24.04.2025
Nachkommen der Armenier, die den Genozid in der Türkei überlebten, kamen als Arbeitsmigranten nach Deutschland

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Vor 110 Jahren begann der Genozid an den Armeniern. Wenig Beachtung findet, wie Überlebende des Völkermords in der Türkischen Republik weiter verfolgt und vertrieben wurden.

Der 24. April 1915, an dem die osmanischen Behörden begannen, mehr als 200 Armenier vor allem in Istanbul zu verhaften, gilt als Auftakt des Völkermords an den Armeniern und ist deshalb ein Gedenktag, in Armenien und Frankreich sogar ein staatsoffizieller, während der Genozid in der Türkei immer noch geleugnet wird. Oft wird der 24. April Tag der »Deportation der armenischen Elite« bezeichnet, denn es traf gezielt Geistliche, Politiker, Ärzte, Verleger, Journalisten, Anwälte und Lehrer.

In mehreren Städten in Deutschland finden rund um den 24. April Veranstaltungen in Erinnerung an den Genozid statt, in Berlin beispielsweise ein mehrtägiges Festival des Maxim-Gorki-Theaters, in Köln eine Veranstaltungsreihe, die die »Initiative Völkermord erinnern« organisiert hat. In Hamburg wird am 26.April im Schauspielhaus eine szenische Lesung aus Laura Cwiertnias Roman »Auf der Straße heißen wir anders« abgehalten.

Der 2022 veröffentlichte Roman schildert das Leben einer armenischen Familie aus der Türkei, die wie viele andere ethnische Armenier in den sechziger Jahren als »türkische Arbeitsmigranten« nach Deutschland kamen. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt, so wie ihre Existenz überhaupt kaum wahrgenommen wurde, obwohl es sich um eine Gruppe von mehreren Tausend Migranten und ihren Familien handeln dürfte, die damals die Chance ergriffen, die Türkei zu verlassen.

In keiner der Ausstellungen oder Veranstaltungen, die seit dem vergangenen Jahr anlässlich des 60. Jahrestags des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens stattfanden, wurde die besondere Situation der armenischen Migranten aus der Türkei thematisiert.

In keiner der Ausstellungen oder Veranstaltungen, die seit dem vergangenen Jahr anlässlich des 60. Jahrestags des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens stattfanden, wurde ihre besondere Situation thematisiert. Denn sie kamen mit türkischen Pässen und häufig auch mit türkischen oder turkisierten Namen. In der Türkei hatte das nationalistische Namensgesetz von 1934 alle Familiennahmen verboten, die auf eine nichttürkische Herkunft schließen ließen (beispielsweise wegen der Endung -yan beziehungsweise -jan bei Armeniern oder -opoulos bei Griechen). Und unter dem Druck der nationalistischen Verfolgung und des entsprechenden Klimas in der Bevölkerung zogen viele Armenier es vor, auch ihre Vornamen zu turkisieren.

Oder aber sie nutzten ihre armenischen Namen nur im geschützten Familienraum und versteckten so ihre Identität vor der Außenwelt. Das schildert auch der Roman von Laura Cwiertnia, der darauf schon in seinem Titel anspielt: »›Du hast doch nicht etwa draußen geredet?‹«, heißt es an einer Stelle. »›Am Ende sagst du einem Fremden noch deinen richtigen Namen.‹ Maryam schüttelte den Kopf. Seit ihrer Kindheit legte sie ihren Vornamen an der Türschwelle ab wie einen Mantel. Zuhause hieß sie Maryam, draußen, Meryem.«

Auch in Deutschland, im Kreise türkischer Arbeitskollegen und Nachbarn, zogen viele es vor, ihre armenische Herkunft zu verbergen. Zahlreiche aus der Türkei eingewanderten Eltern entschieden sich, ihren Kindern nichts über deren armenische Vorfahren zu erzählen, oder erst sehr spät, im Erwachsenenalter.
So entstand die paradoxe Situation, dass die meisten von ihnen die Türkei verließen, um der dortigen Diskriminierung zu entgehen, in der Bundesrepublik aber als Türken angesehen wurden. Die meisten von ihnen waren arm, so arm wie ihre muslimischen türkischen oder kurdischen Kollegen (Armenier sind traditionell Christen), die mit den gleichen Zügen nach Deutschland verfrachtet wurden, und damit entsprachen sie auch nicht dem verbreiteten Klischee von »armenischen Ausbeutern« oder Kapitalisten.

