Frauen in der Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung

Mehr Feminismus wagen. Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Marxistischen Arbeitswoche in Geraberg 1923. Sitzend (v. l.): Karl August Wittfogel, Rose Wittfogel, unbekannt, Christiane Sorge, Karl Korsch, Hedda Korsch, Käthe Weil, Margarete Lissauer, Béla Fogarasi, Gertrud Alexander. Stehend (v. l.): Hede Massing, Friedrich Pollock, Eduard Ludwig Alexander, Konstantin Zetkin, Georg Lukács, Julian Gumperz, Richard Sorge, Karl Alexander (Kind), Felix Weil, unbekannt (Fotocollage: Jungle World)
Auf dem Gruppenfoto des ersten Theorieseminars des IfS, das 1923 im Rahmen der sogenannten Marxistischen Arbeitswoche in Geraberg in Thüringen stattfand, sind zahlreiche Frauen zu sehen. In der bisherigen Literatur wurden sie in aller Regel, wenn überhaupt, nur als »Ehefrauen und Freundinnen« der anwesenden Wissenschaftler erwähnt. Willem van Reijen und Gunzelin Schmid Noerr veröffentlichten 1988 erstmals in »Grand Hotel Abgrund. Eine Photobiographie der Frankfurter Schule« kurze Biographien der abgebildeten Teilnehmerinnen. Das zentrale und immer wieder veröffentlichte Gruppenfoto der Marxistischen Arbeitswoche ist aber nur ein Beleg dafür, dass Frauen von Beginn an in die wissenschaftliche Arbeit des Frankfurter Instituts eingebunden waren. Im folgenden historiographischen Beitrag sollen einige dieser Frauen aus der Frühgeschichte des Instituts vorgestellt werden, wobei viele Sachverhalte nur angedeutet werden können. Ausführliche Einzelstudien über die Frauen, wie sie für viele der in Geraberg anwesenden Männer und die »großen Männer« der Frankfurter Schule bereits vorliegen, wären zweifelsohne wünschenswert.
Teilnehmer:innen der Marxistischen Arbeitswoche in Geraberg 1923 – Das Beispiel Margarete Lissauer
Nachweislich nahmen an Pfingsten 1923 sieben Frauen an der Marxistischen Arbeitswoche des sich in Gründung befindenden Instituts teil. Es handelte sich um die Schauspielerin und Mitarbeiterin des Berliner Malik-Verlages Hede Massing, die Pädagogin und Philosophin Hedda Korsch, die Journalistin, Politikerin und Kunstkritikerin Gertrud Alexander, die Diplom-Bibliothekarin Rose Wittfogel, die Pädagogin Käthe Weil, die Nationalökonomin Christiane Sorge und die Frauenrechtlerin und Philosophin Margarete Lissauer. Fünf der Frauen hatten eine akademische Ausbildung genossen, drei von ihnen hatten promoviert; sie gehörten zu den Pionierinnen des Frauenstudiums in Deutschland. Alle übrigen hatten Kurse an Universitäten besucht oder sich vielfältig weitergebildet und waren nachweislich zuvor in einem linksintellektuellen Umfeld aktiv. Die Frauen der Marxistischen Arbeitswoche hatten demnach zweifelsohne das Rüstzeug, sich aktiv an den Diskussionen zu beteiligen. Exemplarisch für die intellektuellen Biographien der Teilnehmer:innen, die ich an anderer Stelle bereits rekonstruiert habe und die eben dies belegen, möchte ich im Rahmen dieses Beitrags – wohlbemerkt neue – Erkenntnisse zu Margarete Lissauer vorstellen.
