10.04.2025
Wolfgang Kraushaar, Politologe, im Gespräch über die Debatte nach dem 7. Oktober

»Man sollte immer auch ein Auge auf transgenerationelle Prozesse werfen«

Das Ausmaß antisemitischer Manifestationen an deutschen Universitäten nach dem 7. Oktober übersteige jenes zu Zeiten der Achtundsechzigerbewegung bei weitem: Wolfgang Kraushaar über die Kontinuitäten des Israel-Hasses in der Linken, die Begriffsverwirrung in der Debatte über den Gaza-Krieg und das Fehlen einer Friedensperspektive in der Regierung unter Benjamin Netanyahu.

Wenige Monate nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben Sie das Buch »Israel: Hamas – Gaza – Palästina. Über einen scheinbar unlösbaren Konflikt« veröffentlicht. Die Bilder vom Gaza-Krieg, konstatieren Sie, haben zu »einem Aufflammen des Antisemitismus und zu Debatten geführt, die von einer Begriffsverwirrung erheblichen Ausmaßes gezeichnet sind«. Ihr Buch versucht, Begriffe wie Apartheid, Genozid, Nakba oder Postkolonialismus zu klären, überlässt dem Leser aber das Urteil.
Mir kam es vor allem darauf an, eine möglichst ausgeprägte Sicherheit im Umgang mit überall benutzten Begriffen zu ermöglichen, damit der Zugang zum ohnehin verminten Themenkomplex Nahostkonflikt nicht noch durch diffuse Termini weiter erschwert wird. Beispielweise geht es in dem Buch um eine Klärung des Begriffs Genozid, der aus dem Völkerrecht stammt und immer wieder völlig willkürlich angewendet wird – erst recht in Hinsicht darauf, wie Israel gegenüber den Palästinensern agiert. Und natürlich, wie könnte es anders sein, geht es auch um den weltanschaulichen Begriff des Zionismus.

Ihr Buch ist schmal, führt aber weit in die Vergangenheit zurück. muss man die letzten 3.000 Jahre im Blick haben, um den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zu verstehen?
Das kann man natürlich nicht einfach einklagen, es ist in einem aktuellen Konflikt vielleicht auch nicht unbedingt zu erwarten. Aber eines ist sicher: Um begreifen zu können, wie Israel als Staat auf das Massaker vom 7. Oktober reagiert hat, muss man sich zumindest um ein Verständnis der Geschichte des Zionismus bemühen. In dieser spielt eine bestimmte Variante eine besondere Rolle – die des revisionistischen ­Zionismus.
Begründet worden war sie von Wladimir Jabotinsky. Dieser Mann, geboren 1880 in Odessa und 1940 in den USA verstorben, war vor einem Jahrhundert ein Gegner des zionistischen Mainstreams. Er glaubte, sich bei seiner Rückbesinnung auf keinen Geringeren als Theodor Herzl berufen zu können. Jabotinsky war für den Vater von Benjamin Netan­yahu, einen radikalen Nationalisten, aber auch für ihn selber und seine beiden Brüder die ideologisch ausschlaggebende Leitfigur. Bei ­Jabotinsky ging es von Anfang an dar­um, dass man sich seine Gegnerschaft zu den Palästinensern auf die Fahnen schreibt und an ihr unter ­allen Umständen festhält.
Aus dieser Einstellung resultiert ein riesiges Problem der gegenwärtigen Nahost-Auseinandersetzung: Es gibt von Seiten des israelischen Ministerpräsidenten nicht nur keinen Vorschlag für irgendeine politische Lösung des aktuellen Konflikts, er versucht sogar, jeglichen Kontakt zur Palästinensischen Autonomie­behörde zu sabotieren. Dass sich so etwas mit der Hamas prinzipiell ausschließt, ist ohnehin klar. Aber mit wem sollte er sonst den Konflikt befrieden?

Was verallgemeinernd als Zionismus verurteilt wird, trifft eigentlich allein auf Benjamin Netanyahu zu?
Nein, es trifft auf Netanyahu und Teile seines Kabinetts zu, aber nicht auf Israel als Ganzes. Nehmen Sie David Ben-Gurion, der lange vor Netanyahu, seit der Gründung des Staates Israel, für die längste Zeit das Amt des Ministerpräsidenten innehatte – er war ein linker Zionist, während Netanyahu im Gegensatz dazu ein nationalistischer, rechter Zionist ist. Wir haben ja bei dem Verfassungsstreit vor dem 7. Oktober erlebt, dass die israelische Gesellschaft in dieser Hinsicht zwischen zwei politisch völlig verschiedenen Lagern gespalten ist. Weswegen man bei der Verwendung des Begriffs Zionismus falsche Eindeutigkeiten tunlichst vermeiden sollte.

