24.04.2025
Der Film »Toxic« porträtiert junge Frauen im postsowjetischen Litauen

Modeln zwischen Industrieruinen

Kein Gesinnungskino: Der litauische Film »Toxic« erzählt die Geschichte zweier Mädchen, die sich in den Trümmern des Post­sozialismus anfreunden und den Traum teilen, Model zu werden.

In einer litauischen Stadt fristet die Teenagerin Marija (Vesta Matulytė) ein tristes Dasein zwischen Plattenbauten und Industrieruinen. Sie lebt bei ihrer Großmutter, wohin sie die Mutter abgeschoben hat. In ihrer neuen Schule wird sie aufgrund eines angeborenen Gehfehlers gemobbt, die Mitschülerin Kristina (Ieva Rupeikaitė) stiehlt ihr gar die Jeans aus dem Spind der Umkleidekabine.

In der heruntergekommenen Stadt gibt es nicht viel zu tun, die Jugendlichen hängen herum, beschmieren Wände und überreden Erwachsene, ihnen Alkohol zu kaufen – die einen scheinen dabei sympathisch und unbeschwert, die anderen grob und gehässig. Marija und Kristina begegnen sich einige Tage nach dem Diebstahl beim Vorsprechen in einer Model-Agentur wieder, wobei Kristina Marijas Jeans trägt und von dieser konfrontiert wird. Später kommt es zu einer Prügelei im Regen auf dem nassen Asphalt.

Statt sich der Illusion einer einfachen Auflösung der verfahrenen Verhältnisse hinzugeben, widmet sich »Toxic« einer detaillierten Untersuchung jener Bedingungen, die junge Mädchen auf ihre bloße körperliche Existenz zurückwerfen.

Saulė Bliuvaitės Langspielfilm­debüt »Toxic« führt den trostlosen Ort des Geschehens zu einem wavelastigen Soundtrack in naturalistischen, beinahe dokumentarisch wirkenden Farben ein, die von der strengen Bildkomposition allerdings konterkariert werden – dieser Stil wird konsequent beibehalten und konstituiert eine bemerkenswerte, ­eigenwillige Ästhetik. Bereits die erste Kameraeinstellung, die die Szene in der Umkleidekabine zeigt, teilt das Bild in eine obere Hälfte, die die rechteckigen Deckenplatten des So­wjetbaus zeigt, und eine untere, in der die Mädchen getrennt durch die Spinde verloren herumstehen.

Die Perspektive vermittelt so den kühlen Blick einer Überwachungskamera und offenbart darin etwas von der Programmatik des Films, der anders als der etwas unglücklich gewählte internationale Titel – der litauische Originaltitel »Akiplėša« ließe sich mit »Rüpel« oder »Göre« übersetzen – befürchten lässt, weniger anklagend als darstellend daherkommt.

Erst Feindinnen, dann Freundinnen. Marija (Vesta Matulytė) und ­Kristina (Ieva Rupeikaitė)

Erst Feindinnen, dann Freundinnen. Marija (Vesta Matulytė) und ­Kristina (Ieva Rupeikaitė)

Bild:
© Akis Bado/Grandfilm

Infolge der Schlägerei nähern sich Marija und Kristina überraschend einander an, langsam entwickelt sich eine Freundschaft. Auch Kristinas familiäre Verhältnisse sind eher trist, sie lebt mit ihrem Vater (Giedrius Savickas) zusammen, der sie – auch unter Zahlung kleiner Bestechungsgelder – regelmäßig des Hauses verweist, um seiner Affäre nachgehen zu können.

Um ihrem Traum vom Modeln näherzukommen, wirft die ohnehin schlanke Teenagerin ihr Essen aus dem Fenster und sucht im Internet regelmäßig nach Möglichkeiten zur Gewichtsabnahme, etwa durch die Injektion des Urins von Schwangeren oder übermäßiges Schlafen mit Hilfe von Schlaftabletten. Marija bemüht sich derweil, sich ihr Humpeln abzutrainieren – in einer Welt ohne Bildungschancen und Perspektiven scheint der einzige Weg hinaus über die Zurichtung des eigenen Körpers zu führen.

Kristina treibt diese schließlich so weit, dass sie sich von einem Bekannten eine Kapsel mit Bandwurmeiern im Darknet bestellen lässt, so dass der Parasit sich in ihr einniste und ihr beim Abnehmen helfe – um ihn bezahlen zu können, verkauft sie Goldzähne. Mit derlei drastischen Einfällen zeichnet Bliuvaitė ein erschütterndes Bild der Verzweiflung, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vielerorts aufgetan hat.

Im Zeichen eines lethargischen Realismus

Gleichwohl wirkt dieses nie ­effekt­hascherisch, sondern steht vielmehr im Zeichen eines lethargischen Realismus, der durch das mimik­arme, bisweilen geradezu sediert wirkende Spiel der beiden Laien­dar­stellerinnen gekonnt unterstrichen wird. Auch das Szenenbild ist hier hervorzuheben, könnten doch zahlreiche Aufnahmen von Wellblechhütten, Autowracks oder einem kleinen See vor einer Industriekulisse auch als Fotografien für sich stehen.

