Eine Glaskugel für die Polizei

Was soll schon schiefgehen? Der Zauberer Saruman verwendet im Film »Der Herr der Ringe: Die zwei Türme« (2002) einen Palantír-Stein, der seherische Fähigkeiten verleiht, aber dem Bösewicht Sauron dazu dient, seine Benutzer zu korrumpieren
Eine »Zeitenwende in der Inneren Sicherheit« – damit drohen Union und SPD in ihrem kürzlich veröffentlichten Koalitionsvertrag. Die angehende Regierungskoalition werde dafür »alle europa- und verfassungsrechtlichen Spielräume ausschöpfen«, heißt es dort. Von der Vorratsdatenspeicherung über Staatstrojaner und automatisierte Kennzeichenlesesysteme bis zu Gesichtserkennung in der Videoüberwachung: die im Koalitionsvertrag geplanten neuen Befugnisse für die Ordnungsbehörden sind so zahlreich wie dystopisch.
Im Koalitionsvertrag heißt es, den Ordnungsbehörden soll künftig die »automatisierte Datenrecherche und -analyse« ermöglicht werden. Auch in der Strafverfolgung sollen die Behörden »KI-basierte« Analysebefugnisse erhalten. Damit ist gemeint, dass große Datenmengen aus verschiedenen Datenbanken automatisch durchkämmt und analysiert werden.
Was früher als »Data Mining« bezeichnet wurde, wird nunmehr unter dem Label »Künstliche Intelligenz« verkauft. Und weil die deutsche Behördensoftware noch nicht all jene wunderbaren Dinge kann, die man sich verspricht, richten sich die Begehrlichkeiten auf das führende Produkt auf dem Weltmarkt der Polizeisoftware: Das Programm Gotham des Herstellers Palantir Technologies, das bereits in einigen Bundesländern im Einsatz ist. Es wird weltweit von Geheimdiensten und Sicherheitsdiensten und sogar vom US-Militär verwendet.
Die Software von Palantir soll vorhersagen können, wo wahrscheinlich welche Straftaten verübt werden. »Predictive policing« wird das genannt, »vorhersagende Polizeiarbeit«.
Das US-amerikanische Unternehmen ist nach magischen Kristallkugeln aus der »Herr der Ringe«-Saga benannt: In den Büchern von J. R. R. Tolkien ermöglichen die Palantír-Steine den Blick über große Entfernungen in Zeit und Raum hinweg, leisten aber auch einen wesentlichen Beitrag zur Korrumpierung der Menschen durch den Erzbösewicht Sauron. Der Name »Gotham« wiederum stammt aus den DC-Comics: So heißt die Stadt, die einzig durch das rechtsstaatlich eher fragwürdige Agieren des einsamen Rächers Batman davor bewahrt wird, endgültig in Kriminalität und Chaos zu versinken.
Der Gründer und Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, Peter Thiel, ist als eine der prägenden Gestalten der neuen technologieaffinen Rechten in den USA bekannt. Die Grundlage seines Milliardenvermögens hat er mit frühen Investitionen bei PayPal und Facebook gelegt und unterstützte Donald Trump schon, als das unter Silicon-Valley-Unternehmern noch ungewöhnlich war.
Seit Trumps jüngstem Wahlsieg hat Thiel viel Geld aufgewendet, um politisch Einfluss zu nehmen. Insbesondere Vizepräsident J. D. Vance gilt als sein langjähriger Protegé. Thiel vertritt eine extrem libertäre Weltsicht mit autoritären Zügen. Ein bekanntes Zitat von ihm lautet: »Ich glaube nicht mehr, dass Demokratie und Freiheit kompatibel sind.«
Gotham in Hessen, NRW und Bayern bereits im Einsatz
Zwar würde Palantir nur die Software liefern, also nicht selbst die Analyse der Daten übernehmen, doch sind viele Details der Software geheim – nur der Konzern selbst weiß genau, wie sie funktioniert. Dass Palantir die von der deutschen Polizei analysierten Daten auslesen kann, lässt sich zumindest nicht komplett ausschließen.
Die Software Gotham ist bereits in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bayern im Einsatz – unter den etwas behördenkompatibleren Namen »Hessendata«, »System zur datenbankübergreifenden Analyse und Recherche – DAR« sowie »Verfahrensübergreifende Recherche und Analyse – VeRA«.
Die Software verspricht, neue Verdachtsmomente und Prognosen zu liefern, indem verschiedenste Datensätze zusammengeführt und analysiert werden. In riesigen Datenmengen soll sie Muster und Zusammenhänge erkennen können und dadurch zum Beispiel Personen finden, die sich verdächtig verhalten haben und zu einem Verbrechen passen. Die Software soll sogar vorhersagen können, wo wahrscheinlich welche Straftaten verübt werden. »Predictive policing« wird das genannt, also »vorhersagende Polizeiarbeit« – eine Art polizeilicher Blick in die magische Glaskugel.
