»Orbán ist nicht ganz Ungarn«

»Der Parteivorsitzende von Tisza, Péter Magyar ist national und konservativ gesinnt, aber steht für Demokratie, Rechtsstaat und EU.« Magyar spricht bei einer Veranstaltung zum Jahrestag der Ungarischen Revolution von 1848/49 am 15. März in Budapest
Was hat Sie dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben?
Nach der Wende waren mein ungarischer Mann und ich wie viele andere Ungarn vom Optimismus getragen. Es hieß, Ungarn kehre endlich nach Europa zurück. Das war so eine Euphorie. Mittlerweile hat sich das komplett gedreht. Zumindest die Regierung unternimmt viele Anstrengungen, sich von der EU abzugrenzen, etwa mit ihrer Nähe zu Wladimir Putin oder den Einschränkungen des Rechtsstaats.
Orbán ist seit 15 Jahren ununterbrochen an der Macht, er regiert mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament …
2010 hat das Koalitionsbündnis von Orbáns Fidesz und der christdemokratischen KDNP mit 52 Prozent der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit der Sitze erlangt, also eine verfassungsändernde Mehrheit. Seitdem haben die Regierungsparteien immer wieder zu ihren Gunsten das Wahlrecht verändert, vor allem über Gewinnerboni, die der Mehrheitspartei zugute kommen. Wenn etwa in einem Wahlkreis Fidesz mit 10.000 Stimmen stärkste Kraft wird und die zweitplatzierte Partei 8.000 Stimmen erhalten hat, dann wird der Unterschied minus einer Stimme, in diesem Fall 1.999, zusätzlich der Liste von Fidesz zugeschrieben. Außerdem werden auch die Wahlbezirke immer wieder von den Regierungsparteien zu ihren Gunsten neu zugeschnitten.
Allerdings ist Orbán nicht ganz Ungarn, es gibt auch hier viele Kräfte, die sich für Demokratie einsetzen. Unabhängige Medien und NGOs kämpfen zum Beispiel für die Einhaltung des EU-Rechts oder machen immer wieder auf Korruption aufmerksam.
Welche Reaktionen gibt es von Seiten der EU?
Nicht nur in Deutschland mehren sich die Stimmen, die sagen, man sollte Ungarn endlich aus der EU rauswerfen. Man kann aber nicht ein ganzes Land für seine Regierung bestrafen, vor allem, weil die EU mit dafür verantwortlich ist, dass es so weit gekommen ist. Das undemokratische Mediengesetz aus dem Jahr 2010 – mit dem die öffentlich-rechtlichen Sender in Ungarn gleichgeschaltet wurden – hätte so nie in Kraft treten dürfen. Kein Wunder, dass das System Orbán so zur Blaupause für viele andere Feinde der Demokratie werden konnte.
»Bei dem Verbot der öffentlichen Pride geht es Orbán nicht wirklich um LGBT – er will die Opposition spalten, das liberale Lager zwingen, sich zu outen.«
Ungarn galt lange als »Musterschüler« der EU-Osterweiterung. Wie sahen die Anfänge nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus aus?
Schon während der Glasnost-Phase des Sozialismus gab es sehr gute Kontakte zur westeuropäischen, insbesondere deutschen und österreichischen Wirtschaft, was den sogenannten Systemwechsel begünstigte. Das betrifft große Unternehmen wie Mercedes oder BMW ebenso wie kleine und mittelständische Firmen, die es im ungarischen Sozialismus gab. Die Anstöße zur Wende kamen von oben, von der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, nicht von der Straße. Auch galt das ungarische Rechtssystem als komplex und fortschrittlich, als eines, von dem aus man eine neue rule of law entwickeln könne. Wichtig waren sicher auch die guten Kontakte, die Orbán – der 1993 Vorsitzender von Fidesz wurde – zu hochrangigen deutschen Politikern wie etwa Helmut Kohl aufbaute. Auch von dem aus Ungarn stammenden US-Mäzen George Soros erhielt Orbán anfangs Unterstützung.
Wie konnte Orbán Ungarn in ein Anti-EU-Land verwandeln?
Nach seiner Wiederwahl zum Ministerpräsidenten 2010 hat Orbán angefangen, systematisch Wirtschaftsbereiche, darunter viele Unternehmen mit ausländischen Beteiligungen, zu renationalisieren. Sie wurden aber nicht verstaatlicht, sondern Orbán schuf das Nationale Kooperationssystem (NER), ein Netzwerk von Unternehmern, das auf Loyalität basiert. Der Staat entschied dabei über die Vergabe der EU-Mittel im Rahmen öffentlicher Ausschreibungen, von denen viele bereits auf loyale Unternehmen zugeschnitten waren.
Viele Oppositionelle betonen, dass ohne EU-Fördermittel ein so weitreichendes regierungstreues Netz nie hätte aufgebaut werden können. Das Mediengesetz von 2010 halte ich ebenfalls für einen besonders folgenreichen Schritt der Regierung Orbán. Danach begann dann die Zeit der großen Propagandakampagnen, das sogenannte Stop-Soros-Gesetz und die Verknüpfung mit der Flüchtlingskrise.