Der Sechstagekrieg von 1967 scheint in vieler Hinsicht eine tiefgreifende Zäsur gewesen zu sein. Bei der deutschen Linken etwa sorgte er dafür, dass bis dahin vorhandene Sympathien für den Staat Israel zum großen Teil verlorengingen. Auch linker Anti­semitismus war in jener Zeit vermehrt zu bemerken. Links zu sein, bedeutet doch, den Gedanken der Aufklärung zu vertreten, dass alle Menschen gleich sind – womit eigentlich jedem Rassismus und Antisemitismus der Boden entzogen sein sollte. Wieso waren die deutschen Linken der Achtundsechziger-Zeit so anfällig für Antisemitismus?
Das Phänomen, das man als linken Antisemitismus bezeichnet, trat nicht auf einen Schlag in Erscheinung. Entscheidend war zunächst einmal der Sieg Israels über Ägypten und die anderen beteiligten arabischen Staaten im Sechstagekrieg. Die wichtigste Organisation in der damaligen Studentenbewegung ist der SDS ­gewesen, der Sozialistische Deutsche Studentenbund. Im September 1967 war auf dessen Bundesdelegiertenkonferenz ein Antrag bezüglich des Nahostkonflikts gestellt worden. ­Israel, lautete die Argumentation, sei nichts anderes als ein vorgeschobener Posten des US-Imperialismus. Deswegen müsse man nun Israel als die vorderste Frontlinie der aggres­siven imperialistischen US-Politik auch im Nahen Osten stoppen. Derjenige allerdings, der verhindert hat, dass über dieses Papier überhaupt abgestimmt wurde, war kein Geringerer als Rudi Dutschke; er wollte nicht, dass der gesamte SDS diese Position übernahm.

Dieter Kunzelmann mit seiner Freundin Ingrid Siepmann auf einer Antikriegsdemonstration, Plakat mit der Aufschrift »Nieder mit der Aggression in Vietnam und im Nahen Osten, arabische Studenten vereinigt euch!«

Dieter Kunzelmann mit seiner Freundin Ingrid Siepmann auf einer Antikriegsdemonstration. Das Plakat mit der Aufschrift »Nieder mit der Aggression in Vietnam und im Nahen Osten, arabische Studenten vereinigt euch!« nimmt Bezug auf die Behandlung iranischer Studenten in Deutschland, die sich während des Schah-Besuchs täglich bei der Polizei zu melden hatten. Oppositionelle iranische Studenten waren gut organisiert, was radikale Linke nun auch von den arabischen Studenten erwarteten.

Bild:
picture alliance / SZ Photo / Thomas Hesterberg [bearbeitet]

Unabhängig von dieser nicht zustande gekommenen Abstimmung ist es damals so gewesen, dass seitens der bundesdeutschen Linken aus proisraelisch eingestellten Unterstützern vielfach propalästinensische wurden. Diese gründeten nicht nur Palästina-Komitees, sondern waren sogar auch bereit, sich an bestimmten militanten Aktionen für die in ihren Augen Unterdrückten zu beteiligen. Im Frühsommer 1969 kam es dann in Berlin-Charlottenburg zu Anschlägen auf Restaurants, Bars und Kneipen, deren Besitzer Israelis waren. Diejenigen, die so etwas zum Programm erhoben hatten, dürften die Vorhut der späteren Tupamaros West-Berlin gewesen sein. Deren Anführer war der Begründer der legendären Kommune I: Dieter Kunzelmann.
Die Kerngruppe der Tupamaros hatte sich im Herbst 1969 in Jordanien in einem Trainingslager der Fatah ausbilden lassen. Wieder zurück, versuchten sie dann als Erstes, einen Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße zu verüben – und das ausgerechnet am 31. Jahrestag des Novemberpogroms von 1938. Einer der Tupamaros war mit einem unter seinem Mantel verborgenen Sprengsatz auf eine von 150 Repräsentanten des öffentlichen Lebens besuchten Gedenkveranstaltung gegangen und hatte diese Bombe dann mit einem Zeitzünder in einem Coca-Cola-Automaten deponiert. Sie ist aber nicht explodiert.

