20.03.2025
Edith Andersons Anthologie »Blitz aus heiterm Himmel« hat den Geschlechtertausch zum Thema

Vom Blitz getroffen

Die kürzlich neu aufgelegte Anthologie »Blitz aus heiterm Himmel« erschien zum ersten Mal 1975 in der DDR. Ihr Thema: der Geschlechtertausch. Die Editionsgeschichte des Erzählbands ist holprig, seine Herausgeberin Edith Anderson war eine faszinierende feministische Figur der DDR-Publizistik.

»Vater, Vater«, brüllen Kinder auf offener Straße, woraufhin ein Mann, zufälliges Ziel ihrer Rufe, den Kindern wutentbrannt hinterherjagt. Willkommen in Quedlinburg! Wo das Wort »Vater« als obszönes Schimpfwort gilt, seit Frauen hier vor 20 Jahren das Matriarchat errichtet haben – zumindest in der Geschichte »Quedlinburg« von Karl-Heinz Jakobs ist das so. Einen Drucker aus selbiger Stadt hat diese Erzählung so verärgert, dass er deshalb die Arbeit verweigerte.

Nur eine von vielen Hürden, die Edith Anderson als Herausgeberin der Anthologie »Blitz aus heiterm Himmel«, in der die Kurzgeschichte erschien, nehmen musste. 1970 beauftragte Anderson zwölf von ihr geschätzte Autor:innen, Prosatexte zum Thema Geschlechtertausch zu verfassen.

Karl-Heinz Jakobs’ Erzählung ist einer von letztlich acht Beiträgen jener Anthologie, die 1975 in der DDR herauskam. Fünf aufreibende Jahre lagen hinter Anderson. Gewöhnlich vergingen in der DDR zwei bis drei Jahre bis zur Druckfreigabe, geknüpft an die Zustimmungen seitens Lektor:in, Chef­lek­tor:in und Verlagsleitung sowie von zwei Außen­gut­achter:innen.

»Die Wachsamkeit des Patriarchats, was seine Privilegien betrifft, ist viel größer als die Wachsamkeit von Frauen, was ihre Rechte betrifft.« Edith Anderson

Die erste Auflage war so schnell ausverkauft, dass Anderson in keiner Buchhandlung ein Exemplar entdeckte. Trotzdem plante der als progressiv geltende Hinstorff-Verlag keine Zweitauflage, was einem verlegerischen Paradoxon gleichkam. Lediglich in der BRD zirkulierte ab 1980 unter dem Titel »Geschlechtertausch« eine stark geschrumpfte Version ihrer Anthologie – darin fehlen die Texte von Günter de Bruyn, Gotthold Gloger, Rolf Schneider, Karl-Heinz Jakobs, Annemarie Auer und Edith Anderson, deren Rolle als Herausgeberin kaum benannt wurde. Verschont blieben lediglich Christa Wolf und Sarah Kirsch, neu hinzugefügt wurde eine Erzählung Irmtraud Morgners, entnommen ihrem 1974 veröffentlichten Roman »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura«.

Nun, fast 50 Jahre später, wurde »Blitz aus heiterm Himmel« neu aufgelegt, in der Reihe »Die Andere Bi­bliothek« des Aufbau-Verlags. Die Ausgabe ist auch was fürs Auge, dank der durchdachten Gestaltung der Designagentur Formdusche. Und sie ist vollständig. Ergänzt wurden das hervorragend recherchierte Nachwort des Literaturwissenschaftlers Carsten Gansel sowie ein Vortrag der Herausgeberin, gehalten 1984 auf einem Symposium.

Darin spricht sie rückblickend über ihre Motivation und über die Konflikte, die sich rund um die geplante Publikation gehäuft hatten. Wo manches allzu subjektiv eingefärbt zu sein scheint – Anderson vermutet unter anderem die Einmischung der Staatssicherheit –, rekonstruiert und ordnet Carsten Gansel die Geschehnisse ein und legt mögliche Gründe dafür frei, dass die Veröffentlichung wiederholt aufgeschobenen wurde: Der Lektor fremdelte mit dem Stoff, der Verlagsleiter wollte dessen Kanten schleifen, hinzu kamen Papiermangel hier, intransparente Kommunikation da, und so verstrichen fünf Jahre.

