01.05.2025
Was Gilles Deleuzes Vorlesungen über die Malerei nicht thematisieren

Was die Maler-Delphine zwitschern

Die Lehrveranstaltungen des französischen Philosophen Gilles Deleuze an der Experimentaluniversität Paris-Vincennes sind sagenumwoben. Seine Vorlesungen »Über die Malerei« von 1981 kann man nun in einem Band nachlesen, inklusive der Einwürfe seiner Studierenden.

Die Vorlesungsreihe über die Malerei beginnt mit der Katastrophe. Die Malerei, sagt Gilles Deleuze, gehe aus ihr hervor. Aber da fängt das Rätselraten auch schon an. Worin besteht sie eigentlich, die katastrophale Situation, wer oder was löst sie aus, zu was führt sie genau? In den Vorlesungen, die der französische Philosoph Gilles Deleuze (1925–1995) 1981 an der berühmten Reformuniversität Paris-Vincennes gehalten hat, ist nicht immer ganz klar, wovon die Rede ist.

Es geht um das Wesen der Malerei und um die Frage, was sie möglicherweise zur Philosophie beizutragen hat. Aber die Antworten werden anhand von Begriffen diskutiert, die sich keinesfalls von selbst verstehen: Neben der Katastrophe geht es um das Chaos, um Diagramme, Modulationen, Farbregime. Deleuze diskutiert Methoden zur Entzifferung der Bilder anhand von Maltechniken und Farbgebungen. »Malen, das ist Licht oder Farbe modulieren.«

Diesen Modulationen geht er am Beispiel bekannter Maler und ihrer Konzeptionen der Bilder nach. Das Diagramm stifte Ordnung in verschiedenen Ausformungen, das Farbregime beschreibe die gewählte Kon-stellation und Luminanz der Farben. Gesättigt, gebrochen, gedämpft wie bei Caravaggio, stumpf bei Rubens. Die Farbregime veränderten sich und ihre Kriterien im Laufe der Geschichte der Malerei.

Angesichts des Kontextes ist es erstaunlich, über was Deleuze alles nicht redet. Was ihn überhaupt nicht interessiert, sind beispielsweise die zentralen Fragen materialistischer Kunsttheorie.

Deleuze hielt von 1970 bis 1987 eine wöchentliche Vorlesung an der Universität Vincennes, darunter waren acht Vorträge über die Malerei, von März bis Juni 1981. Sie erscheinen nun erstmals als Transkriptionen in deutscher Übersetzung in dem bei Suhrkamp publizierten Band »Über die Malerei«. Im Vorwort betont der Herausgeber David Lapoujade, dass die Ausführungen Deleuzes untrennbar mit den Ideen des Centre universitaire expérimental de Vincennes (CUEV) verbunden sind.

Die 1969 gegründete Hochschule, an der die wichtigsten Intellektuellen des linksalternativen Milieus lehrten, stellte Hierarchien, institutionelle Strukturen und wissenschaftliche Konventionen radikal in Frage. Neben Deleuze waren Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Paolo Pasolini, Jean-François Lyotard, Jacques Lacan und Herbert Marcuse als Dozenten und Professoren tätig. Deleuze, so Lapoujade, habe nie Vorlesungstexte verfasst, sondern lediglich kurze Notizen und wenige Bücher vor sich gehabt, »manchmal sogar nur herausgerissene Seiten, wenn die Bücher zu dick waren, aus denen er Abschnitte vorlas«.

Die Vorlesungen entwickeln ihren ganz eigenen Sog. Neben eher kryptischen Andeutungen gibt es Passagen, die sehr ausführlich sind, etwa wenn Deleuze danach fragt, ob die Malerei eine Sprache ist. Dazu geht er auf die Theorie des Anthropologen Gregory Bateson über die Kommunikation der Delphine ein, die er mit der Sprache der abstrakten Malerei vergleicht.

