24.04.2025
Ingo Petz, Osteuropa­experte, im Gespräch über Repression in Belarus und die Arbeit der Exilopposition

»Das Regime hat panische Angst«

Die »Jungle World« sprach mit dem Journalisten und Osteuropa­experten Ingo Petz über Repression in Belarus, die Aktivitäten der Opposition im Exil und sein Mitte März erschienenes Buch »Rasender Stillstand: Belarus – eine Revolution und die Folgen«.

Vor fünf Jahren demonstrierten in Belarus Hunderttausende gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl. Doch Machthaber Aleksandr Lukaschenko ließ die Proteste brutal niederschlagen und hat seine Macht wieder konsolidiert. Ende März trat er seine siebte Amtszeit an. Welche Atmosphäre herrscht derzeit in Belarus?
Es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Der Raum, in dem man sich noch unbehelligt bewegen kann, ist sehr klein geworden. Derzeit gibt es rund 1.300 politische Gefangene. Das ist für ein Land mit 9,2 Millionen Einwohnern eine wahnsinnig hohe Zahl. Und die Repression geht weiter. Es kann zum Beispiel passieren, dass die Polizei die Handys von Passanten kontrolliert. Wird entdeckt, dass man verbotenen Telegram-Kanälen folgt, kommt man ins Gefängnis. Da alle unabhängige Medien ins Exil getrieben und kriminalisiert wurden, ist es auch nicht leicht, an unabhängige Informationen zu kommen.

Wie reagieren die Menschen auf den staatlichen Druck?
Aufgrund der Repression haben seit dem Jahr 2021 bis zu 600.000 Belarussen das Land verlassen. Vielfach befinden sich Freunde und Familienmitglieder im Gefängnis. Diese Menschen fehlen im Privaten und auf allen Ebenen des Landes. Es mangelt an Ärzten, Lehrern und Facharbeitern in den Staatsunternehmen. Mittlerweile hat das Regime auch Listen von »Illoyalen« angefertigt. Auf diesen landet, wer im Gefängnis war, verbotene Inhalte im Internet geteilt hat oder gegen Lukaschenko protestiert hat. Die Betroffenen haben kaum eine Chance, überhaupt noch an Arbeit zu kommen. Und in Belarus ist der Staat immer noch der größte Arbeitgeber. Das ist alles sehr belastend. Aber die Menschen müssen in irgendeiner Form weiter ihren Alltag bewältigen, arbeiten, funktionieren. Viele verdrängen deshalb die derzeitige Situation.

»Der Anteil der Hardcore-Unterstützer Lukaschenkos liegt ungefähr zwischen 20 und 30 Prozent. Das sind vor allem Leute, die im System arbeiten.«

In Ihrem Buch beschreiben Sie die Proteste von 2020 als den vorläufigen Höhepunkt der belarussischen Freiheitsbewegung. Wie gelang es Lukaschenko dennoch, sich durchzusetzen?
Durch eine enorme Ausweitung der Repressionen. Ein so monströses Ausmaß hatten diese unter Lukaschenko tatsächlich noch nie. Bis 2020 betrafen Repressionen vor allem einen überschaubaren Kreis: Menschenrechtler, Journalisten, oppositionelle Politiker und regimekritische Kulturschaffende. Sie kamen häufig ins Gefängnis. Einfache Bürger waren von der Repression in der Regel nicht betroffen. Das ist seit 2020 anders. Seitdem sind die Zahlen explodiert. Es gibt kaum Menschen, die nicht in irgendeiner Form von Repression betroffen sind. Bis zu 60.000 Belarussen haben mindestens einmal im Gefängnis gesessen, wo sie gefoltert und geschlagen wurden. Wer nicht betroffen war, hat Freunde, Verwandte, Kinder, Enkelkinder, die in Haft gelandet sind oder das Land verlassen haben. Derzeit werden 8.000 Menschen aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt. Mehr als 5.000 Menschen wurden als Extremisten eingestuft. Das sind horrende Zahlen, die in deutschen Medien kaum genannt werden.

Lukaschenko ist mittlerweile stark auf Russland angewiesen und unterstützt dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Welche Rolle spielte Russland bei der Niederschlagung der Proteste von 2020?
Lukaschenko holte sich Putins Unterstützung für die Niederschlagung im September 2020. Ohne sie hätte er sich nicht in dieser Weise durchsetzen können. Das hat einen Preis: Das Regime hat sich international isoliert und wirtschaftlich und politisch völlig von Moskau abhängig gemacht. Und seit 2022 steht es im Krieg gegen die Ukraine an Putins Seite. Das Regime hat sich in eine ausweglose Situation manövriert. Früher versuchte Lukaschenko, durch eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost außenpolitische Handlungsspielräume zu erweitern. Gegenüber der EU wurden immer wieder Öffnungen vorgetäuscht, um Investoren nach Belarus zu locken und das Regime unabhängiger zu machen. Das funktioniert seit 2020 nicht mehr.

Wie hat der exzessive Einsatz von Gewalt gegen Hunderttausende Demonstranten Lukaschenkos Machtapparat verändert?
Seit 2020 hat sich das Regime radikalisiert. Nach den Protesten gab es im System interne Säuberungen. Dabei wurden Funktionäre und Beamte beim geringsten Verdacht auf Illoyalität aussortiert. Wichtige Posten werden seitdem fast durchweg mit hochrangigen KGB-Leuten und loyalen Offizieren besetzt. Die ganzen Behörden und das Strafverfolgungssystem sind nur noch auf Repression konzentriert. Durch die Beteiligung am Krieg gegen die Ukraine radikalisiert sich der Apparat weiter. Man kann durchaus von einer Traumatisierung sprechen: Das Regime hat panische Angst, dass sich Proteste wieder Bahn brechen, wenn man auch nur ein bisschen lockerlässt.