»Niemand ging auf Marcuses Israel-Vorstoß ein, auch Rudi Dutschke nicht; man hat das Thema einfach zu ignorieren versucht. Stattdessen sprach man lieber über die Dritte Welt, den Vietnam-Krieg und anderes mehr.«

Wie sich später herausstellte, stammte sie vom Berliner Landesamt für Verfassungsschutz. Ein Under­cover-Agent namens Peter Urbach hatte dafür gesorgt, dass Schusswaffen und solche Sprengkörper unter besonders radikal eingestellten Linken verbreitet worden sind. Ein der­artiger Vorfall war ein Indiz dafür, dass es von nun an einen terroristisch zugespitzten linken Antisemitismus gab – bereits ein halbes Jahr vor Gründung der RAF! Mit anderen Worten, das ganze für die westdeutsche Linke so verhängnisvolle Kapitel »bewaffneter Kampf« ist von Anfang an antiisraelisch und antisemitisch aufge­laden gewesen.

Im Buch erzählen Sie von Herbert Marcuse, der im Juli 1967 einen Vortrag an der Freien Universität (FU) Berlin hält. Darin betont Marcuse, der aus einer jüdischen Familie stammte und von den Nazis mit dem Tod bedroht worden war, seine Solidarität mit ­Israel, bezeichnet das Land als Zufluchtsort für alle Juden auf der Welt, sollte es wo auch immer zu gewalttätigem Antisemitismus kommen. Offensiver noch hat Jean Améry dies in seinen Abrechnungen mit den Achtundsechzigern zum Ausdruck gebracht. ­Warum verhallten die Stimmen jüdisch-deutscher Intellektueller, welche für die politische Entwicklung der Studentenbewegung doch maßgeblich waren, beim Thema Israel ungehört?
Marcuse wurde von der studentischen Linken ja geradezu vergöttert. Mit »Der eindimensionale Mensch« hatte er das maßgebliche Buch zur Ana­lyse dessen vorgelegt, was man damals als »Spätkapitalismus« bezeichnete. Und im Juni 1967 hielt er im Auditorium Maximum der FU Berlin Vorträge über das »Ende der Utopie«. In einer der anschließenden Diskussionen forderte er dazu auf, dass man sich mit dem Staat Israel im Angesicht von dessen Gefährdungen solidarisieren müsse. Niemand ging auf Marcuses Israel-Vorstoß ein, auch Rudi Dutschke nicht; man hat das Thema einfach zu ignorieren versucht. Stattdessen sprach man lieber über die Dritte Welt, den Vietnam-Krieg und anderes mehr. Im Grunde war man innerhalb der Neuen Linken gespalten. Eine Minderheit nahm die Positionen von Marcuse oder Jean Améry ein, eine Mehrheit aber hatte sich damals bereits davon verabschiedet, sich mit Israel noch weiter solidarisieren zu wollen. Kurzum, es gab bei der Neuen Linken eine ausgeprägte Indifferenz gegenüber Israel und implizit wohl auch gegenüber dem Thema Antisemitismus.

In ihrem 2005 erschienenen Buch über den Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin im Jahr 1969 zitieren Sie einen aufschlussreichen Brief eines führenden linken Aktivisten von damals.
Er stammte von Dieter Kunzelmann. Eigentlich gab es ja zwei von ihm verfasste »Briefe aus Amman«, beide waren in Wahrheit in West-Berlin geschrieben worden. Kunzelmann wollte nicht nur den unter Linken verbreiteten »deutschen Schuldkomplex gegenüber Israel« endlich durchbrechen, sondern sie auch dazu bringen, Operationen der Palästinenser praktisch zu unterstützen und sogar in deren Namen Aktionen im eigenen Land durchzuführen, also als Guerillagruppe im Bündnis mit terroristischen Organisationen zu agieren. Zwar hat Kunzelmann sich mit dieser Position selbst in seinem eigenen linksradikalen Umfeld nicht wirklich durchsetzen können, doch diejenigen, die seiner Haltung nahestanden, sind tatsächlich in den ­Untergrund gegangen. Das betraf die Tupamaros West-Berlin und die RAF sowie später auch die Bewegung 2. Juni und die Revolutionären Zellen.

