Wider die russische Welt
Lange Zeit meines Lebens galt ich als Verteidiger von Menschen-, Bürger- und sozialen Rechten. Eine meiner ersten Menschenrechtsaktionen (damals wusste ich noch nicht, dass man das so nennt) bestand darin, um die Jahrtausendwende die juristische Verteidigung eines Freundes, der aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigerte, zu unterstützen und Geld für ihn zu sammeln.
Ein Vierteljahrhundert später bin ich Offizier der Streitkräfte der Ukraine. Ich werde immer noch oft als Antimilitarist bezeichnet (und sogar als Pazifist, was irgendwie noch fragwürdiger ist) und ich halte mich selbst für einen solchen: Ich verachte Gewalt und hasse Krieg, ich sehe im Militärischen einen sehr spezifischen und engen Zweck, auf den niemals die gesamte Gesellschaft ausgerichtet werden sollte. Mit einer Ausnahme: wenn die Gesellschaft ihre baren Grundlagen gegen einen aggressiven und grausamen Invasoren verteidigt und einen existentiellen Kampf führt. Deshalb habe ich mich im Februar 2022 freiwillig zur ukrainischen Armee gemeldet, obwohl ich keinerlei militärische Erfahrung hatte.
Davor hatte ich jahrelang Flüchtlinge und Asylbewerber in der Ukraine unterstützt, weshalb ich die Menschenrechtslage in ihren Herkunftsländern, einschließlich Russland, aufmerksam verfolgte. Mir war klar, dass bei einem Erfolg der Invasoren all das Gute, das im Bereich der Menschenrechte in der Ukraine über viele Jahre hinweg erreicht worden war, zunichtegemacht werden würde. In Anbetracht der Tatsache, dass es um die Menschenrechte in Russland schon damals beklagenswert schlecht bestellt war (was sich seither noch radikal verschlechtert hat), konnte man sich ausmalen, was für eine Art Regime in den besetzten Gebieten installiert werden würde. Als Verteidiger von Menschenrechten war für mich die Zeit gekommen, diese mit dem einzigen Mittel zu verteidigen, das mir zur Verfügung stand: mit Waffen.
Ich habe eine Welt von innen gesehen, in der die Freiheit des Einzelnen verlacht, die Menschenwürde missachtet, das humanitäre Völkerrecht begraben wird und nur das Recht des Stärkeren gelten soll.
Leider wurden meine damaligen Befürchtungen noch übertroffen. Im Juni 2022 wurde ich mit einem Teil meines Zuges im Osten der Ukraine gefangen genommen und verbrachte zwei Jahre und vier Monate in russischer Gefangenschaft. Zuerst nur als Kriegsgefangener, aber schon bald wurde ein Strafverfahren gegen mich fabriziert. Die Anklage basierte allein auf einem Geständnis, das ich unter Zwang abgelegt hatte (was ein Euphemismus für Folter ist). Als Kriegsverbrecher wurde ich zu 13 Jahren Strafkolonie verurteilt. Ich habe das System, das der russische Staat in den besetzten Gebieten installiert, von innen gesehen.
Ich habe gesehen, in welchem Ausmaß es das humanitäre Völkerrecht – sei es für Kriegsgefangene oder Zivilisten, die willkürlich festgenommen werden können – wie einen schlechten Witz behandelt. Und ich habe das Wertesystem von nahem gesehen, das sie den besetzten Gebieten aufzwingen wollen: die Ideologie der »Pax Russica« oder »russkij mir«. (Die russischen Regierung bezeichnet mit dem Begriff »russkij mir«, russische Welt, den kulturellen und politischen Einfluss Russlands vor allem in ehemals sowjetischen Ländern, mittlerweile ist es ein von Gegnern ebenso wie Unterstützern verwendeter Begriff für imperiale Herrschaftsansprüche; Anm. d. Red.)