Margarete Lissauer war eine der promovierten Teilnehmerinnen der Marxistischen Arbeitswoche in Geraberg. Tatsächlich wurden die Lebensdaten zweier Frauenrechtlerinnen gleichen Namens in der Literatur allerdings oft verwechselt. Bei den beiden Frauen handelt es sich einerseits um die Frauenrechtlerin und Schwester des Schriftstellers Ernst Lissauer, Margarete Lissauer (verheiratete Weinberg), und andererseits um die Kommunistin und Frauenrechtlerin Margarete Lissauer (geborene Eisenberg) aus Leipzig. Zuletzt schrieb Philipp Lenhard in »Café Marx«, dass es sich auf dem Gruppenfoto aus Geraberg nur um die Schwester Ernst Lissauers handeln könne. Das ist jedoch anzuzweifeln. Denn Ernst Lissauers Schwester wurde 1876 geboren – das Geburtsjahr, welches für diese Teilnehmerin der Marxistischen Arbeitswoche häufig genannt wird –, sie starb aber keineswegs 1932 in Moskau, sondern 1959 als verheiratete Margarete Weinberg in den USA. Diese Schriftstellerin und Frauenrechtlerin hat zwar eine lange Publikationsliste, als bürgerliche Frauenrechtlerin sympathisierte sie aber zu keinem Zeitpunkt mit der Linken. Überdies hieß die zweite Frau Ernst Lissauers ebenfalls Margarete (1887−1962). Sie war eine geborene Langner, seit 1913 für ihn als Sekretärin tätig und seit 1929 mit ihm verheiratet.
Ausführliche Einzelstudien über die Frauen, wie sie für viele der in Geraberg anwesenden Männer und die »großen Männer« der Frankfurter Schule bereits vorliegen, wären zweifelsohne wünschenswert.
Wahrscheinlicher ist somit, dass es sich bei Margarete Lissauer auf dem Foto von Geraberg um eine Heidelberger Wohnungsbeamtin und Leiterin eines Waisenamtes handelte. Diese Margarete Lissauer war eine geborene Eisenberg und verheiratet mit dem Privatdozenten der Universität Königsberg und Doktor der Medizin, Max Joseph Lissauer, mit dem sie drei Kinder hatte. Um 1918 ließen sie sich scheiden, denn in diesem Jahr heiratete Max Lissauer seine zweite Frau Else Schlachter. Margarete Lissauer finden wir im intellektuellen Umkreis Gershom Scholems, der in seinen Erinnerungen und Tagebüchern mitunter auf sie Bezug nimmt. Sie studierte wie Scholem an der Universität Berlin. Beide besuchten die Vorlesungen Ernst Troeltschs, im Wintersemester 1915/16 etwa seine Vorlesung »Religionsphilosophie auf religionsgeschichtlicher Grundlage«. Zu den Teilnehmer:innen von Troeltschs Vorlesungen heißt es bei Friedrich Wilhelm Graf:
»Seine (Troeltschs; J. S.) Lehrveranstaltungen zogen eine ganze Reihe von Studentinnen und Studenten, aber auch akademisch bereits arrivierte Gäste an, die sich später in ganz unterschiedlichen politischen Lagern, Lebenswelten und Milieus, vielfach auch im Exil beziehungsweise in der Emigration einen Namen machten (…) Erich Auerbach, Hans Baron, Walter Benjamin, Julie Braun-Vogelstein, Gerhard Dietrich, Nahum Goldmann, Otto Grautoff, Hans Heyse, Gustav Hillard, Kurt Hiller, Hedwig Hintze, Hans Jonas, Gerhard Lehmann, Ernst Lemmer, Grete Lissauer, Ludwig Marcuse, Gerhard Masur, Wilhelm Pauck, Hans Sahl, Edgar Salin, Jean Rudolf von Salis, Gottfried Salomon, Hermann Schmalenbach, Hans Zehrer (…) auch spätere Nationalsozialisten wie Albert Dietrich und Alfred Klemmt.«
Ebenfalls beschrieb Scholem seine erste Begegnung mit ihr:
