15.05.2025
Bericht von den 71. Kurzfilmtagen Oberhausen

Von Umwegen, Nachbarn und Lokomotiven

Die diesjährigen Kurzfilmtage Oberhausen standen immer noch unter dem Eindruck der Kampagne gegen den ehemaligen Leiter Lars Henrik Gass. Zum Glück sind dem Festival Kontroversen nicht ganz fremd.

In Andreas Dresens »Zug in die Ferne« sitzt ein älterer Mann an einem Potsdamer Bahnsteig und wartet auf den Zug, ebenso wie ein Punk und eine nervöse junge Frau, die auf dem Weg zu einer Prüfung ist. Die Zeiger der Uhr stehen still und der Zug kommt nicht, denn »vorher muss noch der Transit aus West-Berlin durch«.

Und im ewigen Warten beginnen die Tagträume, die nach Paris führen oder aus holprigen Interaktionen romantische Szenen machen. Gedreht wurde der Film 1989, wenige Tage vor dem Mauerfall, wenige Tage bevor die übervollen Sonderzüge von Prag nach Hof rollten.

In Helke Misselwitz’ »Stilleben – Eine Reise zu den Dingen« (1984) werden die von Zitat- und Klangcollagen unterlegten Aufnahmen historischer Stillleben von verschwommenen, gleichsam traumhaften Aufnahmen von Bahnreisen gerahmt, ganz so als ob die Züge zwar nicht in den Westen, aber ins Innerste der Dinge führen, die die Gemälde allegorisch festhalten.

Was für eine eigentümliche Erfahrung es ist, wenn Einzelne kollektiv Neues sehen, wenn sie zwar nebeneinander sitzen, aber zucken, wenn sich die Ellenbogen berühren, das kann man in Oberhausen durchaus erahnen.

In eine surreale Traumsequenz verwandelt sich auch Herwig Kippings »Bahnpostfahrer« (1980) – auch eine Erinnerung an einen inzwischen verschwundenen Beruf, betraut mit dem Ordnen der Post in einem vornehmlich nächtlich verkehrenden Sonderwagen, auf dass die Briefe ihre Adressaten finden. Die an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam entstandene Dokumentation ist zugleich ein realsozialistisches Echo des britischen Dokumentarfilms »Night Mail« (1936) von Harry Watt und Basil Wright, zu dem Benjamin Britten die Musik schrieb und an dessen Ende ein Gedicht von W. H. Auden zitiert wird.

Das Motiv des Zugs, an das sich geschichtsphilosophisch aufgeladene Assoziationen von Fortschritt, Revolution und Walter Benjamins »Griff nach der Notbremse« anschließen, war nur einer der thematischen Schwerpunkte der 71. Internationalen Kurzfilmtage, die vom 29. April bis zum 3. Mai in Oberhausen stattfanden.

Fast 500 Kurzfilme zeigten dabei eindrucksvoll die enorme Breite und Heterogenität des Formats: zurückhaltend dokumentarisch, wie der Gewinner des Großen Preises der Stadt Oberhausen, der kirgisische Beitrag »Long Way to the Pasture«, der einer Hirtenfamilie und ihren Tieren beim Umzug in die Sommerweiden folgt; behutsam erzählend und aufmerksam beobachtend, wie die Miniatur »Nocturne«, in der ein Geschwisterpaar die nächtlichen Straßen eines argentinischen Stadtviertels durchstreift, in dem ihr Vater als Wachmann arbeitet, und die in zarten, winzigen Gesten von der Kindheit erzählt.

»What’s Left?« und Claude Lanzmanns »Shoah«

Eine Found-Footage-Arbeit ist »Overwork« von Céline Berger, die aus Lehrfilmen der Bundesagentur für Arbeit eine rhythmische Bild-Klang-Collage komponiert hat, in der das Material zum Instrument wird – das Geräusch eines Bleistifts auf Papier, das Schlagen auf Metall, eine Nadel auf Glas oder das Knirschen eines umfallenden Baumes.