Das Leben der Armenier vor dem Völkermord

Wenn in Deutschland Armenier überhaupt erwähnt werden oder ins Bewusstsein treten, dann als Opfer des Völkermords von 1915. Auch in Laura Cwiertnias Roman hört Karla, die in Deutschland geborene Tochter eines türkisch-armenischen Immigranten, das Wort »Armenier« ein einziges Mal außerhalb des häuslichen Umfelds, als die Lehrerin in der Schule in einem Halbsatz den Völkermord erwähnt. Das Thema wird dann aber sofort als »nicht prüfungsrelevant« gestrichen.

Über das Leben der Armenier vor dem Völkermord ist weniger bekannt. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren 20 Prozent der Bevölkerung Anatoliens Nichtmuslime. Wer heute in der Türkei Städte wie Sivas, Trabzon oder Erzurum besucht, die als türkisch-nationalistische oder islamistische Hochburgen bekannt sind, kann sich kaum vorstellen, dass gerade diese Städte bis 1915 einen sehr hohen armenischen und griechischen Bevölkerungsanteil hatten, dass hier etwa gleich viele Moscheen und Kirchen standen, die zwar meist in getrennten Stadtteilen lagen, aber doch gemeinsam das Stadtbild prägten.

Armenier lebten in Großstädten und in kleinen Dörfern, sie wohnten in Ortschaften mit rein armenischer Bevölkerung oder als Minderheit unter muslimischen Nachbarn und sie waren in allen Schichten der Bevölkerung vertreten. Sehr viele Armenier waren Handwerker, aber es gab ebenso besitzlose Bauern, wohlhabende Bankiers oder Angestellte der osmanischen Verwaltung.

Da sie überall verteilt im Osmanischen Reich lebten und deshalb anders als zum Beispiel viele Serben oder Araber keine nationale Unabhängigkeitsforderungen inklusive Gebietsansprüche stellten, waren sie vielleicht die Gruppe im Osmanischen Reich, deren Politiker und Intellektuelle sich am vehementesten und engagiertesten für Reformen und eine Modernisierung des Reichs und seinen Erhalt einsetzten.

Gründung einer Republik auf den Trümmern des Völkermords

Die Debatte über den Völkermord und vor allem dessen andauernde Leugnung in der Türkei haben aber auch den Blick auf das Schicksal der überlebenden Armenier nach dem Ersten Weltkrieg verstellt. Meist wird über Opferzahlen diskutiert – waren es eine, 1,2 oder 1,5 Millionen? –, nicht aber über das Schicksal der etwa 200.000 Personen, die überlebt hatten und auf dem Gebiet der 1923 gegründeten türkischen Republik blieben.

Diese Gründung erfolgte im Wortsinne auf den Trümmern des Völkermords und der Grundlage des den Armeniern geraubten Besitzes. Dies wird anschaulich, wenn man sich vor Augen führt, dass der Erste Nationalkongress unter Führung Mustafa Paschas 1919 in Erzurum in einer ehemaligen armenischen Schule stattfand und dass der Präsidentenpalast der Türkei über 90 Jahre lang – bis Recep Tayyip Erdoğan sich seinen neuen 1.000-Zimmer-Palast errichten ließ – in Çankaya bei Ankara ebenfalls in einer aus armenischem Besitz konfiszierten Villa beherbergt war.