Der antiautoritäre Geist der Experimentaluniversität

Deleuze kommt zu dem Schluss: »Ich habe irgendwie das Gefühl, dass der abstrakte Maler genau wie ein Delphin ist. Es sind Delphine, Maler-Delphine. Deswegen sind sie abstrakt. Ihr wahres Vorgehen besteht darin, einen Code für alle möglichen Stoffe und einen genuin analogen Inhalt zu erfinden. Sie pfropfen dem pikturalen Stoff einen durch und durch pikturalen Code auf. Damit erreichen sie etwas Geniales. Mit anderen Worten, das sind keine abstrakten Maler, es sind wahrhaft Meeressäugetiere. Wie mir scheint, ist es dasselbe Problem wie mit den Delphinen. Aber egal. Hauptsache, wir kommen ein wenig voran.«

Die dialogische Form der Vorlesungen, die durch die ebenfalls abgedruckten, zum Teil ausführlichen Redebeiträge aus dem Publikum nachvollziehbar wird, bringt den antiautoritären Geist der Experimentaluniversität zum Ausdruck. Die Kommentare der Hörer und Hörerinnen ergänzen Deleuzes Gedanken; er lässt sich von ihnen zum Weiterdenken treiben.

Angesichts dieses Kontextes ist es jedoch erstaunlich, über was Deleuze alles nicht redet. Was ihn überhaupt nicht interessiert, sind beispielsweise die zentralen Fragen materialistischer Kunsttheorie: Er fragt sich nicht nach der Entstehung eines »schönheitsgenussfähigen Auges« (Marx) im Kontext einer Klassengesellschaft, er interessiert sich also nicht für die sozialen Voraussetzungen von Kunstproduktion und -rezeption.

Deleuze bleibt ganz im Gegenstand

Auch die Frage danach, ob Kunst tendenziell Ideologie oder Wahrheit produziert, oder ob diese Frage durch eine Repräsentationskritik obsolet geworden ist, stellt sich Deleuze nicht. Die Frage nach den Mitteln und Möglichkeiten, durch Kunst in soziale Verhältnisse zu intervenieren, stellt er ebenfalls nicht. Deleuze bleibt ganz im Gegenstand: Den »Grund« des Malens interpretiert er doppeldeutig, materiell als Bildträger und kompositorisch als Hintergrund (im Verhältnis zum Vordergrund). Auf den Grund als Motiv geht er nicht ein, sozialen Voraussetzungen geht er nicht nach.

Dabei hatte er in anderen Schriften zur Kunst immer wieder deren widerständiges Potential diskutiert und zum Teil geradezu euphorisch beschworen. Neue Arten des Erlebens sollten von der Kunst ausgehen. Denk- und Wahrnehmungsweisen sollten irritiert und verändert werden. In seinem gemeinsam mit dem Psychoanalytiker und langjährigen Koautoren Félix Guattari verfassten Spätwerk »Was ist Philosophie?« (1991) schreiben die beiden über die Kunst, immer gehe es dieser darum, »das Leben dort, wo es gefangen ist, zu befreien«. Die Kunstsoziologin Dagmar Danke hat Deleuzes Kunstauffassung von in ihrem Buch »Zwischen Überhöhung und Kritik« (2011) deshalb nicht zu Unrecht in dem Satz zusammengefasst: »Kunstwerke sind Widerstandsakte.«

Deleuze orientiert sich ausschließlich an den Größen des kunstgeschichtlichen Kanons von Caravaggio bis Cézanne. Kollektive Produktionen oder außereuropäische Kunstpraktiken scheint er für ebenso wenig relevant zu halten wie Malerinnen. 

Vom Widerstand ist in den Vorlesungen aber nicht die Rede, weder dient die Malerei der Revolte, noch revoltiert Deleuze gegen die Malerei. Erstaunlich ist das insofern, als im Gefolge von 1968 explizite Kritik an der Königsdisziplin der Bildenden Kunst »Öl auf Leinwand« formuliert wurde. Performances und Happenings hatten nicht nur den Bildraum erweitert, sondern auch die passive Rolle der Betrachtenden aufzuheben versucht. Aber auch zeitgenössische Kunst spielt in Deleuzes Erörterungen kaum eine Rolle.

Insofern lassen die Vorlesungen über die Malerei gerade gemessen an den eigenen Ansprüchen von Deleuze einige Fragen offen. Deleuze orientiert sich ausschließlich an den Größen des kunstgeschichtlichen Kanons von Caravaggio bis Cézanne. Kollektive Produktionen oder außereuropäische Kunstpraktiken scheint er für ebenso wenig relevant zu halten wie Malerinnen. Auch seine theoretischen Bezüge sind eindeutig euro- und phallogozentrisch. Dass das Namensregister unter 174 Personen bloß zwei Frauen listet, bekräftigt diesen Eindruck.


Buchcover

Gilles Deleuze: Über die Malerei. Vorlesungen März–Juni 1981. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp, Berlin 2025, 432 Seiten, 38 Euro