Ferner gibt es Animations- und Experimentalfilme, auch – deutlich präsenter als im Vorjahr – unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz, und nicht zuletzt als Musikvideo. Historische Schwerpunkte, wie die doppeldeutig betitelte Reihe »What’s Left?«, in der ausgewählte Filme des Oberhausener Archivs gezeigt wurden, oder das auf mehrere Jahre angelegte, von Christoph Hesse geleitete Workshop-Format zur Entstehungsgeschichte von Claude Lanzmanns »Shoah« stiften wiederum eine Verbindung zur Geschichte des Kinos und des Festivals selbst.

Dass sich Schwerpunkte wie der der Eisenbahnfahrt überhaupt ergeben, verdankt sich auch kuratorischem Feingefühl, in diesem Fall dem von Felix Mende, der das Programm »Umweg zum Nachbarn. Der Film der DDR in Oberhausen«, in dem die eingangs erwähnten ostdeutschen Filme liefen, zusammengestellt und auf die Metapher des Zugs hingewiesen hat. Schon als die Kurzfilmtage zwar schon international waren, aber noch »Westdeutsch« hießen, war die DDR dort überaus präsent. Zwischen 1955 und 1990 liefen über 150 Filme des sozialistischen Nachbarn in Oberhausen und das Festival wurde zum Schauplatz der Blockkonfrontation.

Deutsche Söldnerkommandos im Kongo

Als die DDR 1962 aufgrund des Mauerbaus ausgeladen wurde, konnte der düpierte Staat fast alle seine Bruderländer überreden, ihre Beiträge zurückzuziehen; aufgrund des im selben Jahr veröffentlichten Oberhausener Manifests, in dem Filmemacher die Erneuerung des Kinos und mehr Unabhängigkeit forderten, fiel die Kampagne allerdings kaum auf.

1966 wiederum, als die DDR den schonungslosen (ironischerweise auf westdeutschen Recherchen beruhenden) Dokumentarfilm »Kommando 52« über die deutschen Söldnerkommandos im Kongo einreichte, wurde er abgelehnt; zwar aus formalen Gründen, allerdings auch in der Erwartung, dass der Beitrag die Prüfung des Innenausschusses nicht bestanden hätte. Harry Hornigs »Wink vom Nachbarn« (1966) unterzog das Festival daraufhin einer scharfen, wenn auch etwas billigen filmischen Polemik, in der er die Kurzfilmtage als – aus sozialistischer Perspektive – abgehobene Veranstaltung realitätsferner Avantgardisten schmähte.

Kontroversen sind dem Festival also keineswegs fremd. Die jüngste konnte man noch spüren in den von den zahlreichen Besuchern belebten Straßen der Innenstadt und ihren nachgedunkelten Ziegelsteinbauten, zwischen den roten Polstersitzen des Lichtburg-Filmpalasts und auf dem Freisitz des Festivalcafés. Unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 hatte der langjährige Leiter des Festivals Lars Henrik Gass durch eine Solidaritätsbekundung mit Israel den Boykott-Furor eines progressiven Justemilieu auf sich und die Kurzfilmtage gezogen. Anfang des Jahres hat Gass Oberhausen verlassen. Die künstlerische Leitung hat seitdem die Autorin, Kuratorin und Filmemacherin Madeleine Bernstorff inne, Susannah Pollheim die kaufmännische. Beide waren auf dem Festival ebenso freundlich präsent wie die Mitglieder der neuen Programmkommission.

»Konformismus-Falle in der Kultur und ihren Institutionen«

Es dürfte jedoch durchaus ein Nachhall der jüngeren Ereignisse und Diskussionen sein, dass im Untertitel eines Panels im Begleitprogramm von der »Konformismus-Falle in der Kultur und ihren Institutionen« die Rede war. Der Versuch des Philosophen Harry Lehmann, Autor des Buchs »Ideologiemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert«, zeitgenössische Kulturkämpfe in die nüchtern-bürokratischen Begriffe der Systemtheorie zu überführen, vermochte allerdings nicht zu überzeugen.

