Verbot der Budapester Pride
Dürfen die das? Diese Frage muss sich in Ungarn niemand stellen, wenn wieder einmal ein Grundrecht eingeschränkt wird. Denn das regierende Parteienbündnis von Fidesz und christdemokratische KDNP hat seit 2010 eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Einkammerparlament. Es kann also die Verfassung für jedes repressive Gesetz anpassen, das die Grundrechte weiter einschränkt.
Am Dienstag vergangener Woche hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das faktisch die Pride-Parade in Budapest verbietet. Formell geht es um eine Ergänzung des Versammlungsgesetzes, der zufolge Versammlungen nicht gegen das 2021 eingeführte Kinderschutzgesetz verstoßen dürfen. Dieses verbietet es, Minderjährigen Informationen über nichtheterosexuelle Lebensweisen zugänglich zu machen. Zukünftig droht also Teilnehmern solcher Veranstaltungen wie der Pride ein Bußgeld bis zu 500 Euro. Zur Identifizierung soll Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt werden.
Zukünftig droht Teilnehmern der Pride ein Bußgeld bis zu 500 Euro. Zur Identifizierung soll Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt werden.
Weil das Gesetz einen gravierenden Einschnitt in die Demonstrationsfreiheit darstellt, wurde gleich auch noch eine Verfassungsänderung angekündigt. Das Recht der Kinder »auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihre angemessene körperliche, geistige und moralische Entwicklung notwendig sind«, soll dem neuen Verfassungszusatz zufolge ausdrücklich über allen anderen Grundrechten mit Ausnahme des Rechts auf Leben stehen. Die genauen Werte, nach denen Kinder erzogen werden sollen, stehen nicht in der Verfassung, die Fidesz und die KDNP 2012 mit ihrer Zweidrittelmehrheit verabschiedet hatten, doch christliche Bezüge ziehen sich durch die gesamte in Ungarn als Grundgesetz bezeichnete Verfassung.
Die interessante Frage lautet: Warum kommt gerade jetzt so ein Pride-Verbot? Dafür lassen sich zunächst einmal die öffentlichen Erklärungen heranziehen. Der Kanzleramtsminister Gergely Gulyás argumentierte bei einer vorangegangenen Pressekonferenz Ende Februar, der »gesunden Menschenverstand« verbiete es, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen, und fügte hinzu, dass Familienväter die betreffenden Stadtviertel an Pride-Tagen ohnehin meiden würden.
Orbán rechnet nun mit Wohlwollen der US-Regierung
Orbán stellte einen internationalen Zusammenhang her. Man hätte die Pride gerne schon früher verboten, doch marschierte der bis zum Regierungswechsel im Januar amtierende US-amerikanische Botschafter David Pressman bei der Budapester Pride vorneweg mit. Ein Verbot hätte wohl Ärger mit den USA bedeutet. In Zeiten von Donald Trumps Präsidentschaft, der ja seine ganz eigenen Feldzüge gegen die Rechte von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten führt, rechnet Orbán nun offenbar mit Wohlwollen der US-Regierung.
Innenpolitisch wirken Orbáns Provokationen üblicherweise einend auf sein Lager und fangen demoralisierte Anhänger, die aufgrund der durchwachsenen wirtschaftlichen Lage sonst von der Fahne gehen könnten, wieder ein. Und was könnte sich für die Aktivierung der national-christlichen Basis von Fidesz besser eignen als der »Schutz« von Kindern vor der Zurschaustellung von »Wokeness« und »westlicher Dekadenz«. So wurde denn auch der Verfassungszusatz von Fidesz mit den Worten kommentiert: »Die westliche Welt greift vermehrt Normen an, die bisher als selbstverständlich galten, insbesondere die Institution der Familie und die nationale Identität.«
Eine Familienpolitik, die sich am traditionellen Familienbild orientiert, ist schon lange ein Kernbestandteil der Politik von Fidesz. Derzeit stellt Orbáns Partei Frauen, die mindestens zwei Kinder geboren haben, ab Januar 2026 lebenslange Einkommenssteuerbefreiung in Aussicht, für Frauen mit drei Kindern soll dies bereits ab Oktober gelten.
Gegen die konservativen Herausforderer
Für Fidesz war es auch selten so wichtig und dringend wie jetzt, die eigene Wählerschaft zu einen und zu motivieren. Zwar steht die nächste Parlamentswahl erst 2026 an, doch zum ersten Mal in der 15jährigen ununterbrochenen Herrschaft Orbáns führt eine konkurrierende Partei in den Umfragen. Der Fidesz-Abtrünnige Péter Magyar erhält mit seiner Partei Tisza derzeit dem Umfrageinstitut Republikon zufolge 37 Prozent Zustimmung, während Fidesz mit 36 Prozent ganz knapp dahinter liegt. Im Januar lag der Vorsprung von Tisza sogar bei fünf Prozentpunkten. Die Mitte-links-Parteien, von den Sozialisten der MSZP bis hin zu den Liberalen von Momentum, schaffen jeweils nicht mehr als ein bis zwei Prozent.
Mit dem Pride-Verbot versucht Fidesz sehr wahrscheinlich, die konservativen Herausforderer von Magyars Tisza in die Bredouille zu bringen. Lobten sie das Anti-LGBT-Gesetz, würden sie die Mitte-links-Wähler verprellen, deren Sympathie sie bereits gewinnen konnten. Kritisieren sie das Gesetz, könnte es sie unzufriedene konservative Wähler kosten, die die Wertvorstellungen von Fidesz immer noch teilen, aber sich von der Tisza weniger Korruption und die Rückkehr zu einer liberalen Demokratie erhoffen, für die auch Fidesz ursprünglich eintrat.
Auch auf der Straße zeigt sich die Anziehungskraft von Tisza. Am 15. März, dem Nationalfeiertag, brachte die Partei eine beachtliche Demonstration in der Budapester Innenstadt zustande. Magyar selbst sprach von 100.000 Teilnehmern, die für den von ihm versprochenen Politikwechsel auf die Straßen gingen. Regierungsnahe Medien berichteten von knapp 12.000 Teilnehmern, internationale Medien hingegen von 50.000. Vielsagend ist, dass Orbáns Medien zu Orbáns eigener Kundgebung am Nationalfeiertag gar keine Teilnehmerzahl gemeldet haben. Man sprach nur von »sehr vielen«.