Craig Thompsons Ginsengwurzel-Elegie
Die Bettdecke zurückschlagen und aufstehen, um sich im Morgengrauen auf die Felder zu schleppen. Craig und seine Geschwister müssen in den Schulferien auf der Ginsengfarm der Eltern schuften. Davon erzählt Craig Thompson in seinem jüngsten autobiographischen Comic »Ginsengwurzeln«, der rund zwei Jahrzehnte nach der bahnbrechenden Graphic Novel »Blankets« erschienen ist. Mit dem 2003 erschienenen Bilderroman hatte der Autor Maßstäbe gesetzt und das Genre der autobiographischen Graphic Novel populär gemacht.
»Blankets« schildert Thompsons Jugend in einer freikirchlichen Gemeinde im Provinznest Marathon, Wisconsin. Es geht um das Verhältnis zu den streng religiösen Eltern. Und um jenes zum jüngeren Bruder, mit dem er typische Jungsabenteuer erlebt, bis sie sich einander entfremden. Während seine Mitschüler sich anderweitig austoben, entdeckt der talentierte Craig das Zeichnen für sich. Seine erste Liebe zu einer jungen Frau in einem christlichen Wintercamp verändert alles.
Autobiographischer Zugang
In seinem Bericht spiegeln sich die großen Themen Liebe, Spiritualität und Zweifel, Verwirrung und Selbstfindung, die die Jugend bestimmen. »Blankets« besticht durch die zarten Zeichnungen, die realistisch gestaltet sind, aber durch ihren reduzierten Strich einen Hauch von Cartoons haben. Der Name »Blankets« bezieht sich auf alle möglichen Decken, die im Buch erscheinen. In der deutschen Ausgabe wurde der Titel dankenswerterweise im Original belassen. In Bettdecken gekuschelt, findet der Erzähler allein oder zu zweit Geborgenheit. Gemeint ist aber auch das Schweigen, mit dem bestimmte Themen zugedeckt werden, sowie die Schneedecke, welche die Winterlandschaften überzieht.
Die Offenheit, mit der der Autor über seine Jugend erzählt, war in Comics bis dahin nicht bekannt. Der autobiographische Zugang war neu und aufregend und hatte nichts von der routinierten Selbstentblößung manch heutiger Graphic Novels. Doch Craig Thompsons heitere Freimütigkeit passte allerdings nicht allen. US-amerikanische Konservative forderten, »Blankets« aus öffentlichen Bibliotheken und Schulen zu verbannen. Im Bundesstaat Utah ist das Buch seit 2024 in Schulen verboten.
Nach der im Orient angesiedelten Liebesgeschichte »Habibi« (2011) und der Fantasy-Kinderfabel »Weltraumkrümel« (2015) haderte Thompson mit sich und der (Comic-)Welt. Zudem machte Thompson die Autoimmunerkrankung Fibromatose schwer zu schaffen, die zu schmerzhaften Verformungen seiner Hände führt. Die Krankheit erschwerte ihm das Zeichnen immer mehr und ließ ihn an der künstlerischen Arbeit zweifeln, die für ihn lange Zeit die Lebensaufgabe war.
»Comics waren für mich wie Kirche«, bekennt der Erzähler in »Ginsengwurzeln«. In den Heften fand der Junge Sinn, wenn die Welt mal wieder zu grau oder grausam war.
»Comics waren für mich wie Kirche«, bekennt der Erzähler in »Ginsengwurzeln«. In den Heften fand er Sinn, wenn die Welt mal wieder zu grau oder grausam war. Sie ließen ihn auch die schwere Feldarbeit in den Sommerferien überstehen: Von dem Taschengeld, das die Eltern den Kindern für die Feldarbeit gaben, kaufte Craig sich die geliebten Comichefte. Es geht auch darum, wie sehr das Erfolgsbuch »Blankets« sein Leben verändert hat. Die Abkehr vom christlichen Glauben, zu der er sich im Buch bekannte, hätten ihm die Eltern über Jahre übelgenommen. Heute aber seien sie stolz auf den Sohn, dessen Werke sie im ansonsten leeren Bücherregal aufbewahren.
Kurz erwähnt wird auch seine Schwester, von der in »Blankets« nie die Rede war. Thompson rechtfertigt diese Auslassung so: Er habe mit ihr nie Konflikte gehabt, von denen er hätte erzählen können. Erneut geht es aber um das Verhältnis zum Bruder, der auch nicht über alles, was in »Blankets« über ihn mitgeteilt wurde, erfreut war. Inzwischen hat er den Comic als Erinnerungsbuch zu schätzen gelernt.