»In einer großen Vorlesung (von Ernst Troeltsch) kam ich (…) zufällig neben eine etwa 35jährige Dame zu sitzen, die mich weniger durch ihre ins Auge springende dunkle Schönheit und Haltung aufmerken ließ als durch die mit großer Schrift leidenschaftlich, unter Gebrauch unendlich vieler Ausrufungszeichen und Fragezeichen hingeworfenen Anmerkungen und Proteste gegen Troeltschs etwas allzu glatte, freilich ›hochgebildete‹ Darlegungen. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte ihre heftigen Emotionen ebenso gut wider wie ihre expressionistischen schriftlichen Explosionen, in die zu schielen ich mir nicht verkneifen konnte. So kamen wir miteinander ins Gespräch. Es war Grete Lissauer, die Frau eines im Heeresdienst stehenden Extraordinarius der Medizin in Königsberg, eine leidenschaftliche Pazifistin und sehr aufgeweckte Frauenrechtlerin, mit der ich im folgenden Sommer in Heidelberg viel zusammen war.«
Scholem lernte durch sie auch andere jüdische Studentinnen kennen, allerdings: »Grete Lissauer schwebte eher in den Höchsten (sic!) zwischen den Idealen der Menschheit (…). Solange ich sie kannte, schrieb sie an einem fünfjambigen Drama Aspasia, in dem sie in dieser klassischen Figur ihr eigenes Wunschbild und dessen Spannungen darstellen wollte. An manchen Abenden, an denen wir nachher lange am Schlossberg spazieren gingen, las sie daraus vor.«
Beide diskutierten philosophisch intensiv und oft kontrovers, wie Scholem in seinen Tagebüchern vermerkt. So gab es Aussprachen über Kurt Hillers »Das Ziel: Aufrufe zu tätigem Geist« und zu Georg Simmel, zudem über Zionismus sowie über Heinrich Rickerts Aufsatz »Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen über die Logik des Zahlenbegriffs«. Außerdem empfahl sie ihm die Lehrveranstaltungen Ernst Cassirers »Einführung in die Erkenntniskritik« und »Der Humanitätsgedanke in der deutschen Geistesgeschichte« und lieh ihm Bücher von Bernard Bolzano, gegen den sie »rebellierte«.
Scholem geht in seinen Erinnerungen auf ein Referat Margarete Lissauers ein, das diese im geschichtsphilosophischen Seminar von Heinrich Rickert über »Freiheit und Geschichte« gehalten hatte. Der Neukantianer Rickert habe kritisiert, beides hätte nichts miteinander zu tun. Scholem schlug sich auf die Seite seiner Bekannten und legt in seinem Tagebuch dar, dass der »Idiot« es einfach nicht verstanden habe. Im November 1917 lernte Scholem über Margarete Lissauer den Psychiater und Neurologen Kurt Goldstein in Weimar kennen. Sie kannte Goldstein wahrscheinlich durch ihren Mann. Als Mitbegründer der Psychotherapie beeinflusste Goldstein mit seinem wissenschaftlichen Werk unter anderem Max Horkheimer. 1916 begleitete Scholem Grete Lissauer zu einem Fest der Odenwaldschule, wo ihre Tochter Eva Schülerin war. Sie sprachen hier über Reformpädagogik. Nach Scholem starb sie »Mitte der zwanziger Jahre als gläubige Kommunistin in Moskau«.
Margarete Lissauer wurde am 21. Dezember 1920 als Doktorin der Philosophie in Köln mit ihrer Dissertation »Der Begriff des ewigen Friedens im Systeme Kants« promoviert. Sie hatte schon vor der Gründung des Frankfurter Instituts vielfältige Beziehungen zu späteren Akteuren in dessen Umfeld, unter ihnen Walter Benjamin. Zum Zeitpunkt des Pfingsttreffens 1923 war sie mit dem ungarischen Philosophen Béla Fogarasi liiert. Ob beide heirateten, ist bisher nicht nachweisbar, ebenso das genaue Sterbedatum von Margarete Lissauer. Ihr 1913 geborener Sohn Reinhold Lissauer wurde im stalinistischen Großen Terror am 28. Mai 1938 in Butovo bei Moskau erschossen.
