Neue Rekruten für Putin
Kurz nach Feierabend schrillten am Freitag voriger Woche in der ukrainischen Großstadt Krywyj Rih die Sirenen. Wenige Minuten später schlug eine aus Russland abgefeuerte hochpräzise ballistische Iskander-Rakete mit Streusprengkopf mitten in einem Wohngebiet ein. Das russische Verteidigungsministerium sprach von einem Angriff auf ukrainische Kommandeure, die sich dort angeblich in einem Restaurant mit westlichen Instrukteuren getroffen hätten, und behauptete, man habe bis zu 85 feindliche Militärangehörige getötet. In dem Viertel, in dem die Rakete einschlug, gibt es allerdings nur ein einziges Restaurant, und in diesem fand am Freitag ein – zuvor online beworbenes – Treffen der Kosmetikbranche statt. Von den mindestens 18 Toten sind neun Kinder und Jugendliche.
Wenige Tage zuvor, am 1. April, hatte in Russland wie jedes Frühjahr die Einberufung zum regulären Wehrdienst begonnen. Die russische Armee, die Zivilisten in der Ukraine gezielt attackiert, benötigt dringend neue Rekruten. Bis Mitte Juli sollen insgesamt 160.000 junge Männer im Alter zwischen 18 und 30 Jahren einberufen werden. So hoch lag diese Zahl seit 2011 nicht mehr; damals wurden 203.000 Männer rekrutiert. Seit den zehner Jahren sank die Zahl, weil Russlands Führung immer mehr Berufssoldaten einsetzte, um die Abhängigkeit von den Wehrpflichten zu verringern.
Bis Mitte Juli sollen insgesamt 160.000 junge Männer im Alter zwischen 18 und 30 Jahren zum Wehrdienst einberufen werden. So hoch lag diese Zahl seit 2011 nicht mehr.
Wenn ein Musterungsbescheid ergeht – seit vergangenen November geschieht das über eine digitale Plattform –, gilt er innerhalb von sieben Tagen automatisch als zugestellt und den Adressaten ist die Ausreise aus Russland untersagt. Wer sich nach Erhalt eines Bescheids nicht beim zuständigen Militärkommissariat meldet, riskiert zunächst eine Geldbuße bis zu 300 Euro. Nach wiederholtem Fernbleiben kann eine Freiheitsstrafe verhängt werden.
Wer dem Militärdienst entgehen will, dem bleiben außer der Flucht ins Ausland nur wenige Optionen. Von Amts wegen die Dienstuntauglichkeit bescheinigt zu bekommen, ist sehr schwer, und im Zweifelsfall tendieren die Musterungskommissionen dazu, Wehrpflichtige als tauglich einzustufen. Zurückstellen lassen können sich Auszubildende oder Mitarbeiter im Staatsdienst. Studierende können sich bis zum Ende ihres Studiums zurückstellen lassen, allerdings haben die russischen Behörden seit Beginn der Vollinvasion der Ukraine den Druck auf Studierende merklich erhöht. So wird von ihnen verlangt, sich noch während des Studiums mustern zu lassen, im Gegenzug wird ihnen angeboten, vorzeitig Prüfungen abzulegen.
Nach wie vor gibt es auch die Möglichkeit, einen Antrag auf Zivildienst zu stellen. Hier leisten Organisationen wie »Appell an das Gewissen« Wehrpflichtigen wertvolle juristische Unterstützung. Auf deren Telegram-Kanal beraten Anwälte und Menschenrechtsexperten zum Thema Kriegsdienstverweigerung.
Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst
Zwar gibt es keine offiziellen Angaben über die Menge eingegangener und abgelehnter Anträge für den Zivildienst, das behördenübergreifende staatliche Statistiksystem Rosstat veröffentlicht aber die Zahl der Zivildienstleistenden. Im Frühjahr 2023 betrug diese 1.140, im Herbst dann 1.645, 2024 waren es 2.022, – prozentual eine beachtliche Steigerung, wenn auch absolut betrachtet eine verschwindend geringe Zahl. Dennoch gibt es derzeit nicht genug Stellen für Zivildienstleistende. Deren Pflichtzeit beträgt 21 Monate, während der reguläre Wehrdienst zwölf Monate dauert.
Wegen der hohen Verluste im Ukraine-Krieg beteuert das russische Verteidigungsministerium immer wieder, dass Wehrpflichtige bei den Kampfhandlungen nicht zum Einsatz kämen; rechtlich können Wehrpflichtige ohne Vertrag mit der Armee nicht zum Kampf außerhalb Russlands eingesetzt werden. In einer Erklärung des Ministeriums anlässlich der Frühjahrseinberufung heißt es, neue Rekruten würden nach ihrer Grundausbildung festen Truppenstützpunkten zugeteilt, nicht jedoch in die Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja beordert werden, die Russland annektiert hat, aber nicht vollständig kontrolliert.
Auch Andrej Kartapolow, der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der Duma, beschwichtigte besorgte Gemüter. »Zweifellos werden die Wehrpflichtigen nicht in das Gebiet der militärischen Spezialoperation geschickt«, sagte er der russischen Nachrichtenagentur Interfax.
Wehrpflichtige in ukrainischer Kriegsgefangenschaft
Dass sich es hier um ein äußerst sensibles Thema handelt, ist den Verantwortlichen klar. Im ersten Tschetschenien-Krieg Mitte der neunziger Jahre rief die Entsendung von Wehrpflichtigen in das Kriegsgebiet in der russischen Bevölkerung erhebliche Proteste hervor. Nach der vollumfänglichen Militärinvasion in die Ukraine im Februar 2022 gab es zwar Nachrichten über dort eingesetzte Wehrpflichtige, aber es handelte sich um Einzelfälle.
Unmittelbar nach Beginn der ukrainischen Besatzung des Kursker Gebietes waren zudem etliche Wehrpflichtige in ukrainische Kriegsgefangenschaft geraten. Sie waren in der Grenzregion als eine Art Wachschutz stationiert. Seit April 2023 dürfen Wehrpflichtige im Übrigen einen Vertrag mit der Armee unterzeichnen, ohne die Grundausbildung absolviert zu haben – dann ist ein Fronteinsatz ohne Einschränkung möglich. Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen junge Männer zu diesem Schritt genötigt werden.