08.05.2025
Die deutsche Schlussstrichdebatte hat eine postkoloniale Entsprechung bekommen

Die Schuld der Schuldlosen

Der Versuch von rechts, die Shoah mit Verweis auf die Verbrechen des Stalinismus zu relativieren, dient der Verteidigung deutschen Nationalstolzes. Die postkoloniale Relativierung der Shoah durch die Einbettung in Kolonialverbrechen hingegen dient der Rechtfertigung des eliminatorischen Antisemitismus der Hamas.

Ob aus politischen Motiven oder bloßem Drang zu journalistischer Originalität – runde Jahrestage historischer Ereignisse werden gern als Einladung verstanden, Geschichte umzuschreiben. Für den 8. Mai und die mit ihm verbundene Befreiung der Welt vom deutschen Nationalsozialismus, die sich nun zum 80. Mal jährt, gilt das in besonderem Maß.

Was man da alles neu bewerten kann! Die Rolle Russlands zum Beispiel, sofern man dieses Land nur lautstark genug mit der einstigen Siegermacht So-wjetunion gleichsetzt, wie es das BSW und andere vorgeblich Friedensbewegte gern tun. Aber auch den Nationalsozialismus selbst, bei dem sich die AfD allerdings noch einig werden muss, ob er gar nicht so böse war, wie immer behauptet wird (Björn Höcke), oder sogar noch böser als gedacht, weil irgendwie links (Alice Weidel).

Linke  Antisemiten attackieren heutzutage gern jüdische Kommilitonen an den Unis, rechte Antisemiten KZ-Gedenkstätten und deren Mitarbeiter.

Und natürlich braucht auch die Shoah als Basis des deutsch-israelischen Verhältnisses dringend eine Revision oder besser gleich zwei – eine von linken und eine von rechten Antisemiten. Um das zu verdeutlichen, attackieren Erstere heutzutage gern jüdische Kommilitonen an den Unis, Letztere KZ-Gedenkstätten und deren Mitarbeiter.

Als am 27. Januar die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück das große Gedenkjahr mit einer Lesung anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 80 Jahren eröffnete, gab es zum Glück keine Angriffe. Dafür zeigte die Veranstaltung eindrücklich, dass inzwischen 55 Prozent der Deutschen gern einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen möchten, wie eine Umfrage des Instituts Policy Matters ergeben hatte. Zwar sah der Saal, in dem Mitarbeiter und Freunde der Gedenkstätte sowie Schüler aus dem 50 Kilometer entfernten Neubrandenburg die Texte von Überlebenden vortrugen, dank der vielen Lesenden erfreulich voll aus. Doch die lediglich zum Zuhören gekommenen Gäste waren an zwei Händen abzuzählen.

Fragwürdige Selbstdarstellung Deutschlands als »Erinnerungsweltmeister«

Offenbar wird man in der Stadt Fürstenberg, zu der das Lagergelände gehört, an diesen Teil der Geschichte nicht gern erinnert. Auf der Website der Kommune endet die Stadtchronik sicherheitshalber bereits im 17. Jahrhundert, touristisch beworben werden ein Wasserfest am Schwedtsee (in den seinerzeit die Asche vergaster und dann verbrannter Frauen entsorgt wurde) und die Weihnachtspostfiliale im Ortsteil Himmelpfort. Von der KZ-Gedenkstätte hingegen gibt es weder Bilder noch Veranstaltungshinweise. Dass die Stadt damals wirtschaftlich stark von den Zwangsarbeiterinnen des Frauen-KZ und der Siemens-Produktionsstätte auf dem Lagergelände profitierte – Schnee von gestern.

Dabei lebt Fürstenberg heutzutage vor allem vom Tourismus und könnte daher in der fragwürdigen Selbstdarstellung Deutschlands als »Erinnerungsweltmeister« doch zumindest eine monetäre Ressource erkennen. KZ-Gedenkstätten sind schließlich wahre Touristenmagnete, selbst so abgelegene wie Ravensbrück. Rund 100.000 Besucher zieht es jährlich hierher – Menschen, die konsumieren, eventuell gar übernachten und vielleicht im nächsten Jahr als Wasserwanderer wiederkommen.