Angestellt im Wissenschaftsbetrieb − die Frauen am Frankfurter Institut für Sozialforschung und am Marx-Engels-Institut in Moskau
Der erste Direktor des Instituts für Sozialforschung, Carl Grünberg, lehrte zuvor an der juristischen Fakultät der Universität Wien Arbeits- und Sozialrecht. Erst ab dem Sommersemester 1919 war es Frauen in Österreich erlaubt, Rechts- und Staatswissenschaften zu studieren. Carl Grünberg hatte aber schon vorher Zuhörerinnen in seinen Vorlesungen zugelassen. Als austromarxistischer Sozialdemokrat unterstützte er die Forderung des Studienrechts für Frauen. Vorträge zu Themen der Frauenbewegung, zum Beispiel 1903 im österreichischen Frauenverein über die »Stellung der Frau als Staatsbeamtin«, belegen sein diesbezügliches Engagement. So verwundert es nicht, dass seine Vorlesungen in Wien ab dem Sommersemester 1919 auch zahlreiche Frauen besuchten.
Mit Blick auf die Veröffentlichungspolitik lässt sich hingegen ein anderes Bild nachzeichnen. Carl Grünberg gab von 1911 bis 1930 die Zeitung Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, das sogenannte Grünberg-Archiv, heraus. Die insgesamt wenigen Beiträge von Frauen – während des Ersten Weltkriegs und in der frühen Nachkriegszeit gab es gar keine – waren vor allem Rezensionen, und der Anteil der von Frauen verfassten Rezensionen sollte während Grünbergs Zeit in Frankfurt ab 1923 stetig zunehmen. Nur wenige durften einen Artikel für die Rubrik »Abhandlungen und Miszellen« (nämlich Käthe Bauer-Mengelberg 1926 und Frieda Bier 1929) und für die »Urkundlichen Mitteilungen« (Angelica Balabanoff 1926 und 1928) veröffentlichen. Insgesamt schrieben zwölf Frauen Rezensionen, die meisten wurden von Gisela Michels-Lindner (sechs im Jahr 1913) und Käthe Leichter-Pick (fünf im Jahr 1925) verfasst. Hilde Anaigl, Luise Sommer und Gertrud Biehahn beteiligten sich an mehreren Jahrgängen.
15 Jahrgänge belegen somit zwar die Beteiligung von Frauen am literaturbezogenen Diskurs, allenfalls aber ihre zaghaft zunehmende Bedeutung. Mit dem neuen Direktor Max Horkheimer änderte sich das nicht grundlegend. Die Arbeit von Frauen im und für das Institut blieb auf untergeordnete Stellungen in der Bibliothek und für Übersetzungsarbeiten der den Institutsbetrieb dominierenden Männer beschränkt. Im neuen Publikationsorgan, der 1932 ins Leben gerufenen Zeitschrift für Sozialforschung, sind Frauen vor allem als Autorinnen von »Besprechungen« und nur vereinzelt in der Rubrik »Aufsätze« präsent.
Ein ähnliches Bild zeigt sich mit Blick auf die Anstellung von Frauen. Zwar wurde eine beachtliche Zahl von Frauen für die wissenschaftliche Arbeit in Anstellung beschäftigt, allerdings in untergeordneten Positionen. Insbesondere im Zuge der Kooperation mit dem Moskauer Marx-Engels-Institut unter der Leitung von David Borisovič Rjazanov zur Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe kam es zur Anstellung von mehreren Frauen, vor allem auch am Marx-Engels-Institut (MEI) in Moskau. Hierfür schlug das Institut in Frankfurt Personal vor. Dabei protegierte Grünberg – wie schon bei der Vergabe von Rezensionen – Frauen, die bei ihm oder ihm bekannten Professoren in Wien promoviert hatten.
