kommunisten ersetzten die Sokol-Vereine durch ihre eigenen Trimm-dich-Verbände und hielten im Strahov-Stadion die Spartakiaden ab. Die tschechoslowakische Spartakiade hatte aber mit den von der Sowjetunion veranstalteten internationalen Sportspielen nur den Namen gemein. In Prag war die spartakiáda eine reine Massenturnveranstaltung, die alle fünf Jahre im Strahov-Stadion stattfand. Freilich nahmen auch am Prager Großturnen Athleten und Athletinnen aus aller sozialistischen Welt teil. Viele ältere Menschen erinnern sich noch gerne an diese Spartakiaden, denn Gäste aus der Karibik und aus Afrika brachten oft Südfrüchte als kleine Geschenke für die Gastgeber mit.
Zu letzter großer Form lief der riesige Betonkomplex in den frühen neunziger Jahren noch als Konzertbühne für Bands wie die Rolling Stones oder Pink Floyd auf, die dort vor bis zu 150.000 Menschen auftraten. Danach begann ein langsamer Verfall, der bis heute anhält.
Seit dem Fall des Realsozialismus sind Sokol in Tschechien und in der Slowakei wieder zugelassen und noch immer sehr aktiv. Die Breitenwirkung, die der Turnverein vor dem Zweiten Weltkrieg hatte, erreichte er freilich nicht wieder. Das Massenturnen mit Tausenden Aktiven, die vor Hunderttausenden Zuschauern und Zuschauerinnen synchrone Athletik vorführten, wirkte aus der Zeit gefallen und wurde mit dem gerade erst überwundenen Realsozialismus in Verbindung gebracht. Wie die ganze Gesellschaft konzentrierte sich auch die Sokol-Vereine sehr rasch mehr auf individuelle Leistungen und »kleinen« Mannschaftssport. Und entsprechend erwies sich das Strahov-Stadion rasch als viel zu groß für die geschrumpfte Turnbewegung.
Zu letzter großer Form lief der riesige Betonkomplex in den frühen neunziger Jahren noch als Konzertbühne für Bands wie die Rolling Stones oder Pink Floyd auf, die dort vor bis zu 150.000 Menschen auftraten. Danach begann ein langsamer Verfall, der bis heute anhält. Doch ganz ohne Leben ist das Stadion nicht, denn seit knapp 20 Jahren ist die Geschäftsstelle des Fußballclubs Sparta Prag in einem neuen Gebäude direkt auf dem früheren Sportfeld angesiedelt, und im auf sechs Fußballfelder aufgeteilten Rest trainiert der Nachwuchs des Prager Traditionsvereins.