Haftbefehl für den Präsidenten
Ein Hauptmerkmal eines sich verstärkenden Autoritarismus in formal demokratisch regierten Ländern ist, dass sich führende Politiker nicht mehr an Entscheidungen der Judikative gebunden sehen. Führt dies schon in den etablierten Demokratien westlicher Länder zu politischen Konflikten, so hat das in fragileren Staaten das Potential zu grundstürzenden Staatskrisen – so zu beobachten derzeit in Bosnien-Herzegowina, einem Staat, dessen äußerst komplizierte Konstruktion die Folge eines verheerenden Kriegs ist und in dem immer noch Angst vor einem neuen Kriegsausbruch herrscht.
Am 12. März erließ die bosnische Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen Milorad Dodik, den Präsidenten der serbischen Teilrepublik Republika Srpska (RS), sowie gegen deren Ministerpräsident Radovan Višković und Parlamentssprecher Nenad Stevandić wegen verfassungsfeindlichen Verhaltens.
Präsident Dodik kündigte die Aufstellung einer eigenen bosnisch-serbischen Grenzpolizei an, was die Durchsetzung des Haftbefehls durch gesamtstaatliche Polizeiorgane erschweren würde.
Nach dem Bosnien-Krieg, der ab 1992 drei Jahre lang – vereinfacht gesagt – zwischen der Republik Bosnien und Herzegowina und der Kroatischen Republik Herceg-Bosna sowie der von Serbien versorgten Republika Srpska geführt wurde, war Dodik zum starken Mann in der RS aufgestiegen. Seit Ende der neunziger Jahre wechselte er zwischen den Ämtern des Ministerpräsidenten und des Präsidenten sowie dem des serbischen Repräsentanten im Präsidium des Gesamtstaats hin und her. Zudem kontrolliert sein engstes Umfeld die wichtigsten Wirtschaftsunternehmen in der RS.
Als Reaktion auf den Erlass des Haftbefehls ordnete Dodik an, dass Bewohner:innen der RS, die für Behörden des Gesamtstaats tätig sind, diese zu verlassen und ihren Dienst in den entsprechenden Organen der RS fortzusetzen hätten. Da diese Anordnung kaum befolgt wurde, drohte er in der vergangenen Woche mit der Enteignung von Bürger:innen der RS, die weiter für den Gesamtstaat tätig sind. Zudem kündigte er die Aufstellung einer eigenen Grenzpolizei an, was die Durchsetzung des Haftbefehls durch gesamtstaatliche Polizeiorgane erschweren würde.
Ausgangspunkt der Eskalation ist eine Gerichtsentscheidung vom 26. Februar. An diesem Tag verurteilte das Bundesgericht Bosnien-Herzegowinas Dodik zu einer Haftstrafe von einem Jahr und einem sechsjährigen Verbot der Ausübung politischer Ämter. Vorgeworfen wurde ihm, 2023 zwei Gesetze unterzeichnet zu haben, die bestimmten, dass Entscheidungen des bosnischen Verfassungsgerichts sowie des Hohen Repräsentanten in der RS nicht gälten.
Nato-Generalsekretär Mark Rutte war mehrfach in der Region
Das Amt des Hohen Repräsentanten ist ein mit dem Abkommen von Dayton 1995 geschaffenes, mit erheblichen Machtbefugnissen ausgestattetes internationales Kontrollorgan; ernannt wird er von einem Gremium der Vertreter von über 50 Staaten und internationalen Organisationen, in dem der EU ein hohes Gewicht zukommt. Der Hohe Repräsentant verfügt über umfassende legislative und exekutive Befugnisse und soll die Machtbalance zwischen Serben, Bosniern und Kroaten überwachen. Seit 2021 hat das Amt der deutsche CSU-Politiker Christian Schmidt inne.
Es sieht so aus, als ob es in der derzeitigen Situation nur zwei Optionen gäbe: Entweder wird der Haftbefehl gegen Dodik nicht vollzogen, was das Ende des Anspruchs des Gesamtstaats auf Kontrolle der Verhältnisse in der RS bedeuten würde, oder Dodik wird festgesetzt, womit das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen einhergeht. Auf internationaler Ebene wird befürchtet, dass Bosnien erneut zum Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen wird. In den vergangenen Wochen hielt sich Nato-Generalsekretär Mark Rutte wiederholt in der Region auf.
Bei einer Rede an der Universität Sarajevo am 10. März versprach er, dass die Nato der »Souveränität und territorialen Integrität Bosnien und Herzegowinas« fest verpflichtet sei. Die europäische Friedenstruppe Eufor stockte ihren Truppenbestand in Bosnien auf. Der türkische stellvertretende Außenminister Mehmet Kemal Bozay sagte in einem Fernsehinterview, in dem er den türkischen Anspruch betonte, die Entwicklung der Region mitzubestimmen, dass die »territoriale Integrität und Souveränität Bosniens außer Frage« stünden und dass die Türkei in dieser Angelegenheit fest an der Seite Bosniens stehe.
Forsches Auftreten Schmidts
Vieles spricht dafür, dass die derzeitige Krise in Bosnien-Herzegowina durch den Versuch Dodiks in den vergangenen zwei bis drei Jahren ausgelöst wurde, Veränderungen der internationalen Machtverhältnisse auszunutzen, um seine Position langfristig zu sichern. Dabei dürften die Entwicklung des Verhältnisses der EU zu Serbien und der Legitimationsverlust des Amts des Hohen Repräsentanten von herausragender Bedeutung sein. Die EU bemüht sich – interessiert vor allen an Zugang zu den dortigen Rohstofflagerstätten –, das Verhältnis zu Serbien zu verbessern. Das verschaffte der dortigen Regierung mehr Handlungsfreiheit in der Region. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić gehört zu den internationalen Unterstützern Dodiks.
Gleichzeitig führte das forsche Auftreten Schmidts, der gegenüber Einheimischen gern von oben herab poltert, dazu, dass sein Amt stark an Ansehen verloren hat. Die Krise der westlichen Dominanz im postjugoslawischen Raum dürfte für Dodiks Agieren eher bestimmend sein als seine guten Beziehungen zu Russland. Die Unterstützung aus dem Kreml beschränkt sich auf politische und symbolische Gesten.
Um genügend Kräfte für den Krieg in der Ukraine zur Verfügung zu haben, ist Russland gezwungen, seine militärische Präsenz in seinem strategischen Nahbereich im Kaukasus und in Zentralasien zu reduzieren. Eine derzeit oft als Bedrohung beschriebene russische militärische Unterstützung der bosnischen Serben, die zudem über keinen Transportkorridor nach Russland verfügen, ist unter diesen Bedingungen nur schwer vorstellbar – eine dauerhafte Lösung der derzeitigen Krise in Bosnien-Herzegowina allerdings auch.
Diese würde sowohl eine Entmachtung der ethnonationalistischen Rackets auf allen Seiten des geteilten Staats wie auch die Überwindung des nach dem Bosnien-Krieg geschaffenen politischen Systems erfordern. Denn dass es ein Straftatbestand ist, die Entscheidungen des Hohen Repräsentanten zu missachten – dessen sich Dodik schuldig gemacht hat –, ist mit der Vorstellung einer bosnisch-herzegowinischen Souveränität genauso wenig vereinbar wie Dodiks Herrschaft in der RS.