An Letzterem berichtet eine etwas ältere Schwangere den jüngeren Mädchen beim Baden von ihren Erfahrungen als Escort-Model in der New Yorker Partyszene und gibt dabei einen deprimierenden Einblick in die düstere Erfüllung des Traums von der großen Welt. Zwar habe sie ihre Tage frei in Stadt verbringen können, auf den ermüdenden Partys sei es aber vor allem darum gegangen, ihre Gläser aus Sorge vor K.-o.-Tropfen nicht aus dem Blick zu lassen und die Avancen älterer Herren abzuwehren.

In der Abwehr männlicher Annäherungsversuche müssen sich auch Marija und Kristina bald üben, als sie sich zwecks Alkohol- und Drogenkonsums zunehmend in Gesellschaft älterer Jungengruppen begeben. Zwischen zotiger Übergriffigkeit und stumpfem Rausch scheinen dabei zaghaft auch Momente zärtlicher Intimität auf.

Postsowjetische Tristesse. »Toxic« spielt in den Industrieruinen der ehemaligen Sowjetunion

Postsowjetische Tristesse. »Toxic« spielt in den Industrieruinen der ehemaligen Sowjetunion

Bild:
© Akis Bado/Grandfilm

Es sind diese Zwischentöne, die »Toxic« davor bewahren, zum Gesinnungskino zu geraten. Statt sich der Illusion einer einfachen Auflösung der verfahrenen Verhältnisse hin­zugeben, widmet sich der Film einer detaillierten Untersuchung jener Bedingungen, die junge Mädchen auf ihre bloße körperliche Existenz zurückwerfen – und sucht den Kontrapunkt zu diesen nicht in abstrakten Überzeugungen, sondern im zerbrechlichen Glück menschlicher Nähe.

Diese findet sich vor allem in der wachsenden und mit zunehmender Nähe einhergehenden Freundschaft zwischen Kristina und Marija, aber auch in der unvoreingenommenen Zuneigung Letzterer zu einem übermäßig großgewachsenen Nachbarmädchen, mit dem sie heimlich raucht. Und auch die Leiterin der Model-Schule, an der Marija und Kristina sich bemühen, zeigt bei aller Objektifizierung und allem ­Magerwahn doch auch eine Aufmerksamkeit für die sehr individuelle Schönheit Marijas.

Bedrückend ausweglose Lebenswelt 

Sie scheint so zunächst bessere Chancen an der Model-Schule zu haben als ihre neidisch keifenden Konkurrentinnen. Während Kristina derweil zusehends von ihrem Bandwurm geplagt wird und alle Versuche, ihn wieder loszuwerden, scheitern, verkauft ihr Vater überraschend sein Auto, um ihr ein teures Fotoshooting zu ermöglichen. In einem knappen Satinkleid soll sie sich dabei auf dem Bett räkeln und wird vom Fotografen fortwährend aufgefordert, zu lächeln – wie schon Marija zuvor bei den Aufnahmen für das Casting kann sie sich mehr als eine minimale Anspannung der Mundwinkel nicht abringen. Noch der selbstlose Versuch des Vaters, seiner Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen, führt in deprimierendes Elend.

»Toxic« entfaltet so das Bild einer bedrückend ausweglosen Lebenswelt in der vergessenen Peripherie der ehemaligen Sowjetunion, in der junge Mädchen, ausgeschlossen aus der kulturellen und intellektuellen Sphäre, einzig und allein durch den Einsatz ihres Körpers auf Prosperität hoffen dürfen. Zwischen der Bedrängnis durch das Begehren der Männer, den neidischen Gehässigkeiten Gleichaltriger und einer Perspektiv­losigkeit, die unterschiedliche Arten der Prostitution als einzigen Weg in die Zentren der Welt erscheinen lässt, findet Bliuvaitės Drama einen gewissen Trost in der Beobachtung, dass sich auch im stumpfsten Totschlagen von Zeit bisweilen Momente von Unbeschwertheit auftun – und dass aus Rivalinnen Freundinnen werden können.

»Toxic« vermittelt bei allem schonungslosen Realismus die zaghafte Hoffnung, dass selbst unter starren, übermächtigen und elenden Verhältnissen Menschen unverhofft auf eine Weise zueinanderfinden können, die mit dem stumpfen Gang der Dinge bricht.

In einer Schlüsselszene bricht der Film mit seiner realistischen Bild­gestaltung und zeigt Kristinas Vater mit seiner Liebschaft, wie sie aneinander gelehnt sanft im Wohnzimmer tanzen. Die Szene wirkt theaterhaft inszeniert und ausgeleuchtet, statt der durch die Bilder auf dem Fernsehbildschirm nahegelegten Volksmusik ertönt dazu abermals ein Wave-Song. Die Konstellation vermittelt den vagen Eindruck eines transzendenten Enthobenseins – vielleicht zeigt sie den Moment, in der aus einer Affäre zur gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung eine vorsichtige Liebe entsteht.

Und vielleicht veranlasst diese Liebe den Vater, seine Selbstbezogenheit zu überwinden und ein Opfer für seine Tochter zu bringen. So vermittelt »Toxic« bei allem schonungslosen Realismus auch hier die zaghafte Hoffnung, dass selbst unter starren, übermächtigen und elenden Verhältnissen Menschen unverhofft auf eine Weise zueinanderfinden können, die mit dem stumpfen Gang der Dinge bricht.

Toxic (Litauen 2024). Buch und Regie: Saulė Bliuvaitė. Darsteller: Vesta Matulytė, Ieva Rupeikaitė