Innerhalb von etwa einem Jahr hat sich mit Tisza (Respekt- und Freiheitspartei) eine neue Oppositionspartei etabliert, die den meisten Umfragen zufolge Fidesz inzwischen in der Wählergunst überholt hat. Hat sie eine Chance, 2026 die Parlamentswahl zu gewinnen?
Im Moment liegt Tisza mit sechs oder sieben Prozentpunkten vor Fidesz. Der Parteivorsitzende von Tisza, Péter Magyar ist national und konservativ gesinnt, aber steht für Demokratie, Rechtsstaat und EU. Die Opposition rechnet damit, dass im kommenden Jahr mit den härtesten Bandagen gekämpft werden wird. Bei dem Verbot der öffentlichen Pride zum Beispiel geht es Orbán nicht wirklich um LGBT – er will die Opposition spalten, das liberale Lager zwingen, sich zu outen. Außerdem wird spekuliert, dass Magyar unter einem Vorwand verhaftet werden könnte – wie der Oppositionsführer Ekrem İmamoğlu in der Türkei.
Es gibt ja mehrere oppositionelle Parteien. Was macht Magyar anders?
Magyar, der selbst von Fidesz kommt, bekennt sich dezidiert zu einem konservativen Wertebild und hat damit Erfolg. Er vermeidet Themen wie das geplante Verbot der Pride, um seine konservativen Anhänger nicht zu verprellen. Außerdem hat er eine geniale Kommunikationsstrategie, mit der er bisher immer wieder gegen den riesigen Propagandaapparat der Regierung punkten konnte. Als er ein Krankenhaus besuchen wollte, um auf die dortigen entsetzlichen Zustände hinzuweisen, hat man eine große Kette an die der Eingangstür einer Station gehängt, um ihn daran zu hindern. Sein Kamerateam übertrug das Geschehen live auf Facebook und machte so deutlich, dass die Regierung, die immer behauptet, die Verhältnisse in Krankenhäusern seien einwandfrei, und Kritik als Stimmungsmache der Opposition hinstellt, etwas zu verbergen hatte – zum Beispiel fehlende Desinfektionsmittel und 40 Grad auf der Säuglingsstation. Er macht öffentlich, was eigentlich alle wissen – dadurch wird plötzlich wieder darüber gesprochen. Das ist wie in »Des Kaisers neue Kleider«, dem Märchen, wo das Kind dann sagt: »Aber der Kaiser ist doch nackt!«
»Magyar, der selbst von Fidesz kommt, bekennt sich dezidiert zu einem konservativen Wertebild und hat damit Erfolg. Er vermeidet Themen wie das geplante Verbot der Pride, um seine konservativen Anhänger nicht zu verprellen.«
Um nochmal auf die EU zu sprechen zu kommen: Hat sie zu wenig getan?
Das EU-Parlament hat seit 2010 immer wieder kritische Berichte über Ungarn und die Fidesz-Politik geschrieben. Als das Mediengesetz 2011 in Kraft trat, haben sich die Grünen beschwert und eine Einschränkung des Stimmrechts Ungarns gefordert. Das hat die konservative EVP-Fraktion abgelehnt. Die EVP, zu der auch Fidesz lange gehörte bevor sie 2019 suspendiert wurde und 2021 ausgetreten ist, hat lange Zeit die Hand schützend über Orbán gehalten. Als Orbán während der ungarischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2024 den Vorsitz im EU-Parlament innehatte, kritisierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Orbán wegen seiner Vetopolitik und seines Besuchs bei Putin wirklich scharf. Doch schon vier Wochen später sind mehrere Regierungs- und Staatschefs der EU-Länder, die eben noch Orbán als Paria betrachtet hatten, nach Budapest zum EU-Gipfel gefahren.
Heißt das, dass die EU Orbán nicht in die Schranken weisen will oder kann?
Im EU-Parlament ist immer wieder gefordert worden, das Artikel-7-Verfahren zu nutzen. Damit kann das Stimmrecht eines Mitgliedstaats zum Schutz der Grundwerte der EU ausgesetzt werden. 2018 wurde das Verfahren auch eingeleitet, seitdem ist aber nicht viel passiert. Das Einfrieren der EU-Subventionen, der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus, steht übrigens auf einem anderen Blatt. Damit wird die Verletzung von Grundrechten nur sanktioniert, wenn dadurch gleichzeitig der EU-Haushalt geschädigt wird. Das Ausbleiben der Gelder macht sich in der ungarischen Wirtschaft durchaus schon bemerkbar. Aber Orbán schlachtet es propagandistisch aus. Die Regierung besaß die Unverschämtheit zu behaupten, einige Krankenhäuser seien deshalb in so schlechter Verfassung, weil die EU die Gelder nicht zahlt.
Will Orbán den Austritt Ungarns aus der EU?
Ich glaube, das will er nicht. Solange es geht, wird er in der EU bleiben, denn Ungarn braucht Geld. Es ist ihm gelungen, mit den »Patrioten für Europa« die drittstärkste Fraktion im EU-Parlament zu gründen. Alles ist möglich, wenn es um Orbán geht, darüber sind sich Analysten in Ungarn einig. Das Einzige, was ich ausschließen würde, ist, dass er ohne Aufbegehren in die Opposition geht. Dafür war die Umverteilung des Staatsvermögens unter seiner Regierung, um das mal vorsichtig auszudrücken, zu gravierend.