Bis die Gewalt ein Ende nimmt
Nach gerade mal drei Wochen bricht die britische Fernsehserie »Adolescence« bereits Rekorde. Fast 100 Millionen Mal wurde sie bislang auf Netflix abgerufen. Die vierteilige Miniserie erzählt die Geschichte eines 13jährigen, der verdächtigt wird, seine Schulkameradin ermordet zu haben, nachdem diese mit ihm nicht auf ein Date gehen wollte. Frauenhass und Männlichkeitsbilder sind die zentralen Themen der Serie, die dem Problem der Gewalt gegen Frauen und Mädchen mehr öffentliches Interesse verschafft hat. In Großbritannien wird sogar überlegt, die Serie im Schulunterricht zu zeigen.
Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema täte auch der deutschen Debatte gut. Am Mittwoch vergangener Woche hat die geschäftsführende Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2024 vorgestellt. Zwar zeigt die Statistik einen Rückgang der Gesamtkriminalität, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist hingegen angestiegen. Bei Vergewaltigungen, sexueller Nötigung und bei sexuellen Übergriffen verzeichnet die Statistik eine Zunahme um mehr als neun Prozent.
Andere Zählungen bestätigen diesen Trend. Bereits im ersten Lagebild »Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten«, das Faeser im November vorgestellt hat, zeigte sich ein Anstieg der Straf- und Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen in allen Bereichen: versuchte und vollendete Femizide (2022: 929, 2023: 938), Sexualstraftaten (2022: 49.284, 2023: 52.330), digitale Gewalt (2022: 13.749, 2023: 17.193), häusliche Gewalt (2022: 171.076, 2023: 180.715), Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (2022: 553, 2023: 591).
»Wir bilden das gesamte Kollegium an der Grundschule fort, so dass sie alle Anzeichen von häuslicher Gewalt erkennen können.« Nua Ursprung, Referentin der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen
Dem Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben zufolge haben 25 Prozent aller Frauen körperliche oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft erlebt. Eine Studie von Plan International von 2023 ergab, dass jeder dritte junge Mann Gewalt gegen Frauen »okay« findet, etwa wenn »ihnen bei einem Streit mit ihrer Partnerin gelegentlich die Hand ausrutscht«.
Am 31. Januar hat der Bundestag endlich das Gewalthilfegesetz verabschiedet, welches einen kostenfreien Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für von Partnerschaftsgewalt betroffene Frauen gesetzlich festschreibt. Die Verwirklichung dieses Anspruchs steht dabei noch auf einem anderen Blatt. Das Gesetz verfolgt zudem das Ziel, präventiv Partnerschaftsgewalt zu verhindern.
Eines der Hilfsangebote, die dazu beitragen sollen, ist das Projekt »BIG Prävention« von der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG), das sich an Kinder an Berliner Grundschulen richtet. Es ist deutschlandweit das einzige seiner Art. »Das Konzept ist ein ganzheitlicher Ansatz. Das heißt, dass wir nicht nur mit den Kindern arbeiten, sondern auch mit allen Erwachsenen«, berichtet Nua Ursprung, Referentin der BIG, der Jungle World. »Das bedeutet, dass wir das gesamte Kollegium an der Grundschule fortbilden, so dass sie alle Anzeichen von häuslicher Gewalt erkennen können.« Den Kindern wird dabei vermittelt, dass und wo sie Hilfe bekommen können, wenn sie betroffen sind. Häufig, so Ursprung, würden die sich schon in den Workshops öffnen, so dass man früh intervenieren und die Kontinuität der Gewaltausübung durchbrechen könne.
»Täterarbeit ist keine Therapie«
Die Anzahl von Kindern oder Jugendlichen, bei denen Jugendämter eine Kindeswohlgefährdung feststellten, stieg 2023 im Vergleich zum Vorjahr um min- destens zwei Prozent auf 63.700 an. Allerdings fehlen bei der Zählung Daten aus mehreren Jugendämtern. Das Statistische Bundesamt geht deshalb von einem tatsächlichen Anstieg um bis zu acht Prozent auf 67.300 Fälle aus. In 73 Prozent der Fälle ging die Gewalt von einem Elternteil aus. Dementsprechend wichtig sind Schulen als geschützter Raum, in dem der Kontakt zu den Kindern aufgebaut werden kann.
Ein anderer Ansatz bei der Prävention ist die Arbeit mit den Tätern. Dazu sprach die Jungle World mit Mario Stahr von der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt (BAG Täterarbeit), dem Dachverband von Täterarbeitseinrichtungen in Deutschland. Täterprogramme finden hier in 25 verbindlichen Gruppensitzungen statt. »Wir behandeln mit den Männern, welche Gewaltformen es gibt«, so Stahr. Es sind nicht nur körperliche und sexuelle Gewalt, die Frauen und Mädchen erleiden, sondern auch psychische, soziale und ökonomische.