Bis schließlich, auf Andersons Drängen hin, der Schriftstellerverband dem Verlag mit einer Schadenersatzklage drohte. Im Nachhinein resümierte Anderson mit bestechender Hellsichtigkeit: »Die Wachsamkeit des Patriarchats, was seine Privilegien betrifft, ist viel größer als die Wachsamkeit von Frauen, was ihre Rechte betrifft.«

Anderson war Amerikanerin, Kommunistin, Jüdin

Mit Widerständen kannte sich die gebürtige US-Amerikanerin Anderson aus. Als junges Mitglied in der Kommunistischen Partei der USA kritisierte sie die Parteispitze für ihren mangelnden Willen, den Bedürfnissen der schwarzen Bevölkerung und denen der Frauen Rechnung zu tragen.

Als Zugschaffnerin in New York – 1942 war der Beruf kriegsbedingt für Frauen geöffnet worden – behauptete sie sich gegen das von Sexismus, Antisemitismus und Rassismus durchtränkte Arbeitsumfeld. Mit Kriegsende und der Rückkehr der Männer auf den Arbeitsmarkt machte sich Anderson in der Partei für die Gründung einer Frauengewerkschaft stark.

Als Jüdin ging sie zum Entsetzen der Eltern 1947 nach Deutschland in die Sowjetische Besatzungszone. Ihr Ehemann Max Schroeder, gerade zum Cheflektor des Aufbau-Verlags ernannt, wartete in Berlin auf sie. Die beiden hatten sich 1942 in New York getroffen, wohin der überzeugte Kommunist vor den Nazis geflüchtet war.

Eine kluge und mutige Beobachterin ihrer Gegenwart

In der Ehe haderte Schroeder mit Familienalltag und Haushaltspflichten, doch stellte er eine Haushaltshilfe an, förderte die Schreibvorhaben seiner Frau und übersetzte ihren ersten Roman »Gelbes Licht«. Er selbst zerrieb sich zwischen der Verlagsarbeit, seinem Idealismus und den politischen Widersprüchen. Degradierung und Verhaftungen im Freundeskreis beobachten zu müssen, bestürzte ihn. Gegenüber seiner Ehefrau schwieg er sich über all das aus und verstarb 1958.

Nach seinem Tod blieb Anderson in Ost-Berlin, arbeitete als Übersetzerin, schrieb Hörspiele sowie Kinderbücher und war über all die Jahre eine kluge und mutige Beobachterin ihrer Gegenwart. Eine, die das öffentliche Nachdenken über den Zustand der Frauenrechte in der DDR nicht scheute. Frauenbewegung, Solidarität unter Schwestern – dafür gab es in der DDR, wo das Gesetz die Gleichberechtigung der Geschlechter verkündete, kaum ein Bewusstsein. Tatsächlich genossen Frauen Rechte und Vorteile, für die in der dama­ligen BRD noch gekämpft wurde. Warum also eine kritische Reflexion bemühen?

Noch immer seien einige Probleme ungelöst, so Anderson 1984 in ihrem Vortrag: »In unserer Seele gären Antriebe und Verhaltensweisen, die Jahrhunderte alt sind, das Gesetz stammt gerade erst von gestern.« Die von Anderson angestrengte Anthologie steht im Zeichen ihres bisherigen Wirkens.

Peter Hacks und die Königin von Lydien

Die Inspiration war ihr im Juni 1970 auf einer Geburtstagsfeier gekommen, wo der Schriftsteller Peter Hacks von seinem neuen Stück »Omphale« erzählte. Darin nimmt sich Omphale, Königin von Lydien, Herakles zum Sklaven, der zur Hausarbeit verdammt wird. Beide kommen sich näher, wobei die Königin auch im Bett das Zepter in die Hand nimmt und mit dem Geliebten Kleider tauscht. Der putzende Krieger zeigt sich fortan im Kleid, die Königin im Löwenfell und mit Holzkeule. Bei Hacks vollzieht sich, im Gegensatz zum griechischen Mythos, der Tausch der Geschlechterrollen aus freien Stücken.