So gehörte zur ersten Gruppe von Wissenschaftler:innen, die Ende 1925 in Moskau eintrafen, das Ehepaar Biehahn. Gertrud Biehahn hatte ebenso wie Hilda Anaigl bereits Artikel für Grünbergs Archiv verfasst. Letztere war ab Mai 1924 Bibliothekarin des MEI. Außerdem sind Gabrielle Jahn und Hilde Oppenheim zu nennen. Die Schweizerin Gabrielle Jahn, eine studierte Verwaltungs- und Sozialpolitikerin, hatte über das Thema »Bureau International du Travail« promoviert und reiste 1927 nach Moskau. Grünberg hatte sie mehrfach empfohlen. Hilde Oppenheim war 1927 und 1928 Mitarbeiterin in Moskau. Ihre Promotion trug den Titel »Über die staatliche Regelung der Bauernfrage in der Französischen Revolution« und sie interessierte sich insbesondere für die soziale Frage seit 1789. Grünberg empfahl sie für die Arbeit an der Marx-Engels-Gesamtausgabe als Spezialistin des Feldes für den Revolutionszeitraum 1830 bis 1852.
Wahrscheinlicher ist, dass es sich bei Margarete Lissauer auf dem Foto von Geraberg um eine Heidelberger Wohnungsbeamtin und Leiterin eines Waisenamtes handelte.
In Frankfurt wurden Frauen sowohl in der Bibliothek als auch im Rahmen des Projekts der Marx-Engels-Gesamtausgabe beschäftigt. Für die Koordination der Fotokopierarbeiten der Dokumente wurden ab Oktober 1925 Ilse Bloch (als Sekretärin, Buchhalterin und Korrespondentin) und die Philologin Emmy Bloch auf Kosten des MEI in Frankfurt angestellt. Ilse Bloch berichtete im Herbst 1927 an das MEI, dass seit Mitte Juli über 6.000 Aufnahmen angefertigt und an Moskau gesandt worden waren. Ab September 1928 wurde die seit 1926 am MEI arbeitende Betty Waldheim als Unterstützung für fotografische Arbeiten angestellt. Das Ende der Kooperation zwischen Moskau und Frankfurt bedeutete für die hier beschäftigten Mitarbeiterinnen dann allerdings die Entlassung.
Hans Jäger, der leitende Mann im Team, schrieb über Ilse Blochs Tätigkeit, dass sie »in letzter Zeit zu wissenschaftlichen Forschungsarbeiten in Bibliotheken und Archiven herangezogen worden war«. Ihre Nachfolgerin wurde Hilde Vogel-Rothstein, die nach 1933 für die Rettung der Unterlagen und Druckmatern des Marx Engels-Verlages verantwortlich zeichnete. Selbst Hedda Korsch, eine ausgewiesene Gegnerin der damaligen sowjetischen Politik und Teilnehmerin der Marxistischen Arbeitswoche 1923, übernahm Übersetzungstätigkeiten auf Honorarbasis für das MEI.
Die in der Bibliothek des Frankfurter Instituts angestellten Frauen waren Rose Wittfogel (geborene Schlesinger), Christiane Sorge, Elisabeth (Lilli) Ehrenreich, Clara Mackauer und Susanne Weisser. Sie arbeiteten unter der Leitung Karl Hubers. Christiane Sorge und die Diplom-Bibliothekarin Rose Wittfogel bauten die Bibliothek schon vor der Aufnahme des Institutsbetriebs auf. Diese umfasste später 42.000 Bände, 412 Zeitschriften und 40 Zeitungen. Rose Wittfogel war zunächst auch von 1923 bis 1929 dort als Bibliothekarin tätig. Über ihre Tätigkeit schrieb sie in einer Bewerbung für eine erneute Anstellung in der Volksbücherei Halle:
Die Arbeit von Frauen im und für das Institut blieb auf untergeordnete Stellungen in der Bibliothek und für Übersetzungsarbeiten der den Institutsbetrieb dominierenden Männer beschränkt.
