Der analoge Mann
»Andi, du kneifst schon wieder die Augen zusammen«, sagt Julia genervt. »Manchmal schielst du, wenn die Augen müde sind. Du brauchst jetzt endlich eine richtige Brille vom Optiker! Ich mache dir einen Termin.« Schon ruft sie an und verabredet einen in der nächsten Woche. Natürlich kommt sie auch mit, um die Brille auszusuchen. Sie wird mich am häufigsten mit Brille sehen, da soll sie ruhig mitentscheiden. Außerdem habe ich ja auch noch jede Brille von Julia ebenfalls mitausgesucht.
»Was für ein Problem haben Sie denn?«, fragt der Optiker. »Gar keins«, antworte ich ehrlich und bereue es sofort. Julia stößt mich an und rollt mit den Augen. Ich kann ja schlecht sagen: Sorry, meine Freundin hat mich hierher geschleppt, eigentlich war ich bisher ganz zufrieden mit meiner Lesebrille aus der Drogerie.
Was interessiert es mich, was auf der anderen Straßenseite auf dem Verkehrsschild steht? Ich bin doch kein Raubvogel.
Der Optiker guckt jedenfalls konsterniert und versucht es erneut: »Ja, was für eine Brille suchen Sie denn?« »Eine Lesebrille und eine normale Brille«, sage ich jetzt ebenfalls wahrheitsgemäß. »Also eine Nahbrille und eine Fernbrille«, korrigiert er. »Aber die Lesebrille ist wichtiger, die brauche ich zum Arbeiten«, setze ich jetzt schon wieder unnötigerweise hinzu. »Sonst kann ich eigentlich alles ganz gut sehen, außer Sachen, die weit weg sind, also auf der anderen Straßenseite. Sonst bin ich eigentlich ganz zufrieden.« »Na, das werden wir ja sehen«, antwortet er schnippisch. »Dann kommen sie doch mal mit zum Augentest.«
»Und das ist Ihre erste Brille? Wie alt sind Sie?« fragt der Mann, nachdem wir den Sehtest gemacht haben. »Im nächsten Monat werde ich 59«, antworte ich. »Sie haben ja doch eine ganz erhebliche Hornhautverkrümmung. Womit haben Sie sich denn bisher beholfen? Einer Sehhilfe aus dem Supermarkt?« fragt er abfällig. Ich nicke. Und denke: Ging bisher auch ganz gut. »Eine Sehhilfe gleicht die Hornhautverkrümmung überhaupt nicht aus«, antwortet er. »Fahren Sie Auto?« »Nein, nur Fahrrad. Tagsüber sehe ich alles gut, nur Nachts wird es schwieriger.« »Im Straßenverkehr sollten Sie auf jeden Fall eine Brille tragen.«
Ich sage jetzt lieber nichts. Vielleicht sehe ich ja demnächst durch die richtige, individuell angepasste Brille wirklich noch besser. Und vielleicht muss ich auch, um dahin zu kommen, die jetzt völlig unverhohlene Missachtung des Optikers hinnehmen. »Haben Sie sich denn schon Fassungen für die Brillen ausgesucht?« leitet er jetzt zum Geschäftlichen über. »Haben wir schon, als wir hereinkamen«, sagt Julia. Wir setzen uns an ein kleines Tischchen mit Spiegel, um die Gestelle noch einmal auszuprobieren. Für meine ersten richtigen Brillen habe ich die Modelle im Laden gewählt, die am meisten old school sind.
Zum ersten Mal sehe ich alles sehr scharf
Dann versucht der Verkäufer, mir eine Gleitsichtbrille, selbsttönende Brillengläser und eine Versicherung anzudrehen. Ich lehne alles ab. »Tja, dann sind das«, rechnet er zusammen, »70 für die Fassung, 56,25 für das rechte Glas und 56,25 für das linke Glas. Macht zusammen 182 Euro und 50 Cent. Für Fern- und Nahbrille mal zwei macht das 365 Euro. Mit Brillenversicherung?« Wir lehnen wieder ab, machen eine Anzahlung und verabschieden uns.
Eine Woche später hole ich meine Brillen ab. Die Sonne scheint, als ich mit meiner neuen Fernbrille auf dem Fahrrad nach Hause fahre. Ich sehe plötzlich zum ersten Mal alles sehr scharf, kann auch die Schilder auf der anderen Straßenseite erkennen. Ein günstiger Nebeneffekt: Weil die Gläser vor Wind schützen, tränen meine Augen nicht.
Am folgenden Abend fahre ich fröhlich mit meiner neuen Fernbrille zum Tanzen und Platten auflegen. Plötzlich sehe ich den Raum der »Villa Neukölln« und alle Leute darin bis hinten glasklar. Während ich tanze, denke ich zufrieden: So eine Brille ist ein schönes neues Accessoire – bis mir der Schweiß über die Wangen und unter die Brille läuft und ich sie wieder absetze. Im Durcheinander des Hantierens mit Schallplatten im Halbdunkel kann ich schließlich keinen Unterschied zwischen meiner neuen Nahbrille und der Sehhilfe aus der Drogerie erkennen. Auf der Fahrt nach Hause habe ich bereits komplett vergessen, das ich jetzt eine Fernbrille habe.
Fazit: Die neue Lesebrille ist super, um zu Hause zu Arbeiten. Zum Auflegen nehme ich zukünftig lieber die billige Brille für fünf Euro. Die kann auch gern kaputtgehen. Die neue Fernbrille brauche ich gar nicht. Was interessiert es mich, was auf der anderen Straßenseite auf dem Verkehrsschild steht? Ich bin doch kein Raubvogel. Bevor es HD gab, haben Menschen mit Freude ferngesehen, ohne das Gefühl eines Defizits zu haben. Als analoger Mann kann ich auf HD verzichten.