15.05.2025
Caroline Muhr beschrieb das Hausfrauenelend – zum 100. Geburtstag der feministischen Autorin

Die in tausend Stücke gebrochenen Tage

Die Wut der zweiten Welle der Frauenbewegung ist in den Texten von Caroline Muhr fühlbar. Am 20. Mai dieses Jahres wäre die feministische Schriftstellerin, die sich früh mit psychischer Gesundheit befasst hat, 100 Jahre alt geworden.

Literarische Jubiläen haben Konjunktur. Nach dem Superliteraturjahr 2024 (Kafka! Zauberberg!) soll man sich auch für dieses Jahr in den Kalendern eine ganze Reihe sich jährender Geburts- oder Todestage markieren. Dass Caroline Muhr (1925–1978) auf den Listen der Literaturredaktionen nicht auftaucht und auch sonst kaum mit Festivitäten anlässlich ihres 100. Geburtstags am 20. Mai bedacht wird, überrascht nicht wirklich.

Die Autorin ist heute weitgehend vergessen – zu Unrecht, wie eine Lektüre ihrer nur noch antiquarisch erhältlichen Bücher beweist. Darin verhandelt Muhr für gegenwärtige feministische Diskurse höchst relevante Themen wie Sorgearbeit und mentale Gesundheit – und das mit großem Scharfsinn und in einem wohltuend wütenden Stil, der an Autorinnen wie Gisela Elsner oder Elfriede Jelinek denken lässt.

In der eindringlichen Beschreibung ihres Leidens verhandelte sie auch die spezifischen Erfahrungen, die sie als weibliche Patientin in der Psychiatrie gemacht hatte.

Caroline Muhr, mit bürgerlichem Namen Charlotte Klemp, wurde 1925 in Essen geboren. Nach Ende des Krieges – und ihrer Kriegsdienstverpflichtung in einer Munitionsfa­brik – arbeitete sie für die Alliierten als Dolmetscherin und studierte anschließend Philosophie, Soziologie und Literaturgeschichte in Köln, wo sie bei Karl-Heinz Volkmann-Schluck mit einer Arbeit über Friedrich Nietzsche promovierte. Über zehn Jahre arbeitete sie anschließend für den U.S. Information Service in Bonn, wo sie mit ihrem Ehemann lebte. Ein Lebenslauf, der eher unscheinbar und bürgerlich klingt als radikal und feministisch.

Ihr 1970 erschienenes Debüt »Depressionen« markiert jedoch eine Zäsur. Unter dem Künstlernamen Caroline Muhr trat sie in die literarische Öffentlichkeit und offenbarte ihre Krankengeschichte und die Erfahrungen in der Psychiatrie. Das »Tagebuch einer Krankheit«, so der Untertitel, wurde lebhaft rezipiert, 1975 für einen Fernsehfilm des ZDF verfilmt und anschließend mehrfach neu aufgelegt. In der FAZ erklärte Muhr, dass es ihr »Motiv war, der Öffentlichkeit klarzumachen, wie einem Menschen zumute ist, der Depressionen hat«.

Abscheu gegen die Rolle als Hausfrau

In der eindringlichen Beschreibung ihres Leidens verhandelte sie auch die spezifischen Erfahrungen, die sie als weibliche Patientin in der Psychiatrie gemacht hatte. Weder wurde die Krankheit dort wirklich ernst genommen noch ein Zusammenhang mit der Abwertung der Frau in der Gesellschaft erkannt. »Was im Leben einer Frau spielt schon eine Rolle außer Ehe, Kinder oder Liebesverhältnis! Bei einem Mann ist das natürlich etwas anderes. Da steht ein ganzes Universum von Krankheitsursachen offen.«

Dass ein System, in dem Frauen den Männern untergeordnet sind, krank macht, wird in »Depressionen« nur angedeutet. Es mag aber genau diese Erkenntnis und ihre eigene Krankheit gewesen sein, deretwegen Muhr sich schließlich in der Frauenbewegung engagierte und als nächstes einen feministischen Roman schrieb.

Porträt Caroline Muhr

Caroline Muhr
(Q: Archiv 2. Juni)

In »Freundinnen« (1974) entwickelt die Protagonistin und Erzählerin Ruth, Ehefrau und vierfache Mutter, eine immer stärkere Abscheu gegen ihre Rolle als Hausfrau. Diese »Phobie, die die Psychologen nicht für wichtig genug halten, um einen Namen dafür zu finden«, beschreibt Ruth in drastischen Worten: »Aber mit dieser zehn- bis vierzehnstündigen Vergewaltigung meiner Person, die sich tägliche Hausarbeit nennt, damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht mit diesen in tausend Stücke gebrochenen Tagen. Nicht mit dieser eisernen, unzerbrechlichen Kette aus Kleinigkeiten, die meinem Geist nichts und meiner Aufmerksamkeit alles abverlangten.«

Zeitgenössische Forderungen der Frauenbewegung

In dieser Krise hilft Ruth die Verpflichtung einer Haushaltshilfe, die – so Ruths polemischer Kommentar – für eine Arbeit bezahlt wird, die sie 17 Jahre umsonst gemacht hat: »Auf einmal ist meine Arbeit mehr als tausend Mark im Monat wert, weil nicht ich, sondern jemand anders sie macht.« Ganz deutlich scheinen hier zeitgenössische Forderungen der Frauenbewegung auf, insbesondere nach der Bezahlung von Sorgearbeit, wie sie prominent von Silvia Federici in ihrem Manifest »Wages Against Housework« politisiert wurde, das wie »Freundinnen« 1974 erstmals erschien.