»Blitz aus heiterm Himmel« geht einen Schritt weiter und erforscht die Spannung, die entsteht, wenn sich über Nacht primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale einer ­Figur dergestalt ändern, dass als Frau sozialisierte Menschen nun als Mann gelten oder umgekehrt. Die Körper mögen sich verändert haben, doch die Mitgift der patriarchalen Gesellschaft, in der man aufwuchs, sitzt tief im Bewusstsein. Frau zu sein, ist schließlich »Produkt eines unerbittlich strengen, kunstvollen Trainings«, so die Figur Alyda in Edith Andersons Erzählung »Dein für immer oder nie«. In Christa Wolfs »Selbstversuch: Traktat zu einem Protokoll« bemerkt die Figur Anders, die im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments das bio­logische Geschlecht wechselt, dass »die Frau, die ich noch vor zwei Tagen gewesen war (…), wie eine Katze zusammengerollt in mir schlief«.

Menschen im Übergang, Unfertige, wie auch in Günter de Bruyns »Geschlechtertausch«. Vom eigenen Körper nach dem Schlaf überrascht, ­bemerkt Karl(a) auf dem Arbeitsweg »an fertigen, halbfertigen und gerade begonnenen Neubauten vorbei, an Ungewohntem, sich ständig Veränderndem«, dass dies »meinem eigenen Zustand in gewisser Weise entsprach«. Noch Kind ihrer bisherigen geschlechtsspezifischen Sozialisation, befinden sich die Figuren in ständigem Dialog mit sich selbst. Die vom Schicksal Überraschten greifen auf das zurück, was die jeweiligen Rollenbilder parat halten. Die einen auf Make-up – und sind wie de 

Bruyns Protagonistin verblüfft über »die Mühe, die es kostet«, sich allmorgendlich über »das Faltengewirr, die Fahlheit der Brauen, die Kürze der Wimpern, die Blässe« Gedanken machen zu müssen.

Anderson arbeitete als Übersetzerin, schrieb Hörspiele sowie Kinderbücher und war eine mutige Beobachterin ihrer Gegenwart. Eine, die das öffentliche Nachdenken über den Zustand der Frauenrechte in der DDR nicht scheute.

Die anderen wissen plötzlich mit dem vertrauten »Plunder« nichts mehr anzufangen, wie Max in Sarah Kirschs Geschichte »Blitz aus heiterm Himmel«, oder sehen sich wie in Wolfs Geschichte dazu gezwungen, in der Werkskantine »Eisbein mit Erbspüree« zu essen, was »Beweis für eines Mannes Männlichkeit« sei. Während die einen Beschränkung erfahren – »Jetzt waren mein Wissen und meine Fähigkeit (…) zwar nicht weniger geworden, aber es galt weniger, es hatte an Gewicht verloren« (de Bruyn) –, erleben die anderen Befreiung: in der Kneipe schlicht Gast zu sein und »weder lüstern angeschielt noch widerstrebend geehrt zu werden« (Anderson).

Die 50 Jahre alte Anthologie ist erschreckend aktuell: Doppelbelastung arbeitender Frauen (Kirsch), sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz (de Bruyn), Femizid (Anderson) – ­alles Phänomene der Gegenwart. Geplagt von aufkommender Gefühlskälte und Gleichgültigkeit will Wolfs Figur zurück ins alte Geschlecht. Aber nicht, ohne vorher den Männern, die Wirtschaft, Wissenschaft und Weltpolitik für sich reklamieren, klarzumachen, »dass die Unternehmungen, in die ihr euch verliert, euer Glück nicht sein können und dass wir ein Recht auf Widerstand haben, wenn ihr uns in sie hineinziehen wollt«. Spätestens hier kommt einem die von Autokraten und Rechts­libertären in Brand gesetzte gegenwärtige Welt in den Sinn.


Buchcover

Edith Anderson (Hg.): Blitz aus heiterm Himmel. Erzählungen. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024, 300 Seiten, 48 Euro