»Im Jahre 1923 wurde mir die Einrichtung der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt übertragen. Nachdem ich auch noch einige Zeit die Leitung des Lesesaaldienstes, in Verbindung mit bibliographischen Arbeiten und der Beratung der Benutzer, hatte, widmete ich mich in den letzten Jahren immer ausschließlicher der Aufstellung und systematischen Durcharbeitung des umfangreichen Institutsarchivs. Im Jahre 1924 hielt ich mich einige Monate in England auf, um die sozialen Verhältnisse und Organisationen des Landes zu studieren und die von mir für das Institut angebahnten Beziehungen weiter auszubauen. Da ich seit langem beabsichtigte, meinen Mann (Karl August Wittfogel; J. S.) auf einer wissenschaftlichen Forschungsreise nach China zu begleiten, hatte ich bereits vor längerer Zeit meine Stellung am Institut gekündigt. Nachdem sich inzwischen aus finanziellen Gründen für mich die Notwendigkeit ergeben hat, von der Begleitung meines Mannes Abstand zu nehmen, die Archivstellung aber – zugunsten der inzwischen begonnenen Publikationen des Instituts – im Etat gestrichen wurde, bin ich gezwungen, einen neuen Wirkungskreis zu suchen. Es ist nun mein Wunsch, wieder zur volkstümlichen Bücherei und damit zu der mir besonders liegenden lebendigen sozialpädagogischen Arbeit zurückzukehren. Um diesen Übergang zu vollziehen, bin ich zur Zeit – auf Aufforderung von Herrn Direktor Hofmann – einige Monate studienhalber an den Leipziger Bücherhallen, zu denen ich seit 1914 in Beziehung stehe, tätig.«
Rose Wittfogel erhielt diese Anstellung nicht; ihr Lebensweg verschlug sie stattdessen nach Moskau.
Über Christiane Sorges Tätigkeit findet sich der Hinweis, dass sie die Dublettenbestände des Frankfurter Instituts revidierte, um diese für die Versendung an das MEI fertigzustellen. Dabei arbeitete sie nicht nur eine Liste von Rjazanov ab, sondern ergänzte auch eigenständig bestimmte Titel.
Clara Mackauer (geborene Oppenheimer) hatte nach dem Besuch des Gymnasiums in Hanau von 1917 bis 1922 Philologie in Frankfurt, Freiburg und München studiert. Danach arbeitete sie ausbildungsfern als Buchhalterin und Sekretärin in einer Bank und der freien Wirtschaft. Ab 1924 war sie in der Bibliothek des Frankfurter Instituts für Sozialforschung tätig und wurde 1928 deren Leiterin. 1933 wurde sie entlassen und zog mit ihrem Mann zunächst nach Wetzlar. 1937 bis 1939 war sie Lehrerin an einer privaten Mädchenschule in Frankfurt. In der Emigration in den Vereinigten Staaten wurde sie von 1940 bis 1941 Assistenzbibliothekarin und Lehrerin an der Friends Academy in Locust Valley und anschließend Bibliothekarin am Pacific College (später George Fox College) in Newberg, Oregon. Ab 1942 lebte das Ehepaar in Chicago, wo ihr Mann an der Universität lehrte.
Elisabeth Ehrenreich war Musikerin, Bibliothekarin und Lehrerin. Sie arbeitete von 1924 bis 1930 am Institut. Nach ihrer Heirat mit Siegfried Kracauer wurde sie dessen Mitarbeiterin. Über Susanne Weisser ist außer ihrer Lebensdaten nur die Tatsache bekannt, dass sie später den Bibliotheksleiter Karl Huber heiratete. Zu erwähnen sind für die Zeit vor dem Exil ferner die Sekretärinnen des Instituts für Sozialforschung unter Max Horkheimer: Lilli Eckmeyer und Juliette Favez. Letztere half nach dem Umzug des Instituts nach Genf 1933 bei der Flucht von Emigrant:innen aus Deutschland.