Zu schematisch und idealistisch ist die Vorstellung prinzipiell autonomer Institutionen wie der Kunst oder der Universität, die dann gleichsam von außen durch »Ideologisierung« und »Politisierung« geschwächt werden, was die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch geduldig und freundlich zu korrigieren versuchte. Dass manche sich ausführlich zu Wort meldende Zuhörer aus dem Publikum die Debatte angesichts der rechten Rede von Cancel Culture und der Zensurimpulse in den USA gleich ganz ad acta legen wollten, wobei ihr Urteil bereits vor der Veranstaltung festzustehen schien, zeugte dann aber schon von einigem Immunisierungswillen.

Gerade die Kombination von kuratierter Gegenwartsreflexion, historischer Dimension und begleitender Diskussion – nicht nur auf den Diskussionspodien, sondern auch nach jedem Wettbewerbsblock – bietet die Möglichkeit, mit den verschiedenen Formen gegen den politischen und ästhetischen Konsens zu denken.

Dabei bietet gerade die Kombination von kuratierter Gegenwartsreflexion, historischer Dimension und begleitender Diskussion – nicht nur auf den Diskussionspodien, sondern auch nach jedem Wettbewerbsblock – die Möglichkeit, mit den verschiedenen Formen gegen den politischen und ästhetischen Konsens zu denken. Was, so könnte man fragen, verraten die stilistisch immer mehr dominierende Handkamera und die durch sie begünstigte unruhige, den Figuren zuweilen unheimlich nahe rückende Bildsprache?

Sicher dürfte die Antwort eine ökonomische Dimension haben (nämlich die vergleichsweise geringen Kosten der Handkamera), aber macht sich hier vielleicht auch jenes Bedürfnis nach Unmittelbarkeit geltend – unmittelbarer Nähe am Rande der Aufdringlichkeit –, die Anna Kornbluh in »Immediacy, or The Style of Too Late Capitalism« als Charakteristikum spätkapitalistischer Ästhetik herausgearbeitet hat?

Ist der auf der Ebene der Inhalte erkennbare Zug zum nächsten Umfeld, häufig der eigenen Familie oder dem eigenen Selbst, nicht nur eine legitime ästhetische Option, die zunächst – und das ist nicht wenig – eine Kenntnis der Gegenstände verbürgt, sondern auch ein Ausdruck der Unfähigkeit, das Neue zu denken?

Ist der Umstand, dass die Annäherung an die Natur und an ihre Zerstörung in Begriffen des Mythischen erfolgt statt beispielsweise in der Nomenklatur des Ökonomischen und Politischen, vielleicht auch ein Moment der Verklärung, der Abwehr und der Hilflosigkeit? Und ist die mitunter willkürliche Mischung naturalistischer und animierter Elemente Symptom einer »Verfransung« (Theodor W. Adorno) im Medium Film?

Kino als Erfahrung und Institution im Schwinden begriffen

Sich solchen Fragen zu widmen, mag von einem Festival viel verlangt sein, unterstreicht aber seine Rolle, seit das Kino als Erfahrung und Institution im Schwinden begriffen ist (was die These von Lars Henrik Gass’ jüngstem Essay »Objektverlust. Film in der narzisstischen Gesellschaft« ist). Denn was für eine eigentümliche Erfahrung es ist, wenn Einzelne kollektiv Anderes, Fremdes und Neues sehen, wenn sie zwar nebeneinander sitzen, aber zucken, wenn sich die Ellenbogen auf der Armlehne berühren, das kann man an Orten wie Oberhausen durchaus erahnen.

Das hat auch damit zu tun, dass ein Festival zutage treten lässt, was normalerweise unbemerkt bleibt: diejenigen, die Filme machen, all jene, die allein oder mit ihrem Team, auf eigene Kosten oder unterstützt vom Festival nach Oberhausen reisen, dort Premieren feiern und sichtlich erfreut vor ein Publikum und die großen Leinwände im Lichtburg-Filmpalast treten. Das ist durchaus performativ – aber die Kinos waren ja auch einst Theater, wovon nicht nur die großen, schweren Vorhänge zeugen, sondern auch das Klatschen nach dem Film. Vor einem Fernseher, einem Laptop-Bildschirm oder der Heimkinoleinwand applaudiert niemand.