Eine Weltsicht, in der der Staat alles ist und der Mensch nichts
Diese Weltsicht steht in Gegensatz zu allem, was ich, meine Freunde, Kollegen und Lieben, schätzen und zu verteidigen versuchen. Es ist eine Weltsicht, in der der Staat alles ist und der Mensch nichts, nur austauschbares Material für die Staatsmaschinerie, die den obersten Wert darstellt und die natürlich in ihren Herrschern verkörpert wird (insbesondere in einem Herrscher an der Spitze).
Es ist eine Weltsicht, die auf Intoleranz gegen jegliche Vielfalt beruht, wenn damit nicht die Vielfalt der kolonisierten Bevölkerungsgruppen Russlands gemeint ist, die vornehmlich in den Krieg geschickt werden. Homophobie ist ein Eckpfeiler der heutigen offiziellen russischen Ideologie und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche bezeichnet den völkermörderischen Krieg als »militärische Spezialoperation« und »heiligen Krieg«.
Für mich ist klar, dass wir, die Ukrainer, nicht nur die Werte der Ukraine, sondern aller Menschen verteidigen, die in Freiheit, Kooperation, Solidarität und gegenseitigem Respekt vor der Würde des anderen leben wollen, auch wenn es Meinungsverschiedenheiten und Konflikte gibt.
Krieg gegen den »verkommenen liberalen Westen«
Die russische Propaganda hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass der Krieg, den der Kreml führt, nicht nur gegen die Ukraine gerichtet ist; dass es sich um einen Krieg gegen das handelt, was sie den »verkommenen liberalen Westen« nennen. Es ist ein Krieg der Werte. Es ist ein Krieg, in dem selbsternannte Hüter traditioneller Werte (was auch immer das sein mag) versuchen, jene Gesellschaften, die nach Freiheit streben, daran zu »erinnern«, dass sie sich »auf einem falschen Weg« befinden.
Sie tun das, indem sie einmarschieren und diejenigen töten und inhaftieren, die nicht mit ihnen übereinstimmen. Es ist also keine Überraschung, dass Ukrainer an der Front kämpfen in der Überzeugung, dass sie nicht nur die Ukraine verteidigen, sondern auch Europa und alle Gesellschaften, die versuchen, nach demokratischen Prinzipien zu leben, die auf den Werten der Freiheit und der Achtung der Menschenwürde beruhen.
Wie ich bereits erwähnt habe, habe ich eine Welt von innen gesehen, in der die Freiheit des Einzelnen verlacht, die Menschenwürde missachtet, das humanitäre Völkerrecht begraben wird und nur das Recht des Stärkeren gelten soll, auch international.
Es mag Menschen geben, die in dieser Welt leben können, welche die russischen Truppen derzeit durch die Zerstörung von Städten und Dörfern, mit Kamikaze-Drohnen und Raketen, in der Ukraine errichten. Aber ich weiß, dass ich in dieser Welt nicht in der Lage wäre, Flüchtlingen zu helfen; Folteropfer zu verteidigen und Folterungen zu verhindern (womit ich mich vor 2022 befasste, bevor ich über dieses Thema aus erster Hand lernen musste); ich hätte auch meinen alten Freund, den Kriegsdienstverweigerer, nicht verteidigen können – weil keiner dieser Menschen in der sogenannten russischen Welt Verteidigung und Schutz »verdient« hat.
Dieser Krieg ist grausam. Es ist ein Krieg der Zermürbung. Er dauert in seiner jetzigen Form mehr als drei Jahre und begann eigentlich schon vor über elf Jahren. Die ukrainische Gesellschaft ist erschöpft und viele westliche Zuschauer sind von den Nachrichten aus der Ukraine gelangweilt.