Viele Positionen und Argumentationsweisen heutiger Linker, auch akademischer Linker zum Israel-Palästina-Konflikt, scheinen in der Zeit um 1967 vorgezeichnet worden zu sein.
Das ist besonders in Reaktionen nach dem 7. Oktober deutlich geworden. Was sich in meinen Augen als besonders verräterisch erwiesen hat, ist die Tendenz, dass durch einseitig propalästinensischen Aktionen und Demonstrationen von Linken an der FU oder der Humboldt-Uni die Universitäten zu Foren der Hamas werden konnten. Obwohl die Ansätze für all das im Kontext von Achtundsechzig bereits vorhanden gewesen sind, hat es das an den damaligen Universitäten in dieser Massivität nicht gegeben.
Wenn man die damaligen Haltungen mancher Linker erklären will, muss man meines Erachtens die Psychologie mit heranziehen. Eine große Rolle spielt hierbei einerseits der wegen der Verbrechen der Nazi-Zeit erfolgte Schuldvorwurf an Deutschland; und zum anderen, dass Israel 1967 der militärische Sieger im Sechstagekrieg war. Damit stand Israel auf einmal in einem schlechten Licht da, konnte einseitig als Aggressor, Unterdrücker und Landräuber angeklagt werden. Psychologisch hat diese Wendung bei der Beurteilung Israels auf der Linken eine Art von Versöhnung mit der Elterngeneration, also den Tätern der NS-Zeit, ermöglicht. Was öffentlich natürlich niemand von ihnen eingeräumt hätte.

Das bekannte Foto der Bewohner der Kommune I entstand im Sommer 1967 nach den Protesten gegen den Besuch des Schah

Das bekannte Foto der Bewohner der Kommune I entstand im Sommer 1967 nach den Protesten gegen den Besuch des Schah. Auf dem Bild (v. l.): Dieter Kunzelmann, Gertrud Hemmer, Volker Gebbert, Dagmar Seehuber (oder Antje Krüger), Rainer Langhans, Dorothea Ridder, Ulrich Enzensberger, Hemmers Sohn. Aufge­nommen in der Wohnung der Kommune I in der Kaiser-Friedrich-Straße 54a am Stuttgarter Platz in Berlin.

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Findet das heute seine Fort­setzung?
Man sollte immer auch ein Auge auf transgenerationelle Prozesse werfen. Ein solcher Prozess ist, denke ich, auch ein Thema bei der heutigen Renaissance der Rechten bis hin zum Rechtsterrorismus. Schaut man sich etwa die Biographie von Björn Höcke genauer an, dann zeigt sich, dass die für ihn prägende Gestalt der Groß­vater gewesen ist, ein Vertriebener; aus dessen Werdegang und Denken schöpft Höcke. Solche während und nach der Hitler-Zeit eingenommenen Haltungen sind häufig nur unzureichend bearbeitet worden, Reste blieben immer vorhanden. Das heißt, da werden Einstellungen und Weltbilder weitergereicht. Wie in unter­irdisch angelegten Depots bleiben sie verfügbar und werden in bestimmten Situationen sozusagen wie Schläfer aufgeweckt, um einen emotional mächtigen Teil der eigenen Ideologie zu bilden.

In Ihrem Buch zum 7. Oktober schreiben Sie, dass der Aufstieg Benjamin Netanyahus und der­jenige der Hamas sich gegenseitig befördert hätten. Was sehen die Hardliner auf israelischer und palästinensischer Seite eigentlich als politischen Erfolg an?
Die Hamas ist ein Abkömmling der Muslimbruderschaft aus Ägypten. Seit ihrer Gründung 1987 hat die Hamas deutlich gemacht hat, dass ihr primäres Ziel in der Zerstörung des Staates Israel besteht – muslimisch-fundamentalistisch begründet. Auf der anderen Seite haben wir im ­israelischen Kabinett radikal religiöse Kräfte, vertreten durch Itamar Ben-Gvir, den Minister für nationale Sicherheit, und seinen Kompagnon, Finanzminister Bezalel Smotrich. ­Netanyahu hat, um seine Regierung überhaupt an der Macht halten zu können, immer wieder Rücksicht auf diese religiös eingestellten Kräfte nehmen müssen. Und denen ging es stets darum, das bereits im Westjordanland praktizierte Programm der Siedler nun auch im Gaza-Streifen durchzuführen, also die Palästinenser vollständig abzuräumen.

