Wiedergutwerdung war gestern
Am 80. Jahrestag der militärischen Niederschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten werden wieder unzählige Festakte, Gedenkveranstaltungen und Zeremonien abgehalten. Linksradikale Antifaschisten kritisieren dieses habituell abgehaltene Brauchtum seit Jahrzehnten. »Das staatliche Erinnern dient in unseren Augen als kollektives Ritual der geläuterten Deutschen, als fortwährende Inszenierung eines Aufarbeitungsweltmeisters«, sagte die Sprecherin von Redical M aus Göttingen der Jungle World. Die südniedersächsischen Antifaschisten beobachten »eine zunehmende Institutionalisierung des Gedenkens an den Nationalsozialismus«. Dem wollen sie eine basisorientierte Erinnerung entgegensetzen, »in antifaschistischen Initiativen, in Geschichtswerkstätten oder in Gedenkstätten«.
Die Basisgruppe Antifaschismus aus Bremen sieht in den Festakten zum 80. Jahrestag eine nationalistische Selbstinszenierung. Sie dienten der Selbstlegitimation nach innen und wie nach außen. Inszeniert werde »eine Art besserer, geläuterter Nationalismus«. Genau deshalb sei »die Erzählung von der Befreiung vom Nationalsozialismus inzwischen ein fester Bestandteil des modernisierten deutschen Nationalismus geworden«.
»Der Versuch, aus der Aufarbeitung des Holocaust nationales Selbstbewusstsein zu ziehen, ist an seine inneren Grenzen gekommen.« Ein Sprecher der AG Antifa aus Halle (Saale)
Aus Sicht von Tina Marx von der Erfurter Gruppe Dissens zeigt sich das instrumentelle Verhältnis der Deutschen zum Gedenken an den Nationalsozialismus derzeit daran, welche Reaktion der Ausladung des Philosophen Omri Boehm von dem offiziellen Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald folge. Der aus Israel stammende Boehm fordert eine »binationale Einstaatenlösung« und kritisiert die israelische Geschichtspolitik – diese sei auf den Holocaust verengt und ignoriere das Trauma der Palästinenser. Die israelische Botschaft protestierte gegen Boehms Einladung aufs Schärfste. Sie warf ihm vor, er verwässere »unter dem Deckmantel der Wissenschaft das Gedenken an den Holocaust« und beraube ihn »seiner historischen und moralischen Bedeutung«.
Der Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner kritisierte das Vorgehen der Botschaft in einem Interview mit dem MDR. Es sei bedauerlich, dass sich eine »Geschichtspolitik, die uns von außen aufgedrückt wird«, dadurch »auf unseren 80. Jahrestag der Befreiung« lege.
Der Gedenkstättenleiter, so Marx, suggeriere damit, »man müsse das deutsche Gedenken gegen Einflussnahme schützen«, und zwar »selbst von Seiten des Staats der Überlebenden – natürlich unter Verweis auf seine ›in Teilen rechtsextreme Regierung‹«, von der Wagner sprach. Das sei ein deutlicher Ausdruck davon, dass das Gedenken nur der Reinwaschung der Deutschen diene.
Offizielles Gedenken als ambivalent bewertet
Die Autonome Antifa aus München bewertet das offizielle Gedenken als ambivalent. Opferverbände, Hinterbliebene und Linke kämpften nach der militärischen Niederschlagung des Nationalsozialismus jahrzehntelang in Westdeutschland gegen das Vergessen und Verdrängen. Die Dominanz des Verdrängens sei inzwischen jedoch einer Dominanz des »geläuterten Aufarbeitungsexpertentums« gewichen, »dessen Umgang mit der Vergangenheit neuartige Formen des nationalen Sendungsbewusstseins legitimiert«. Zugleich beobachte man aber auch, dass von rechts selbst diese Art der Erinnerungskultur in Frage gestellt werde. Die »eingehegten und wenig antagonistischen Formen des Erinnerns« würden immer mehr »zugunsten einer heroisierenden Neubewertung deutscher Vergangenheit angegriffen«.