Partnerschaftsgewalt ist Stahr zufolge ein Kreislauf; »wenn man ihn nicht unterbricht«. »Wir arbeiten mit den Männern an ihren Taten«, aber auch »Geschlechter- und Rollenbilder, Kommunikations- und Konfliktverhalten, eigene Gewalterfahrung und natürlich ihr Verhältnis zu den eigenen Kindern sind Themen.« Eine Erfolgsquote anzugeben, sei schwierig. Die Programme seien dann erfolgreich, »wenn jemand den ganzen Kurs über dabeibleibt und für sich geklärt hat, wie es bei ihm zur Eskalation kommt, warum er immer wieder gewalttätig wird, wie er vorher aussteigt und wie er empathischer mit anderen sein kann.« Gespräche könnten zwar durchaus therapeutisch wirken, aber Stahr gibt zu bedenken: »Täterarbeit ist keine Therapie. Wir haben nicht die Zeit, die Familiengeschichte der Täter aufzuarbeiten.«
Verdrängungsleistungen und Projektionen der Täter
Gewalt gegen Frauen entspringt primär keinem rationalen Kalkül, sondern hat ihren Ursprung unter anderem in Verdrängungsleistungen und Projektionen der Täter. Das Bedürfnis nach Nähe etwa kann Abhängigkeitsängste wecken, die dem Unabhängigkeitsstreben entgegenstehen, das eine zentrale Rolle in Männlichkeitsbildern spielt. Wird das Bedürfnis verdrängt, weil es eine Kränkung der Männlichkeit bedeutet, kann das zu Aggressionen beim Mann führen. Die richten sich dann bei Gewaltausbrüchen gegen die Frau, welche als Schuldige für das eigene Dilemma imaginiert wird.
Um dem Fehlverhalten des Mannes auf den Grund zu gehen, kann eine psychoanalytisch orientierte Therapie helfen. Der Meinung ist auch Stahr. Die intellektuelle Einsicht, dass Geschlechterstereotype und möglicherweise die eigene konfliktbehaftete Kindheit eines Täters seine Gewaltakte begünstigen oder in Teilen erklären können, ist wichtig, ersetzt jedoch nicht die Einsicht in die eigenen unbewussten Anteile am Frauenhass. Präventionsgruppen, Freundeskreise oder Politgruppen stoßen hierbei notgedrungen an ihre Grenzen.
Trotzdem sind Täterprogramme wichtig. Sie geben Instrumente an die Hand, mit denen Gewalteskalationen situativ unterbunden werden können. Außerdem dürfte ein Mindestmaß an Affektkontrolle überhaupt erst eine Voraussetzung für ein psychoanalytisches Therapieverfahren sein, und genau dieses wird in den Projekten zu vermitteln versucht.
»Falsches« Männlichkeitsbild
Wie so häufig fehle es, so Stahr, bei Täterprogrammen an einer gesicherten Finanzierung, wie es die Istanbul-Konvention, das von Deutschland unterzeichnete »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«, vorsieht. Zudem müssten Gerichte und Staatsanwaltschaften geschult und sogenannte Fallkonferenzen ausgebaut werden. Fallkonferenzen sind ein effektives Verfahren, um das Risiko von Tötungsdelikten zu reduzieren. Ist eine Frau von Gewalt bedroht, tauschen sich in diesem Verfahren alle damit betrauten Stellen, wie etwa Frauenschutzprojekte, Justiz, Polizei und eventuell auch Jugendämter, untereinander über den konkreten Fall aus, um das Risiko einzuschätzen und die bedrohte Frau sowie potentielle weitere Opfer zu schützen.
Auf die Frage, was die Täter eint, antwortet Stahr: »Sie haben alle keinen gesunden Umgang mit Konflikten und den eigenen Emotionen gelernt, leben sehr konservative Geschlechterrollen und haben gelernt, dass sie sich typisch männlich verhalten müssen.« Männlichkeit scheint ohnehin das Stichwort der Stunde zu sein. Auch in der Serie »Adolescence« wird ein »falsches« Männlichkeitsbild thematisiert.
Vor fünf Jahren wollte die Kampagne »Männlichkeit entscheidest du« mit Männern an ihren »veralteten Männlichkeitsbildern« arbeiten und stattdessen eine »positive Männlichkeit« propagieren. Eine Männlichkeit, die sich als »stark, potent und mächtig« versteht, galt demnach als »toxisch« und als Wurzel körperlicher Gewalt gegen Frauen.
Geht es um eine positive Neubesetzung von Männlichkeit, werden häufig Eigenschaften wie Empathie, Respekt und Sensibilität genannt; also genau jene Qualitäten, die stereotyp Frauen zugesprochen werden.
Die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Männlichkeit geht allerdings nicht auf, denn die Wurzel männlicher Gewalt ist nicht ein falscher Männlichkeitsentwurf, sondern die gesellschaftliche Vorstellung von Männlichkeit überhaupt. Geht es um eine positive Neubesetzung von Männlichkeit, werden häufig Eigenschaften wie Empathie, Respekt und Sensibilität genannt; also genau jene Qualitäten, die stereotyp Frauen zugesprochen werden.
Wenn aber diese Charaktereigenschaften sowohl für Frauen als auch für Männer gesellschaftlich erstrebenswert sein sollen, wird es obsolet, sie überhaupt zu vergeschlechtlichen. Dann braucht es keine »positive Männlichkeit«, sondern einfach Männer, die sich menschlich verhalten. Die Idee von Männlichkeit beinhaltet an sich schon eine Überlegenheit über die Frau und einen Unabhängigkeitsanspruch, dem keine Lebensrealität standhalten kann. Männer können gar nicht alle Anforderungen der Männlichkeit erfüllen und gleichzeitig mündige und psychisch gesunde Subjekte sein.