Vor allem dreht sich der neue Comic um die Kultivierung des Ginseng. Thomson erzählt von dessen wenig bekannter Geschichte im Westen. Im Jahr 1713 beschrieb ein Jesuit nach einer China-Reise erstmals die Pflanze und ihre heilende Wirkung. Er vermutete, dass sie aufgrund des Klimas auch in Kanada wachsen könne. Tatsächlich wurde wilder Ginseng auch in Nordamerika entdeckt und bald nach China exportiert, wo er als Medizin und Nahrungsmittel bis heute begehrt ist. Dadurch wurde die Pflanze in den USA fast ausgerottet, weshalb man dort mit der Züchtung und dem Anbau begann. Ein eigener Zweig der Agrarindustrie erwuchs daraus. In den achtziger Jahren war Thompsons Heimat Marathon der größte Produzent von US-amerikanischen Ginseng – und er als Ferienarbeiter mittendrin.
Wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Pflanze
Im Comic lässt er Farmer von damals zu Wort kommen, besucht das erste örtliche Ginseng-Festival. Man erfährt von der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der Pflanze. Nach der Lektüre weiß man auch, warum man die Pflanze nie zwei Mal im selben Boden anpflanzen kann. Detailliert schildert Thompson, wie mit Stroh bedeckter Boden Waldboden simuliert und wie Holzabdeckungen mit Aussparungen Laubdächer nachahmen. Viele Prozesse werden in allen Details geschildert.
Das fällt manchmal etwas zu ausführlich aus. Wenn dann noch die Einwanderungsgeschichte der in Südostasien indigenen Hmong nach dem Vietnam-Krieg angerissen wird, verliert die Erzählung ihre Spannung. Sicher, auch diese Geschichte lässt sich mit Entwurzelung assoziieren, sie wäre aber ein eigenes Thema. Aber das ist der einzige Kritikpunkt, der sich gegen das opulente Werk vorbringen lässt.
Auf Chinesisch heißt Ginseng »Menschliche Wurzel«, weil er – wie die in Europa altbekannte Alraune – eine humanoide Form besitzt: Die Verästelungen der Wurzel erinnern an menschliche Gliedmaßen. Und Thompson schneidet die Geschichte der menschlichen Pflanze gekonnt mit der seiner eigenen Wurzeln zusammen. Wenn er sich etwa als Sisyphos imaginiert, der Felder von Wackersteinen zu befreien versucht, während er vom Marvel-Imperium als künftigem Arbeitgeber träumt.
Wenn Craig Thompson nach so vielen Jahren zu seinen roots zurückkehrt, dann vielleicht auch, um sich an den Traum von einst zu erinnern. Der Comic mag eine Art Selbstversicherung sein.
Mit der Arbeit als Zeichner will er Klassenschranken überschreiten. Doch mit welcher Geringschätzung man in Künstlerkreisen auf die armen Leute schaut, habe er nie vergessen, gesteht Thompson an einer Stelle. Gewissensbisse hätten ihn zudem geplagt, weil Zeichnen keine richtige Arbeit, keine harte Handarbeit sei – so wie er sie auf den Ginsengplantagen kennengelernt hat.
Wenn Craig Thompson nach so vielen Jahren zu seinen roots zurückkehrt, dann vielleicht auch, um sich an den Traum von einst zu erinnern. Der Comic mag eine Art Selbstversicherung sein. Auch zeigt der Autor mit »Ginsengwurzeln«, dass er noch zur großen graphischen Erzählung imstande ist. Noch ausgereifter als in »Blankets« ist hier die für ihn typische Überblendung von Realismus und Cartoons. Zum feinen schwarzen Strich kommen vielerlei Rottöne. Sie schaffen stimmungsvolle Lichteffekte, wenn die glühende Abendsonne sich über Marathon senkt oder sich die Brüder Thompson im schimmernd anbrechenden Morgengrauen zu den Ginsengfeldern schleppen. Aber Thompson deutet in der Erzählung auch an, dass es durch seine Krankheit bedingt sein letzter großer Comic sein könnte.
Craig Thompson: Ginsengwurzeln. Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Wieland. Reprodukt, Berlin 2024, 456 Seiten 39 Euro