Die von der Türkei betriebene Leugnungspolitik besteht nicht allein in der Verdrängung des Verbrechens des Genozids. Seit 110 Jahren dauert die Auslöschung der Spuren armenischer Existenz, Kultur und Geschichte überall in der Türkei an, wurden armenische Besitzungen, Kulturstätten oder Kirchen enteignet und zerstört sowie Ortsnamen verändert. Auch die Vertreibung von Armeniern aus Anatolien ging nach dem Genozid weiter, sowohl durch Gewalt muslimischer Nachbarn als auch durch staatliche Politik.

Völlige Abwanderung der überlebenden Armenier aus Anatolien

Armenier wurden elementarer Rechte wie der Freizügigkeit beraubt und 1934 diente das sogenannte Ansiedlungsgesetz (İskân Kanunu) dazu, Zwangsumsiedlungen und Ansiedlungsverbote für bestimmte Regionen zu verfügen. Das Gesetz ist vor allem im Zusammenhang mit der Vertreibung von Kurden aus Dersim und der der Juden aus Thrakien bekannt, führte aber auch zur Vertreibung von Armeniern.

In der Zeit nach dem Völkermord führte auch das Verbot, außerhalb Istanbuls armenische Schulen zu betreiben, nach und nach zur völligen Abwanderung der überlebenden Armenier aus Anatolien. Viele zogen nach Istanbul, um zumindest ihren Kindern eine Schulausbildung in der armenischen Sprache zu ermöglichen, wie es der 2022 verstorbene, aus Diyarbakır stammende armenisch-türkische Schriftsteller Mıgırdiç Margosyan sehr eindrücklich in der Geschichte »Mein Muttersprachenabenteuer« beschrieben hat.

Hinzu kam die Enteignung armenischen Eigentums. Am bekanntesten ist vielleicht die sogenannte Vermögensteuer (Varlık Vergisi) von 1942, faktisch hat es aber während der gesamten Zeit der türkischen Republik Beschlagnahmungen und Enteignungen armenischen Eigentums gegeben. Die Geschichte dessen, wie Verfolgung und Vertreibung in den Jahren der Republik weitergeführt wurden, lässt sich nachlesen in den autobiographischen Romanen und Erzählungen von Mıgırdiç Margosyan, Hagop Agopjan, Zaven Biberyan oder Sarkis Çerkezyan.

Auch in Deutschland entschieden sich zahlreiche aus der Türkei eingewanderten Eltern, ihren Kindern nichts über deren armenische Vorfahren zu erzählen.

Laura Cwiertnias Buch thematisiert diese doppelte Auslöschung der armenischen Existenz und der Erinnerung daran auf recht subtile Weise. Die wichtigsten Informationen erschließen sich erst bei sehr genauem Lesen, weil Schweigen oder Leerstellen auf sie hindeuten. Während der Vater der Hauptfigur seine armenische Zugehörigkeit meist verleugnet oder mit Aussagen wie »das macht nur Probleme« herunterzuspielen versucht, sammelt Karla, seine in Bremen geborene Tochter, in ihrem Kopf »die wenigen Erinnerungen, die mein Vater mir über die Jahre aus seiner Vergangenheit erzählt hat (…) wie andere Briefmarken. Für die meisten Menschen bedeutungslos, für mich Einzelstücke von unschätzbarem Wert.«

Als sie auf eigene Faust nach Istanbul fährt, um Spuren der Familie zu finden, muss sie feststellen: »Je länger ich in Istanbul war, desto mehr kam mir die Stadt vor wie ein Tagebuch. Früher einmal war es dick gewesen, jedes Blatt eng beschrieben. Aber nachträglich waren alle Seiten herausgerissen worden. An den Ecken konnte ich die Reste des Papiers ertasten, die Worte aber waren verschollen.« So beschreibt der Roman nicht nur die Suche nach der Geschichte einer Familie, sondern auch den vergeblichen Versuch, die Geschichte der armenischen Existenz in der Türkei zu rekonstruieren.