Schwerlich mit Grundrechten vereinbar
In den Datenbanken, die dafür von der deutschen Polizei durchforstet werden können, befinden sich laut Bayerischem Rundfunk gut 30 Millionen Menschen, also mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Es handelt sich keineswegs nur um Straftäter, sondern zum Beispiel auch um Zeugen sowie Opfer von Straftaten.
Die Datenbanken erhalten auch sensible Daten wie medizinische Informationen oder solche, die auf politische und religiöse Einstellungen oder die ethnische Herkunft schließen lassen. All diese Daten durchkämmt die Polizei eifrig nach verdächtigen Mustern – allein in Hessen kam »Gotham« 2.000 Mal in einem Jahr zum Einsatz.
Dass dies schwerlich mit Grundrechten, insbesondere jenem auf informationelle Selbstbestimmung, vereinbar ist, liegt auf der Hand. Das Bundesverfassungsgericht hat daher bereits im Februar 2023 den Einsatz des Systems stark beschränkt, hohe Anforderungen an die gesetzlichen Grundlagen aufgestellt und die entsprechenden Polizeigesetze in Hessen und Hamburg in diesem Punkt für verfassungswidrig erklärt. Nachdem Hessen das Gesetz angepasst hat, wurde eine erneute Verfassungsbeschwerde erhoben, ebenso wie gegen das entsprechende Polizeigesetz von Nordrhein-Westfalen; die Entscheidungen stehen noch aus.
Bayerische Landesregierung macht eifrig Werbung für das System
In Bayern zeigte man sich davon allerdings unbeeindruckt. Im Juni 2024 beschloss der Landtag die Einführung der Software Gotham. Das Bundesland hat sogar einen Rahmenvertrag mit Palantir geschlossen, der es den Polizeien anderer Bundesländer und der des Bundes ohne weitere Ausschreibung ermöglicht, den Einsatz der Software zu übernehmen.
Seither macht nicht nur die bayerische Landesregierung eifrig Werbung für das System, sondern auch die Bundestagsfraktion der Union – zunächst allerdings mit mäßigem Erfolg. In der vergangenen Legislaturperiode entschied sich das Bundesinnenministerium gegen die Einführung der Software auf Bundesebene. Denn bereits im Jahr 2016 haben Bund und Länder sich auf das Programm »Polizei 20/20 (P20)« geeinigt, mit dem laut Bundesratsentschließung vom 21. März »auf Basis eigener digitaler Kompetenz und Souveränität« ein gemeinsames »Datenhaus« errichtet werden soll – eine selbstgebaute Alternative zu Palantir also.
Doch das Vorhaben verläuft schleppend. Zwar sollen noch in diesem Jahr erste Auswertungs- und Analyseservices zur Verfügung stehen, aber das gesamte Projekt soll erst 2030 abgeschlossen sein. Und da es allzu schade um die frisch gekaufte Software von Palantir sowie den schicken Rahmenvertrag wäre, und vielleicht auch weil die Union glaubte, im Bundestagswahlkampf mit innerer Sicherheit noch ein paar Stimmen gewinnen zu können, stellte sie Anfang Februar im Bundesrat den nunmehr angenommenen Antrag, »den zentralen Betrieb einer derartigen Interimslösung« zu ermöglichen, »wie sie in Deutschland teilweise schon im Einsatz« sei – sprich: Palantirs Gotham-System einzuführen.
»Berücksichtigung digitaler Souveränität«
Allerdings stößt selbst manchem konservativen oder sozialdemokratischen Polizeifreund auf, dass der Vorschlag gegen alles verstößt, was seit gut zehn Jahren netzpolitische Debatten prägt und als »digitale Souveränität« in Sonntagsreden und Koalitionsverträgen gerne beschworen wird. Zwar bleibt meistens unklar, was mit diesem Konzept genau gemeint ist, wer Träger jener Souveränität ist und warum sie so erstrebenswert sein soll.
Dass aber der Bundesrat sich ausgerechnet in der Sitzung, in der die Grundgesetzänderung zur Reform der sogenannten Schuldenbremse und die Einsetzung neuer Sondervermögen verabschiedet wurde, dafür ausspricht, sensibelste staatliche Aufgaben an ein US-amerikanisches Unternehmen auszulagern, das mittels einer nicht vollständig zu kontrollierenden Software sämtliche Daten, die bei deutschen Sicherheitsbehörden vorgehalten werden, analysiert und verarbeitet, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn die Grundgesetzänderung wurde bekanntlich damit begründet, dass Deutschland und die EU wegen der Politik der Regierung Trump dringend unabhängiger von den USA werden müsse.
Noch steht nicht fest, ob die künftige Bundesregierung der Bundesratsinitiative folgen wird. Immerhin steht im Koalitionsvertrag auch, dass alles unter »Berücksichtigung digitaler Souveränität« erfolgen solle. Es könnten am Ende also ausgerechnet staatliche Sicherheitsinteressen sein, die zumindest noch für ein paar Jahre den umfassenden Einsatz einer jedem Datenschutz spottende Analyse-Software hinauszögern – zumindest bis die deutschen Behörden eine eigene Version gebaut haben.