Student:innen des Instituts für Sozialforschung − Das Beispiel Hilde Weiss
Neben den Angestellten spielten im Kontext der wissenschaftlichen Arbeit in der Frühgeschichte des Instituts auch Studierende eine nicht unwichtige Rolle. Die bekannteste Studentin und spätere Forschungsassistentin am Institut für Sozialforschung war Hilde Weiss. Ihre Mutter Elisabeth, geborene Rathenau, war Malerin und eine Cousine des Außenpolitikers Walther Rathenau, der 1922 von Rechtsradikalen ermordet wurde. Hilde Weiss’ Vater war ein aus Wien stammender promovierter Philosoph, vermögen der Privatgelehrter und Literat. In ihrer Jugend gehörte sie zunächst dem bürgerlichen »Wandervogel«, nach der Novemberrevolution 1918 der »Freien Sozialistischen Jugend« an. Hier lernte sie den Sohn Karl Liebknechts, Wilhelm, kennen. Hilde Weiss studierte zunächst Kunstgeschichte in Berlin. Sie nahm als Mitglied der USPD-Jugendorganisation an den Januardemonstrationen 1920 in Berlin teil, die blutig niedergeschlagen wurden. Ab 1920 studierte sie Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, internationale Handelsbeziehungen, soziale Psychologie und Arbeitsrecht in Jena.
Ihre Eltern verloren während der Inflation ihr Vermögen, so dass Hilde Weiss ihren Lebensunterhalt zunächst als Buchhändlerin verdienen musste. Einige Monate später wurde sie als Hilfsarbeiterin eingestellt, aber nur, weil sie eine Verwandte Walther Rathenaus war. Der Personalleiter der Schottwerke, Dr. Friedrich Schomerus, war selbst Mitglied der DDP wie Rathenau, und er bewunderte diesen. Sie wurde schnell Mitglied des Metallarbeiterverbandes und des Betriebsrates. 1924 wurde sie entlassen, weil sie sich an einem Streik beteiligt hatte, und kehrte nach Berlin zurück.
Nun folgte ein Studium der Soziologie, Wirtschaft und Statistik bei Werner Sombart. Aber bereits im Oktober 1924 begann sie ihre Promotion in Frankfurt am Institut für Sozialforschung – wohl auch, weil ihr Thema in Berlin auf wenig Gegenliebe getroffen war. Hinzu kam, dass Werner Sombart Antisemit war und Hilde Weiss aus einer jüdischen Familie stammte. 1927 schloss sie ihre Arbeit unter Carl Grünberg zum Thema »Abbé und Ford. Pläne für die Errichtung sozialer Betriebe« ab. Danach arbeitete sie als Kindergärtnerin, als Assistentin von Adolf Grabowsky, dem Herausgeber der Zeitschrift für Politik, sowie als Forschungsmitarbeiterin in der Gruppe Bibliographie der Sozialwissenschaften unter Otto Nathan im Statistischem Reichsamt Berlin.
Das Verhältnis zwischen Hilde Weiss, Max Horkheimer und später Theodor W. Adorno war angespannt. Hilde Weiss war Mitglied der KPD, was Horkheimer nicht gefiel.
Von 1930 bis 1933 wurde sie zunächst freie Mitarbeiterin, kurz darauf Forschungsassistentin am Institut für Sozialforschung. Sie war sowohl an dem Projekt über die Einstellung von Arbeitern und Angestellten als auch an den berühmten »Studien über Autorität und Familie« beteiligt. Außerdem forschte sie im Projekt »Materialien zum Verhältnis von Konjunktur und Familie« im Teilprojekt »Zur soziologischen Analyse der deutschen Buchdrucker«. Sie gab auch einige Lehrstunden in Soziologie und verfasste eine Rezension für die Zeitschrift für Sozialforschung. Im Februar 1933 zog sie zu ihrem Vater nach Berlin und floh dann im April nach Basel. Von 1933 bis 1935 war sie an der Außenstelle des Instituts in Paris tätig und schrieb eine zweite Promotion an der Sorbonne zum Thema »Les Enquêtes Ouvrières en France. Entre 1830 et 1848«. Doktorvater war der Philosoph Célestin Bouglé.