Auch in ihrem Engagement in der Frauenbewegung spielt für Muhr die Sorgearbeit eine wichtige Rolle. 1973 gründete sie mit Genossinnen aus dem Frauenforum Bonn die feministische Songgruppe »Bonner Blaustrümpfe«, für die sie zahlreiche Liedtexte dichtete. Sie thematisiert dabei zum Beispiel die Schwierigkeiten, als Hausfrau politisch aktiv zu werden: »Das Schlimmste ist der Frauenclub / Sie geht dorthin seit zwanzig Wochen / Und will am Dienstag, wenn er tagt / Des abends nicht mehr kochen«, beschwert sich ein Gatte im »Klagelied eines Mannes«. 1977 wurden die von Inge Latz vertonten »Protest- und Spottlieder« auch auf Schallplatte veröffentlicht, heute können die Stücke vollständig auf Youtube angehört werden. Am populärsten wurde das von Muhr verfasste »Lied vom Frauenhaus«, das die Initiativen zur Gründung von Frauenhäusern unterstützte: »Habe Hoffnung Schwester / Wir helfen dir aus deiner Hölle raus / Frauen helfen Frauen / Wir haben bald ein Frauenhaus« – das erste Frauenhaus in Deutschland wurde 1976 gegründet.

Wie der Titel es schon vermuten lässt, ist es auch in »Freundinnen« die Solidarität unter Frauen und eben Freundinnen, die für Ruth essentiell wird. Ihre Jugendfreundin Edda bringt Ruth dazu, den eigenen Lebensentwurf zu reflektieren. Die beschränkten Möglichkeiten, sich als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zu entfalten, bringt die kinderlose und ledige Edda lapidar auf den Punkt: »Die erste: Hausfrau und Mutter, je beschränkter, desto glücklicher; die zweite: berufstätige Frau ohne Aufstiegschancen, mit galoppierender Isolierung; die dritte: Frau, die sich zwischen Beruf, Kindern und Haushalt abrackert. Drei Klischees? Meinetwegen. Manchen Klischees liegen die bittersten Wahrheiten zugrunde. Wie man sie auch dreht und wendet: Sie sind alle drei beschissen.«

Virginia Woolf lässt grüßen

Es ist auch die Freundin, die Ruth ermutigt, sich das Recht auf einen »desk of one’s own« zuzugestehen – Virginia Woolf lässt grüßen – und über ihre Gedanken und Erfahrungen zu schreiben. Die Freundinnen imaginieren auch ein gemeinsames Leben ohne Männer, ob als Liebespaar oder solidarische Gemeinschaft. Die Solidarität wird zur konkreten Praxis, als Edda erkrankt. Ruth verlässt für ein paar Tage ihre Familie, um die Freundin zu pflegen. Muhr verweist damit auf die Unterversorgung Alleinlebender im Krankheitsfall. Doch anders als in den Protestsongs der Blaustrümpfe mündet die Frauensolidarität hier nicht in einem Happy End: Edda stirbt bei einem selbstverschuldeten Autounfall. Das nur wenige Tage zuvor aufgesetzte Testament, in dem sie Ruth ihre Bücher, Bilder und den Schreibtisch vermacht, legt einen Suizid nahe.

Das Thema Suizid hat Muhr in allen ihren Werken beschäftigt, auch in ihrem letzten Roman »Huberts Reise oder Kein Übel ist größer als die Angst davor« (1978), in dem sie erstmals aus der Perspektive eines männlichen Protagonisten erzählt. Nachdem er in einer Zeitschrift einen Artikel über Krebs gelesen hat, glaubt Hubert, selbst unheilbar erkrankt zu sein. Sein bisheriges Leben wird ihm nun unerträglich: die gleichförmige Arbeit als Verwaltungsangestellter, seine Rolle als »Patriarch wider Willen«, das Leid der Welt. Die Angst vor dem Krebs und das Gefühl, nicht mehr so weitermachen zu können wie bisher, treiben ihn zum Selbstmord.

Die Veröffentlichung von »Huberts Reise« hat die Autorin nicht mehr erlebt: Anders als ihr Protagonist, der nach einem gescheiterten Selbstmordversuch zurück ins Leben findet, hat Caroline Muhr einen Suizid vollendet. Sie starb am 13. Januar 1978 im Alter von 52 Jahren. Dass spätestens 2028, zu ihrem 50. Todestag, mehr Leser:innen sich an sie und ihre Bücher erinnern, wäre zu hoffen.

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Hilfe bei Suizidgedanken:
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