Wer davon partout nicht profitieren will, hat dafür möglicherweise tiefliegende psychische Gründe, zu deren Analyse sich der aus dem rechtsextremen Sprachgebrauch stammende Begriff »Schuldkult« anbietet. Ein Wort, das bewusst ignoriert, worum es beim Mahnen und Gedenken tatsächlich geht – um Verantwortung für die Zukunft nämlich, nicht um Schuld.

Man kann nicht Goethes Dramen, Beethovens Symphonien oder den Otto-Motor qua genetischer Herkunft zum eigenen Verdienst erklären, um damit sein erbärmliches Dasein aufzuwerten, und gleichzeitig den Holocaust als etwas betrachten, das nichts mit einem zu tun hat.

Demographisch nüchtern betrachtet gibt es in Deutschland kaum noch jemanden, der damals persönlich Schuld auf sich geladen hat. Auch diejenigen, die sich immerhin noch mit der Schuld ihrer Eltern auseinandersetzen mussten, sterben langsam weg. Mithin könnte es für die allermeisten schlimmstenfalls noch um die befleckten Westen der Großeltern beziehungsweise Urgroßeltern gehen, von Leuten also, die sie womöglich nie kennengelernt haben. Wenn sie sich trotzdem von der Erinnerung an den Nationalsozialismus persönlich kujoniert fühlen, so nur deswegen, weil sie einem über dessen Epoche weit hinausreichenden Wahn verfallen sind: dem Nationalstolz.

Man kann eben nicht Goethes Dramen, Beethovens Symphonien oder den Otto-Motor qua genetischer Herkunft zum eigenen Verdienst erklären, um damit sein erbärmliches Dasein aufzuwerten, und gleichzeitig den Holocaust als etwas betrachten, das nichts mit einem zu tun hat. Folglich muss es sich dabei wahlweise um eine große Lüge handeln, um einen bloßen »Vogelschiss« (Alexander Gauland), den man langsam mal vergessen kann, oder zumindest um ein Verbrechen, das man »im Kontext betrachten« muss. Die letztere Sichtweise ist derzeit die virulenteste, weil sich hierin rechte und linke Begehrlichkeiten nach einem Umschreiben der Geschichte treffen.

Mögen Gründe und Bezugspunkte auch andere sein, das geteilte Ziel rechter und linker Revisionisten ist die Relativierung dieses größten aller Menschheitsverbrechen. Rechtsextreme verweisen hierfür gern auf die Opfer des alliierten Bombenkriegs, das konservative Milieu sucht sich die Objekte der Gleichsetzung lieber unter roten Fahnen: Stalinismus, chinesische »Kulturrevolution« oder Pol Pots Horrorregime in Kambodscha. So geschehen im sogenannten Historikerstreit der achtziger Jahre, als der konservative Historiker Ernst Nolte versuchte, den Holocaust als bloße Reaktion auf stalinistische Gräuel umzudeuten: »War nicht der ›Klassenmord‹ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ›Rassenmords‹ der Nationalsozialisten?«

Fehlinterpretation des Universalismus als »Eurozentrismus«

Und als wäre das noch nicht bizarr genug, übernahm Nolte sogar noch eine These seines später als Holocaustleugner verurteilten Kollegen David Irving: Die im September 1939 abgegebene Erklärung von Chaim Weizmann, Präsident der Jewish Agency, dass »die Juden in aller Welt in diesem Krieg auf der Seite Englands kämpfen«, habe, so Irving und Nolte, Hitler durchaus das Recht gegeben, deutsche Juden zu internieren.

Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas erkannte seinerzeit im Revisionismus Noltes und seiner Unterstützer das bereits erwähnte Problem des Nationalstolzes als eigentliche Triebfeder, attestierte ihnen die »nationalgeschichtliche Aufmöbelung einer konventionellen Identität« und stellte dieser positiv eine »postkonventionelle Identität« entgegen, die sich an universalistischen Werten orientieren müsse.