Das Verhältnis zwischen Hilde Weiss, Max Horkheimer und später Theodor W. Adorno war dabei angespannt. Hilde Weiss war Mitglied der KPD, was Horkheimer nicht gefiel. Außerdem stand sie für ihre Ideen ein und wies auch offen darauf hin, wenn ihre Forschungsergebnisse von anderen Forschern ohne Hinweis auf ihre Urheberschaft verwendet wurden. Die Abneigung Adornos gipfelte 1936 in der Bemerkung »institutspolitisch gesehen, müsste man sie verstecken«. Dennoch ermutigte Horkheimer sie 1934, »mit der anerkannten wissenschaftlichen Kompetenz, die Ihnen eigen ist«, einen Artikel zu schreiben über einen von ihr aufgefundenen Arbeiterfragebogen, den Karl Marx gestaltet hatte.
Von 1936 bis 1937 war Hilde Weiss schließlich als Deutschlehrerin an der Montessori-Schule in Paris tätig und erteilte Privatunterricht in Französisch in der Tschechoslowakei. 1937 bis 1939 erhielt sie ein Stipendium des Ministry of National Education in Paris. Sie bearbeitete hierbei das Manuskript »The First French Workers Newspapers 1830−1848«. 1939 wanderte sie in die USA aus und arbeitete an verschiedenen Colleges, unter anderem einem College für black coloured people in Durham. Von 1945 bis 1970 war sie Instructor und ab 1963 Assistant Professor am Brooklyn College in New York, wo sie 1981 starb.
Zusammenfassung
In der Literatur haben die Frauen mit Blick auf die frühe Institutsgeschichte bislang bestenfalls eine randständige Rolle zugewiesen bekommen. Dabei wiederholt sich in der Historiographie das Muster der Realgeschichte. Die Rekonstruktion ihrer Tätigkeiten und Werdegänge zeigt, dass das linke Umfeld, die sozialistische Frauenbewegung und die egalitären lebensreformerischen Ideale, die noch in der Vorkriegszeit ihren Ursprung hatten, nur wenig an den tradierten Geschlechterverhältnissen in Forschung und Institutsbetrieb geändert haben. Trotz beachtlicher wissenschaftlicher Qualifikationen der Mitarbeiterinnen kamen diese kaum zum Zuge, sie wurden eher, wie das Beispiel Hilde Weiss belegt, an den Rand gedrängt oder auf Tätigkeiten der Zuarbeit in Bibliotheken und auf Übersetzungsarbeiten verwiesen. Nicht für alle war die emanzipatorische Forschungs- und Theoriearbeit gleichermaßen mit egalitärer Partizipation an eben dieser verbunden.
Zudem drängt sich die These auf, dass einige dieser Frauen in der zeitgenössischen politischen Arbeiter:innenbewegung deutlich ernster genommen wurden, sich eigenständiger bemerkbar machen konnten und dort auch reüssierten, nachdem sie den engeren Raum des Institutsbetriebs verlassen hatten. Ob sie das auch taten, weil sie den Institutsbetrieb als wenig egalitär empfanden, ist eine Frage, die auf Grundlage der Quellen kaum beantwortet werden kann. Dass diese vergeschlechtlichten Muster in der Institutsgeschichte in den fünfziger Jahren sukzessive aufgebrochen wurden, ist vermutlich einerseits der »amerikanischen Erfahrung«, andererseits der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in Westdeutschland zuzurechnen. Die Impulse aus der Emanzipationsbewegung der Arbeiter:innen, die in der Frühgeschichte des Instituts noch große Relevanz hatten, waren dafür jedenfalls nicht verantwortlich. Dazu waren diese Brücken wohl bereits zu brüchig.
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Der Originaltext enthält einen ausführlichen Quellen- und Anmerkungsapparat.
Der Text wurde den redaktionell üblichen Schreibweisen angepasst.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus:
Christina Engelmann, Lena Reichardt, Bea S. Ricke, Sarah Speck, Stephan Voswinkel (Hg.): Im Schatten der Tradition. Eine Geschichte des IfS aus feministischer Perspektive. Bertz und Fischer, Berlin 2025, 256 Seiten, 18 Euro