Der analoge Mann
Am Freitagmorgen sitzen Julia und ich im Zug. Die Urban Sketchers Nürnberg haben zum Meet-up geladen. Wir sitzen gemütlich am reservierten Tisch (immer reservieren!) und zeichnen.
In Halle steigt eine Gruppe Männer ein und setzt sich an den Tisch neben uns. So wie wir unsere Zeichenmaterialien auspacken, holen sie sofort ihre Bierflaschen aus den Taschen. Morgens um acht Uhr.
»Frei, stolz, Germane, unbeugsam«
Es sind richtige, normale Männer, ohne Frauen. Sächselnd erzählen sie sich bis Bamberg irgend einen Stuss, zum Glück nicht sehr laut, ich höre kaum hin. Während ich Julia zeichne, kommen mir diese Männer vor wie Kinder, für die es nichts Schöneres gibt, als morgens schon zu saufen. Als sie ausgestiegen sind, zeigt Julia mir, wie sie diese Typen gezeichnet hat. Einer mit hochroten Kopf, der daneben im T-Shirt, auf dem steht: »frei, stolz, Germane, unbeugsam«.
In Nürnberg angekommen, gehen wir gleich zu unserem Hotel in der Nähe des Bahnhofs und geben unseren Koffer ab. Der erste Treffpunkt der Urban Sketcher ist vor dem Albrecht-Dürer-Haus, wo bereits Hunderte von Leuten sitzen, um in der Nachmittagssonne den ersten Aperol oder ein Bier zu genießen. Wir begrüßen die anderen Zeichnerinnen und Zeichner und packen unsere Skizzenbücher aus.
Die Potsdamer Urban-Sketcher-Sektion darf eine Gewinnerin des ersten Sketch-Walk küren: ein expressionistisches Wimmelbild des Platzes.
Um 18 Uhr ist der erste Throw-down, also das gemeinsame Betrachten der auf dem Boden liegenden fertigen Werke. Zur Überraschung der Nürnberger Veranstalterinnen sind rund 150 Leute zum Meet-up gekommen, viel mehr als erwartet. Die drängeln sich jetzt in einer langen Reihe, um einen Blick auf die verschiedenen Skizzenbücher zu erhaschen. Die Potsdamer Urban-Sketcher-Sektion darf sogar eine Gewinnerin des ersten Sketch-Walk küren: ein expressionistisches Wimmelbild des Platzes.
Anschließend geht es in einer kleinen Gruppe zum Essen. Die Gelegenheit, mal die regionale Küche zu probieren. In Berlin ist einheimische Kost etwas Exotisches, hier in der Altstadt die Regel. Im »Goldenen Posthorn« essen wir eine Postillonspfanne: geröstete Knödel, Geflügel- und Schweinefleisch, grüne Bohnen, Speckwürfel, garniert mit einem Spiegelei obendrauf. Dazu ein rotes Bier. Krass!
Am nächsten Morgen: Start des ersten Sketch-Walks um zehn Uhr vor dem Königstorturm, gegenüber vom Hauptbahnhof. Im vorigen Jahr habe ich genau hier mit der Jungle World-Crew gesessen, auf der Rückreise von Marseille – weil uns die Polizei mit unserem Bier vom Bahnhofsvorplatz vertrieben hatte.
HSV-Fans, Nürnberger Rotlichtviertel, ein Fentanylabhängiger
Jetzt zeichne ich die inszenierte Fachwerkkulisse hinter der mittelalterlichen Stadtmauer samt Touristen und angereister HSV-Fans. Am Abend verliert Nürnberg gegen Hamburg 3:0.
Mittags sind wir müde und gehen zurück ins Hotel, das sich, wie wir jetzt feststellen, im Nürnberger Rotlichtviertel befindet. In den Häusern entlang der Stadtmauer sitzen Prostituierte in Schaufenstern. Ein vornübergebeugter Fentanylabhängiger ergänzt das traurige Bild im Schatten der Fachwerkhäuser. Stundenhotels werben mit Zimmervermietungen für 30 Euro.
»Ach, deshalb heißt das hier Frauentorgraben«, sagt Julia. »Schade, dass wir nicht hier zeichnen können, statt immerzu diese alten Häuser. Das hier wäre mal echtes Urban Sketching.«