»Was sich in meinen Augen als besonders verräterisch erwiesen hat, ist die Tendenz, dass durch einseitig propalästinensischen Aktionen und Demonstrationen von Linken an der FU oder der Humboldt-Uni die Universitäten zu Foren der Hamas werden konnten.«

Das große Problem ist nun, dass es zwischen der fundamentalistisch ­religiösen Hamas und der fundamentalistisch religiös dominierten israelischen Regierung keine Kompromisslösungen geben kann. Jetzt hat die israelische Regierung mit US-Präsident Donald Trump aber eine Art Glücksbringer an der Seite, der ihre Vorstellungen teilt und angekündigt hat, dass der Gaza-Streifen von den USA übernommen werden solle. Ohne irgendeine Rücksicht auf die dort lebenden Palästinenser. Sie sollen sich »freiwillig« in ein anderes Land verfrachten lassen, fragt sich nur in welches. Alle arabischen Staaten haben sich strikt geweigert, auf diese Idee Trumps auch nur gesprächsweise einzugehen. Die Situation ist durch all das nur noch verfahrener geworden, als sie ohnehin schon ist.

An einer Stelle in Ihrem Buch warnen Sie mit Hannah Arendt, man solle an die Realpolitik bezüglich ihrer Möglichkeiten, Probleme zu lösen, keine zu hohen, schon gar keine utopischen Erwartungen knüpfen. Anschließend führen Sie aus, dass die Zweistaatenlösung, welche bis heute die Hoffnung beflügelt, den Israel-Paläs­tina-Konflikt friedlich beilegen zu können, nicht mehr realistisch sei. Stattdessen schlagen Sie die Einstaatenlösung vor, also einen gemeinsamen Staat von Israelis und Palästinensern. Ist das nicht der utopischste aller Lösungs­ansätze?
Das ist nicht allein meine Vorstellung, eine solche hatte bereits der Religionsphilosoph Martin Buber in den 1920er Jahren ins Spiel gebracht. Im Wesentlichen basiert sie auf der Idee, eine Art von Konföderation unter einem gemeinsamen Dach zu errichten. In diesem Zusammenhang sollte man vielleicht auch daran erinnern, dass über 20 Prozent der israelischen Staatsbürger arabischer, zumeist palästinensischer Herkunft sind. Dieser Teil der Bevölkerung, immerhin zwei von knapp zehn Millionen, hat während des Gaza-Kriegs mit all seinen fürchterlichen Konsequenzen keine wirklichen politischen Schwierigkeiten bereitet. Das Zusammen­leben hat funktioniert, irgendwie scheint es also doch noch Gemeinsamkeiten zu geben.
In meinen Augen ist die Zweistaatenlösung vor allem wegen der Lage im Westjordanland unrealistisch. Wir müssen inzwischen von 500.000 bis 700.000 dort lebenden israelischen Siedler ausgehen, die im Zuge einer sukzessiven Annexion immer mehr Gebäude errichtet und sie zum Teil zu wehrhaften Festungen umgebaut haben. Es erscheint irreal, das rückgängig machen und dort einen palästinensischen Staat aufbauen zu wollen. Vermutlich würde es zu einem Bürgerkrieg führen, wenn man die Siedler zwingen würde, sich wieder aus dem Westjordanland ­zurückzuziehen.
Schon aus diesem elementaren Grund wäre es besser, eine Einstaatenlösung zu favorisieren. Wobei das Etikett »Einstaatenlösung« auf den ersten Blick noch utopischer erscheinen mag. In Wirklichkeit geht es jedoch um ein gemeinsames staatliches Dach für Palästinenser und Israelis. Unter diesem Dach sollen konföderative Strukturen entwickelt werden, die es erlauben, auch die palästinensischen Bürgerinnen und Bürger als Rechtssubjekte anzuerkennen. Im Angesicht der prekären Situation im Gaza-Streifen halte ich diesen Vorschlag, so utopisch er beiden Konfliktparteien auch erscheinen mag, für überlegenswert und letzten Endes für machbarer als die früher unter Rabin und Arafat verfolgte Zweistaatenlösung.

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Wolfgang Kraushaar

Wolfgang Kraushaar

Bild:
www.wolfgang-kraushaar.com (Valeska Achenbach)

Info: Wolfgang Kraushaar, geboren 1948, arbeitete bis 2015 als Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung und forscht seitdem an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur über linke und rechte Protestbewegungen, die RAF und den internationalen Terrorismus. 2004 nahm er eine Gastprofessur an der Beijing Normal University wahr, zudem hatte er Lehraufträge an der Freien Universität Berlin sowie den Universitäten Hamburg und Zürich. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Achtundsechzigerbewegung und linkem Terror­ismus. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Die Protest-Chronik« (1996), »Frankfurter Schule und Studentenbewegung« (als Herausgeber, 1998), »Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus« (2010) und »Die 68er-Bewegung international« (2018). 2024 erschien sein Buch »Israel: Hamas, Gaza, Palästina: Über einen scheinbar unlösbaren Konflikt«.