»Die Amerikaner sind da!«
Am 20. März 1933 gab Heinrich Himmler auf einer Pressekonferenz die Eröffnung des ersten Konzentrationslagers in der Nähe der oberbayerischen Kleinstadt Dachau bekannt. Zwei Tage später wurden 96 Häftlinge eingeliefert.
Zunächst inhaftierten die Nationalsozialisten in Dachau politische Gegner des Regimes wie etwa Sozialdemokraten oder Kommunisten. Später folgten Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Bibelforscher, Kriegsgefangene und Homosexuelle. Das ursprünglich für 5.000 Gefangene geplante KZ existierte bis zum 29. April 1945; es war eines der letzten Lager, die von den Alliierten befreit wurden.
In zwölf Jahren wurden rund 200.000 Menschen aus ganz Europa hier eingesperrt, gedemütigt und gefoltert; mehr als 40.000 Häftlinge wurden erschlagen, erschossen, starben an Entkräftung oder verhungerten. Dachau galt lange Zeit auf der ganzen Welt als ein Synonym für das deutsche KZ-System. Hier ist die »Lagerordnung für alle späteren KZ erfunden worden«, stellt der Historiker Wolfgang Benz fest.
Als Ausdruck ihrer Freude über die Anerkennung als eigene »nationale« Verfolgtengruppe hissten die Juden an einem Wachtturm des einstigen Konzentrationslagers die blau-weiße Fahne mit dem Davidstern.
Zum Wesen des NS-Regimes gehörte eine Herrschaftsform des Schreckens, die in einem Netz von 24 Konzentrations- und Vernichtungslagern mit über 1.000 Außenlagern in ganz Europa errichtet wurde. Als einen der ersten dieser »Orte des Terrors« befreite die Rote Armee am 27. Januar 1945 in Auschwitz die letzten Überlebenden dieser Todesfabrik; im Laufe des Frühjahrs folgten weitere Lager, wie etwa Sachsenhausen und Ravensbrück. Mit dem Vormarsch der Alliierten gelang es britischen Truppen im April 1945, das Konzentrationslager Bergen-Belsen zu befreien, während US-amerikanische Einheiten den Häftlingen von Buchenwald und wenig später denen von Dachau die Freiheit schenken konnten.
»Die Amerikaner sind da!«, schreibt der deutsche Häftling Edgar Kupfer-Koberwitz in seinen Tagebuchaufzeichnungen über den Tag der Befreiung des Lagers Dachau. »Kranke verlassen die Betten, die fast Gesunden und das Blockpersonal rennen auf die Blockstraße, springen aus den Fenstern, klettern über Bretterwände, laufen auf den Appellplatz. Man hört von Weitem das Schreien und Hurra-Rufen. Es sind Freudenschreie. Kameraden kommen zu mir ans Lager, Franzosen, Russen, Juden, Italiener. Wir küssen uns wie Brüder und beglückwünschen uns. Viele haben Tränen in den Augen. Wir drücken uns die Hände: Frei, frei!«
Das Sterben war noch nicht zu Ende
Sie hatten überlebt, gleichwohl war mit der Niederschlagung der NS-Herrschaft noch lange nicht das Ende des Sterbens verbunden. So waren allein im Mai noch mehr als 2.000 Tote in Dachau zu beklagen. »In den ersten Tagen nach der Befreiung mussten wir uns um die vielen Toten kümmern. Die meisten lagen in Güterwagen, die nach Dachau gebracht und auf einem Abstellgleis zurückgelassen wurden«, notierte der US-amerikanische Militärrabbiner Abraham Klausner, der mit dem 116th US Evacuation Hospital in Dachau zum Einsatz kam. »Die Körper quollen förmlich aus den offenen Waggons auf den Asphalt, wo schon eine Reihe Leichen lagen, die im Krematorium verbrannt werden sollten,«, so Klausner in seinen Erinnerungen.
Der Rabbiner sah es als seine traurige Pflicht an, die vielen Toten – den Umständen entsprechend zumeist in Massengräbern – nach jüdischem Ritus zu bestatten. Später konnten einige der Ermordeten auf dem städtischen Friedhof in eigenen Gräbern beerdigt werden, wie Klausner berichtet: »Jeden Tag hob ein Kontingent deutscher Kriegsgefangener Gräber aus.«
Lastwagen beförderten die Leichen aus Dachau und dem nahen Außenlager Allach dorthin. »Einer nach dem anderen wurden die Körper in Einzelgräbern bestattet. Am Ende des Tages ging ich zum Friedhof«, so erinnert sich Klausner »und rezitierte die traditionellen Worte – gepriesen und geheiligt sei dein Name – in Gegenwart von niemandem außer Gott und den Toten.«
Nach der Befreiung grassierte eine Typhusepidemie
Gerettet werden konnten rund 30.000 ehemalige Häftlinge, darunter auch einige Tausend Juden. »Alle Lagerinsassen, Juden und Nichtjuden, brennen darauf, das Lager zu verlassen«, berichtete die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau unter dem Titel »Die jüdische Flagge weht über Dachau« am 18. Mai 1945. Wegen einer Typhusepidemie dauerte es noch drei Monate, bis die Überlebenden wirklich frei waren. Zur »Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung« gründeten die ehemaligen Gefangenen ein Internationales Häftlings-Komitee, in dem alle Nationen vertreten waren.
