15.05.2025
Die israelische Regierung hat einen neuen Kriegsplan beschlossen

Wut und Misstrauen in Tel Aviv

Die israelische Regierung hat einen neuen Kriegsplan beschlossen, derweil stößt die erneute Mobilisierung Zehntausender Reservist:innen in Israel auf wachsenden Protest.

Tel Aviv. Israel steht vor einer neuen Phase im Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas im Gaza-Streifen. Nach der Wiederaufnahme der Kämpfe Mitte März beschloss das Kabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vergangene Woche die Operation »Gideons Streitwagen«. Der Plan sieht eine längerfristige Besetzung des Küstenstreifens vor, um die Herrschaft der Hamas zu beenden und die Geiseln zu befreien. Er soll in Kraft treten, wenn die Hamas bis Mitte Mai nicht einem Abkommen zur Geiselfreilassung und einer Waffenruhe zugestimmt hat.

Insgesamt befinden sich noch 58 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Davon sind israelischen Angaben zufolge 20 am Leben und 35 tot; bei den übrigen drei sei ungewiss, ob sie noch leben. Am Montagabend gab die Hamas den US-amerikanisch-israelischen Doppelstaatsbürger Edan Alexander nach über 580 Tagen Gefangenschaft als Geste des guten Willens gegenüber US-Präsident Donald Trump frei.

In der israelischen Bevölkerung wächst seit Monaten die Wut über die Regierung und deren Kriegsziele. Zwar gilt offiziell die Geiselbefreiung als oberste Priorität, doch Aussagen wie die des rechtsextremen Finanzministers Bezalel Smotrich, der die Freilassung »nicht das Wichtigste« nannte, nähren Zweifel.

Bei der wöchentlichen Demonstration am Samstagabend für die sofortige Freilassung der Geiseln versammelten sich erneut Tausende vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv. Auf dem nahegelegenen Platz der Geiseln, wo Angehörige der Verschleppten sprechen, forderten die Demonstrierenden lautstark »die Freilassung der Geiseln durch eine umfassende Übereinkunft«.

In der israelischen Bevölkerung wächst seit Monaten die Wut über die Regierung und deren Kriegsziele. Zwar gilt offiziell die Geiselbefreiung als oberste Priorität, doch Aussagen wie die des rechtsextremen Finanzministers Bezalel Smotrich, der die Freilassung »nicht das Wichtigste« nannte, nähren Zweifel. Oppositionsführer Yair Lapid nannte dies eine »moralische Schande«.

Yair Moses, Sohn der ehemaligen Geiseln Margalit (79) und Gadi Moses (81), sagt im Gespräch mit der Jungle World: »Israel muss den Krieg beenden.« Zunächst gehe es darum, »alle Geiseln zurückzubringen und dann dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert«. Dieser Weg hätte »viel früher eingeschlagen werden müssen«, zumal »die Mehrheit der Israelis ein Ende des Kriegs« wolle.

»Es ist die Hölle für alle«

Die 64jährige Israelin Iana Noam berichtet, sie sei eigens aus dem Norden Israels für die Demonstration angereist. Sie könne aus »Gewissensgründen einfach nicht mehr zu Hause bleiben«. Zum Krieg in Gaza sagt sie: »Es ist die Hölle für alle.« Sie wirft der Regierung vor, aus »reinem Machtkalkül« zu handeln.

Israelische Medien verbinden den Kriegsplan mit Trumps Besuch in den Golfstaaten Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die neuerliche Mobilisierung der Reservist:innen soll den Druck auf die Hamas maximal erhöhen und einem etwaigen Vorstoß Trumps ohne Rücksprache mit der israelischen Regierung zuvorkommen.

Die Unzufriedenheit mit Regierung und Militärführung nimmt auch unter den derzeit eingezogenen Reser-vist:innen zu. Viele sind erschöpft, einige Einheiten wurden bereits zum siebten Mal einberufen. Der Dauereinsatz widerspricht der traditionellen israelischen Militärdoktrin, die auf kurze, rasch entscheidende Kriege zielt.

Auffällig ist, dass auf der Demonstration vor dem Verteidigungsministerium auf vielen Plakaten nicht die israelische Regierung, sondern Trump als Hoffnungsträger für die Freilassung der Geiseln genannt wird.

Einzelne Kritiker sehen in der Fortsetzung des Kriegs ein Mittel zum Machterhalt der fragilen Regierungskoalition und rufen zur Kriegsdienstverweigerung auf. Hinzu kommt der Frust über die fortbestehende Wehrpflichtbefreiung für streng orthodoxe Juden. Dennoch erschien der Großteil der Reservist:innen erneut in den Kasernen, obwohl vielen klar ist, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann. Die Unzufriedenheit wächst wegen der wachsenden Belastung für Familien und Ökonomie: Mit jedem Einberufungsbefehl fehlen Arbeitskräfte und Eltern.

Auffällig ist, dass auf der Demonstration vor dem Verteidigungsministerium auf vielen Plakaten nicht die israelische Regierung, sondern Trump als Hoffnungsträger für die Freilassung der Geiseln genannt wird. Auch Yair Moses setzt Hoffnungen in Trumps Besuch in den Golfstaaten: Der dadurch entstehende Druck auf Netanyahu könne – wie schon bei dem Abkommen im Januar, das die Rückkehr seines Vaters ermöglichte – ausreichen, »um die Regierung zu einer Einigung zu bewegen und den Krieg zu beenden«.

Der neue Kriegsplan sieht auch vor, große Teile der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen aus Kampfzonen im Norden in Sicherheitszonen im Süden umzusiedeln, wo Tunnel der Hamas weitgehend zerstört worden sind. Zudem soll die Auswanderung von Zivilisten ermöglicht werden. Die seit über zwei Monaten andauernde Blockade von Hilfslieferungen soll beendet und ein neues Zuteilungssystem installiert werden: Hilfsorganisationen sollen unter dem Schutz privater Sicherheitsfirmen wöchentliche Rationen direkt an überprüfte Familienvertreter verteilen. So soll verhindert werden, dass die Hilfsgüter wie bisher von der Hamas abgeschöpft, für ihre Kämpfer reserviert oder durch den Weiterverkauf als Einnahmequelle missbraucht werden.

Gedenken an die Kinder im Gaza-Streifen

Wenige Hundert Meter weiter vom Platz der Geiseln bildeten Demons­trant:innen eine Menschenkette zum Gedenken an die Kinder, die im Gaza-Streifen durch israelische Luftangriffe getötet wurden. Hinter brennenden Kerzen hielten sie schweigend deren Fotos hoch. Mitorganisatorin Yael, eine junge Israelin, schildert im Gespräch mit der Jungle World, wie aus einer kleinen Gruppe von weniger als 20 Menschen innerhalb weniger Wochen über 300 wurden. Das zeige ihrer Meinung nach, »wie groß das Bedürfnis sei, eine Perspektive aufzuzeigen, die in größeren Demonstrationen oft keinen Platz findet«. Viele hätten »Angst gehabt, sich öffentlich zu positionieren«.

Als sich der große Protestzug an der Menschenkette vorbei zum Platz der Geiseln bewegte, wurde es still. Viele Demonstrierende stellten ihre Sprechchöre und Trommeln ein. Schweigend blickten sie auf die hochgehaltenen Fotos der Kinder. Ob laut oder leise – zusammen opponieren die Demonstrierenden weiter mit demokratischen Mitteln gegen die Regierung und ringen für die Freilassung der Geiseln sowie ein Ende des Kriegs.