Angesichts von Massenprotesten, Gewalt und Unterdrückung: Hat Lukaschenko überhaupt noch überzeugte Unterstützer in Belarus?
Ja, die gibt es. Der Anteil der Hardcore-Unterstützer Lukaschenkos liegt ungefähr zwischen 20 und 30 Prozent. Das sind vor allem Leute, die im System arbeiten. Funktionäre aus dem riesigen Verwaltungsapparat, Militärs, Geheimdienstler, Mitarbeiter der Behörden, die für Lukaschenkos Sicherheit verantwortlich sind. Die haben ein genuines Interesse am Fortbestand des Regimes. Für sie geht es um den Erhalt ihrer gesellschaftlichen Macht und ihres Auskommens. Sie profitieren von der immanenten Korruption des Systems und können Verwandte und Freunde auf lukrative Positionen hieven. Diese Leute wissen auch, dass nach einer demokratischen Revolution die Verbrechen der Beamten und Funktionäre gesühnt werden müssten.

Die belarussische Demokratiebewegung findet in deutschen und internationalen Medien kaum noch Beachtung. Ihrem Buch zufolge sind die Oppositionellen jedoch weiterhin sehr dynamisch und aktiv. Was machen sie genau?
In der exilierten Demokratiebewegung passiert eine ganze Menge. Sie hat sich mittlerweile institutionalisiert. Da gibt es zum einen das Büro Tichanowskaja im litauischen Vilnius von Swetlana Tichanowskaja, die bis heute die Anführerin der Demokratiebewegung ist. Mit ihren Mitarbeitern sorgt sie dafür, dass die politischen Gefangenen und das Thema Belarus nicht in Vergessenheit geraten. Dafür treffen sich ihre Mitarbeiter mit ausländischen Regierungsvertretern und werben um Unterstützung für die Zivilgesellschaft, exilierte Belarussen und für die unabhängigen Medien.

»Viele der politisch aktiven Belarussen sind im Exil. Sie sind erschöpft und müde in einem Maß, das wir uns gar nicht vorstellen können. Trotzdem engagieren sie sich weiter und bleiben aktiv. Das kann durchaus Hoffnung geben.«

Tichanowskaja kandidierte 2020 bei der Präsidentschaftswahl gegen Lukaschenko, anschließend musste sie das Land verlassen …
Tichanowskaja hat im August 2022 ein Übergangskabinett mit mehreren Fachbereichen wie Soziales und internationale Beziehungen einberufen. Im Falle eines Machtwechsels könnte das Kabinett als eingespieltes Team eine Übergangsregierung bilden. Es bindet auch vielfältige Interessengruppen der Demokratiebewegung ein und ermöglicht ihnen Mitsprache und Repräsentation. Außerdem gibt es noch den Koordinationsrat. Dieser wurde ebenfalls im August 2020 als Expertengremium zur Vorbereitung des Machttransits gegründet und soll nun zu einer Art Protoparlament werden. Dieses soll Strategien für einen Machtwechsel sowie Reformkonzepte erarbeiten, die mit dem Büro Tichanowskajas und dem Übergangskabinett abgestimmt werden. Unter den schwierigen Bedingungen von Exil, Krieg und Repression muss man diese Institutionalisierung der Demokratiebewegung als Erfolg sehen. Bei der Arbeit in diesen Institutionen werden wichtige Erfahrungen gesammelt, um einen demokratischen Machtwechsel vorzubereiten.

Der Blick auf die politische Lage in Belarus gibt wenig Anlass zu Optimismus. Welche Hoffnungen gibt es noch auf einen demokratischen Wandel?
Tatsächlich sind die politischen Voraussetzungen für eine demokratische Revolution gerade sehr schlecht. Hinzu kommt, dass die US-Regierung unter Donald Trump nun auch noch gegen Zivilgesellschaft und Medien arbeitet. Viele der politisch aktiven Belarussen sind im Exil. Sie sind erschöpft und müde in einem Maß, das wir uns gar nicht vorstellen können. Trotzdem engagieren sie sich weiter und bleiben aktiv. Das kann durchaus Hoffnung geben.
Auch die Belarussen kämpfen um ihre staatliche Existenz. Denn wenn sich Russland in der Ukraine durchsetzt, ist mit aller Wahrscheinlichkeit auch das unabhängige Belarus Geschichte. Das müssen wir uns vor Augen führen. Im Moment sind demokratische Änderungen nicht absehbar. Aber wir leben in einer sehr dynamischen Zeit, in der Entwicklungen möglich sind, die wir nicht voraussehen. Und möglicherweise tut sich für Belarus dann ein Fenster für demokratische Veränderungen auf.

Ingo Petz redet, mit Mikrofon

Ingo Petz beschäftigt sich als Journalist und Autor seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit Belarus. Seit November 2020 leitet er beim Online-Portal »Dekoder« die Belarus-Redaktion. Der 51jährige gilt als einer der profiliertesten deutschsprachigen Kenner des osteuropäischen Landes. Im März erschien sein neues Buch »Rasender Stillstand. Belarus – Eine Revolution und ihre Folgen«. 

Bild:
Siarhei Balai