Die befreiten Juden Dachaus sahen sich in diesem Ausschuss jedoch nicht repräsentiert und beschlossen, eine eigene Vertretung ins Leben zu rufen, »die für alle Juden sprach, ungeachtet deren Nationalität«. Sie verzichteten daher auf ihre Staatsangehörigkeit und erklärten sich zu staatenlosen Bürgern. Die US-Behörden erkannten das Jewish Committee jedoch nicht an, da es nach ihrer Auffassung keine jüdische Nationalität gab.
Letztlich einigten sich beide Seiten auf einen Kompromiss: Die Interessenvertretung der Juden durfte weiterhin bestehen, nur wurde die Bezeichnung auf den neutraleren Namen »Jewish Information Office« geändert. »Wir bekamen ein kleines Büro und begannen mit der Arbeit. Wir waren nun die offiziellen Interessenvertreter der jüdischen Insassen, mit den gleichen Rechten wie die anderen nationalen Komitees«, schrieb das ehemalige Vorstandsmitglied Joel Sack triumphierend in seinen Erinnerungen.
Nachdem der US-Militärrabbiner David Max Eichhorn aus der Tora gelesen, einige Lieder angestimmt und Gebete gesprochen hatte, sangen etwa 2.000 Menschen mit Inbrunst die Nationalhymne des noch nicht existierenden jüdischen Staates, die Hatikvah.
Als Ausdruck ihrer Freude über die Anerkennung als eigene »nationale« Verfolgtengruppe hissten die Juden an einem Wachtturm des einstigen Konzentrationslagers die blau-weiße Fahne mit dem Davidstern. Zuvor, am 6. Mai 1945, hatten sich die befreiten Juden schon einmal demonstrativ als Gruppe hervorgetan. Auf dem Appellplatz des Lagers versammelten sich »alle Juden, Männer und Frauen, deren Gesundheit es zuließ«, zu einem Gottesdienst. Vertreter aller Nationen mit ihren Fahnen sowie eine Ehrengarde der US-Armee waren dazu angetreten. Nachdem der US-Militärrabbiner David Max Eichhorn aus der Tora gelesen, einige Lieder angestimmt und Gebete gesprochen hatte, sangen etwa 2.000 Menschen mit Inbrunst die Nationalhymne des noch nicht existierenden jüdischen Staates, die Hatikvah.
Doch bis sich die Juden in Erez Israel niederlassen konnten, war noch ein schwerer Weg zu beschreiten und viel Leid zu erdulden, wie der etwa zu dieser Zeit verfasste Hilferuf eines ehemaligen Häftlings verdeutlicht: »Von Gott verlassen leben wir hier in Dachau und wissen immer noch nicht, wann wir diese als Hölle bekannte Welt verlassen können.«
Die jüdische DP-Gemeinde Dachau löste sich Anfang der fünfziger Jahre auf
Viele Shoah-Überlebende fanden eine temporäre Heimat in den nahegelegenen Displaced Persons Camps, wie etwa in Feldafing, Landsberg oder Föhrenwald. Einige ehemalige Häftlinge ließen sich aber auch in der Stadt und im Landkreis Dachau nieder. »Das hiesige jüdische Komitee betreut 550 jüdische Einwohner einschließlich drei Kibbuzim«, teilte der Vorsitzende des Jewish Committee Dachau, Joel Sack, einer jüdischen Hilfsorganisation im Dezember 1946 mit. Die DP-Gemeinde Dachau organisierte soziale, sportliche und kulturelle Aktivitäten. In den Kibbuzim lernten junge Juden Grundlagen der Landwirtschaft, um beim Aufbau des jüdischen Staates in Palästina mitzuhelfen.
Die jüdische DP-Gemeinde Dachau löste sich Anfang der fünfziger Jahre auf. Die Kibbuzim im Landkreis wurden bereits 1947/1948 geschlossen, da ihre Mitglieder sich beizeiten auf den langen und beschwerlichen Weg nach Israel gemacht hatten.