»Der Versuch, aus der Aufarbeitung des Holocaust nationales Selbstbewusstsein zu ziehen, ist an seine inneren Grenzen gekommen«, diagnostiziert ein Sprecher der AG Antifa aus Halle (Saale). Auch deshalb habe das Gedenken an den Kolonialismus derzeit Konjunktur. Dieses habe den Vorteil, dass es im Gegensatz zum Holocaust-Gedenken »die nationale ›Identität‹ nicht gleichzeitig auch immer wieder in Frage stellt«. Schließlich handle es sich beim Kolonialismus »endlich mal um ein Massenverbrechen, mit dem Deutschland nicht an der Weltspitze, sondern im schlechten Mittelfeld liegt«.
Man habe zudem nicht den Eindruck, »dass es unzählige Festakte, Gedenkveranstaltungen und Zeremonien« in Sachsen-Anhalt gäbe, sagt der Sprecher der AG Antifa. Stattdessen hätten das Gedenken und die Erinnerung an den Nationalsozialismus in den letzten Jahren deutlich nachgelassen. »Nicht nur im Kulturbetrieb und an den Universitäten, sondern auch in den erinnerungspolitischen Papieren auf Regierungsebene scheint uns der Nationalsozialismus nur noch als eine Art Pflichtveranstaltung erwähnt zu werden«, so die Antifaschisten aus Halle weiter. Der Aufstieg der AfD könnte hier auch eine gewisse Rolle spielen.
AfD auch Ausdruck der spezifischen deutschen Verhältnisse und ihrer Geschichte
Diesen bewerten die Antifaschisten aus Bremen »als Ausdruck eines allgemeinen, fast schon weltweiten Aufstiegs rechter politischer Formationen« – ein »Resultat der weltweit sich verändernden gesellschaftlichen und politische Verhältnisse«. Gleichzeitig sei die AfD aber auch Ausdruck der spezifischen deutschen Verhältnisse und ihrer Geschichte.
Tina Marx von der Antifa aus Erfurt verweist beispielsweise auf den besonderen deutschen Arbeitsfetisch. Und neben dem deutschen Bedürfnis, sich als geläutert zu gerieren, bestehe weiterhin der Wunsch nach einer Revision der Nachkriegsgeschichte einschließlich des Verhältnisses zum Westen in politischer wie geistiger Hinsicht. Dazu gehöre die Absage an Aufklärung und Vernunft, die in manchen Fällen ganz explizit vorgetragen werde. »Nicht umsonst ist der Bezug auf das Völkische ein zentrales Moment innerhalb der AfD«, fügt die Gruppe Redical M hinzu.
»Wer die gesellschaftliche Rechtsentwicklung nur an der AfD festmacht, verharmlost die Zustände in diesem Land.« Autonome Antifa aus München
»Wer aber die gesellschaftliche Rechtsentwicklung nur an der AfD festmacht, verharmlost die Zustände in diesem Land«, insistieren die Antifaschisten aus München. Derzeit gebe es beim Umgang mit Flüchtlingen nur noch ein Ziel: »Abschieben, Grenzen dicht, Menschen schikanieren«. Die fortschreitende autoritäre Formierung zeige sich in vielen Lebensbereichen, diese zeige sich beispielhaft an den vielen verschärften Polizeigesetzen oder die seit einiger Zeit besonders scharfen Repressionen gegen militante Antifaschist:innen. Als Beispiel könne die rechtswidrige Auslieferung Maja T.s nach Ungarn genannt werden.
Der Versuch, in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung die Tabuisierung rechtsextremer Inhalte und Positionen aufrechtzuerhalten – unter anderem durch die etablierte Erinnerungskultur –, kann schon fast als gescheitert gelten. Dies stelle auch antifaschistische Strategien vor Herausforderungen, sagt die Autonome Antifa aus München. Die Entblößung von Rechtsextremismus erzeuge nicht mehr automatisch eine Skandalisierung: »Fascho zu sein, ist mancherorts kein Hindernis mehr, sondern Vorteil im politischen Wettbewerb.«