Dieser Krieg ist grausam. Es ist ein Krieg der Zermürbung. Er dauert in seiner jetzigen Form mehr als drei Jahre und begann eigentlich schon vor über elf Jahren. Die ukrainische Gesellschaft ist erschöpft und viele westliche Zuschauer sind von den Nachrichten aus der Ukraine gelangweilt – von dem, was sie als
»Ukraine-Krieg« bezeichnen (aus irgendeinem Grund haftet dieser Name dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine an). Wir hören immer öfter die Ansicht, dass die Ukraine zum Aufgeben gezwungen werden sollte, damit es Frieden gebe, und dass dies erreicht werden könne, indem Waffenlieferungen an die Ukraine eingestellt werden. Für jene, die solche Positionen vertreten, habe ich eine schlechte Nachricht.
Sie können das vertreten, weil sie noch in einer freien Gesellschaft leben. Sie können ihre Meinung sagen, ohne Angst haben zu müssen, bestraft zu werden, weil zwischen ihnen und der »russischen Welt«, in der dies nicht möglich wäre, derzeit eine Mauer steht, die Ukraine. Ein Ende der militärischen Hilfe für die Ukraine würde allerdings keinen Frieden bringen, sondern den Krieg noch länger, grausamer und blutiger machen, denn Besatzung ist kein Frieden.
Besatzung bedeutet die Gefangennahme von Tausenden von Menschen und die Ermordung vieler, die es gewagt haben, sich zu widersetzen. Sie bedeutet Millionen von Flüchtlingen und zerstörten Leben. Und sie bedeutet Widerstand im Untergrund, der in der Regel ohne Rücksicht geführt wird – während die russischen Besatzer bereits jetzt keine Grenzen und Regeln der Kriegsführung respektieren. Allein aus diesem Jahr gibt es zahlreiche Videos von russischen Soldaten, die ukrainische Kriegsgefangene hinrichten. Wenn also jemand das Ende der Unterstützung der Ukraine fordert, sollte ihm klar sein, dass er für die Fortsetzung des Krieges eintritt, nicht für dessen Beendigung.
Den Aggressorstaat unterstützen
Jeder kann seine Meinung äußern, aber ich möchte zu intellektueller Ehrlichkeit aufrufen. Wenn Leute möchten, dass die militärische Unterstützung für die Ukraine eingestellt werde, dann sollten sie aufhören zu sagen: »Wir tun das für den Frieden.« Sie sollten ehrlich sagen, dass sie den Aggressorstaat unterstützen, dass sie wollen, dass die Ukraine aufgibt, und dass es ihnen gleichgültig ist, dass Flüsse von Blut und Meere von Trauer und Leid die Ukraine seit Beginn des Krieges überschwemmt haben. Denn das ist es, was ihre Haltung impliziert. Wenn sie jemandem helfen können, der vor ihren Augen langsam getötet wird, und sie tun es nicht – dann machen sie sich mitschuldig am Mord.
Diejenigen, die anstreben, dass die Ukraine sich ergibt, wollen damit die Kraft beseitigen, die die russischen Truppen zurückhält und die es ihnen erlaubt, öffentliche Debatten zu führen und politische und individuelle Entscheidungen über ihr Leben zu treffen. Sie sollten sich fragen, ob sie darauf vorbereitet sind, irgendwann aufzuwachen, wie es den Ukrainern am 24. Februar 2022 erging, und vor der Entscheidung zu stehen, für ihre Freiheit, für ihre Lieben und für ihre Werte zu kämpfen oder alles aufzugeben, was uns zu freien Menschen macht und ein Leben in Würde ermöglicht.
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Veranstaltung: Ein Antimilitarist im Krieg - Diskussionsabend mit Maksym Butkevych am 22. Mai in Berlin
Der ukrainische Anarchist, Menschenrechtler und ehemalige Kriegsgefangene Maksym Butkevych spricht über seine Beweggründe, sich der Armee anzuschließen, seine Erfahrungen in Kriegsgefangenschaft und die politischen Konsequenzen, die er daraus zieht.
aquarium (neben Südblock), Skalitzer Str. 6, 10999 Berlin
Datum: 22. Mai 2025
Uhrzeit: 19:00–21:30 Uhr
Eintritt kostenfrei.
Anmeldung: https://programm.bildungswerk-boell.de/index.php?kathaupt=11&knr=25-8004