Unter dem Titel »Verfassungspatriotismus« serviert, klang das damals auch für die sogenannte bürgerliche Mitte einigermaßen überzeugend. Heute indes ist es gerade dieser Universalismus, beziehungsweise dessen Fehlinterpretation als »Eurozentrismus«, der das Revisionsbedürfnis von Teilen der Linken befeuert. Zwar geht es ihnen dabei nicht um Nationalstolz und mithin auch nicht um die Abwehr der Schuld an den NS-Verbrechen. Dafür werden diese nun in einem anderen Kontext relativiert, nämlich in Bezug auf den Kolonialismus.

Revisionsversuch von »links«

Das ist insofern nachvollziehbar, als dieser ja in rassistischen Stereotypen und ökonomischen Verhältnissen fortlebt. Absurd wird es aber, wenn man sich den Staat Israel als koloniales Projekt in actu konstruiert und die dort lebenden Araber als »Palästinenser« zu unterdrückten Indigenen erklärt. Aus postkolonialer Verantwortung wird so akute koloniale Schuld generiert.

Beispielhaft zeigte das die 2021 vom australischen Historiker Anthony Dirk Moses losgetretene sogenannte Katechismusdebatte (Habermas: »Historikerstreit 2.0«), mit der versucht wurde, die Shoah anhand von Kolonialverbrechen zu relativieren, den Völkermord an den europäischen Juden diesen gar zu subsumieren. In diesem Revisionsversuch von »links« wird also der von Nolte zum Vergleich herangezogene Stalinismus einfach durch Kolonialismus ersetzt, und von der historischen deutschen Schuld befreit werden soll diesmal nicht hiesiger Nationalstolz, sondern – »die Palästinenser«.

Das erklärte Ziel der Hamas, alle Juden »from the river to the sea« zu vernichten, erscheint somit nicht mehr als Ausdruck von Antisemitismus, sondern als unterstützenswertes Anliegen eines antikolonialen Befreiungskampfs. So grotesk dieses ideologische Konstrukt auch ist, es könnte sich als langlebiger erweisen als Noltes Revisionsversuch von rechts. Davon kündet die in linken Zusammenhängen inzwischen weltweit inflationär verwendet Parole »Free Palestine from German Guilt«, die letztlich den rechtsextremen »Schuldkult«-Begriff spiegelt.

Die in linken Zusammenhängen inzwischen weltweit inflationär verwendete Parole »Free Palestine from German Guilt« spiegelt letztlich den rechtsextremen »Schuldkult«-Begriff.

80 Jahre nach Kriegsende droht das Gedenken an die Shoah seines Kerns verlustig zu gehen: der Verantwortung dafür, »dass Auschwitz nicht noch einmal sei«. Wenn nun gerade diese zentrale Forderung, die doch nach Adorno »die allererste an Erziehung« sein sollte, gegen die Existenzberechtigung des jüdischen Staats ins Feld geführt wird, indem man Israels Krieg gegen die Hamas zum Genozid an »den Palästinensern« umdeutet, ist das nicht nur ein Aberwitz der Geschichte. Es unterminiert auch die von der Schlussstrichdebatte ohnehin stark bedrohte Erinnerungsarbeit.

Denn wenn man die Eigen- und daher Einzigartigkeit der Shoah nicht erkennt, werden KZ-Gedenkstätten zu bloßen Gruselkabinetten. Man könnte dann ebenso gut Kunstblut drin verspritzen und Wachsfiguren aufstellen, wie man das aus eventisierten Folterkellern mittelalterlicher Burgen kennt. Selbst einem Abriss stünde dann nichts mehr im Wege, sollten die Besucherzahlen dereinst zurückgehen. Und so könnten sich auch die schuldlosen Fürstenberger, die Ravensbrück schon Anfang der neunziger Jahre in ein Gewerbegebiet verwandeln wollten, ganz kultfrei doch noch schuldig machen.