Sympathischer Waldschrat
Mit einem unangenehm schrillen Ton beginnt das neue Album von Bon Iver. Der lediglich zwölf Sekunden dauernde Opener » … « ist das einzige Stück, das auf »SABLE, fABLE« (so die Eigenschreibweise) disharmonisch klingt. Auf ihrem fünften Album präsentiert sich Bon Iver, die US-amerikanische Folk-Band um Sänger und Gitarrist Justin Vernon, so zugänglich wie lange nicht mehr. Es gibt wieder schlichtere Songs und mehr Raum für urige Sounds, insgesamt hat Vernon für seine Verhältnisse sehr poppige Lieder aufgenommen.
Manche Stücke sind hingegen reduziert und erinnern an die Ursprünge des Bandprojekts, das durch den leicht verspäteten Erfolg des Debütalbums »For Emma, Forever Ago« 2008 international bekannt wurde. Nur wenig später hat Vernon eng mit Kanye West zusammengearbeitet. Es war eine Zeit, in der man von West noch visionäre Musik zu hören bekam und keine antisemitische Hetze. Später nahm Vernon dann Musik mit James Blake auf, zuletzt sang er mit Taylor Swift, Beyoncé und Charli XCX.
Der 44jährige Vernon hat mit dem Ruhm gefremdelt, wirkte auch bei Dankesreden fast überfordert.
Vernon, der längst im Pop angekommen ist, hat sich dennoch seinen Status als Außenseiter bewahrt. Er wurde zum Mann für alle Fälle: Der Musiker hat ein Gespür für markante Klänge, interessiert sich für unterschiedliche Genres und zeigt sich offen für Experimente, die manche Fans traditioneller Folk-Musik schon verprellt haben dürften. Es ging ihm zwar nie um puristischen Folk, aber auf dem 2016 erschienenen Bon-Iver-Album »22, A Million« hat er den Eklektizismus auf die Spitze getrieben: Autotune, übersteuerte Klänge und jazzige Einsprengsel trafen hier auf Banjo-Klänge.
So derart durchmischt klingen die 13 Stücke von »Sable, Fable« nicht, auch wenn Vernon weiterhin gern in die Trickkiste greift. Das Album hat er in zwei Kapitel aufgeteilt. Den ersten Teil bilden der besagte Opener und drei ruhige Songs, die in dieser Reihenfolge bereits auf der im Oktober 2024 veröffentlichten EP »Sable« zu finden waren. In »Things Behind Things Behind Things«, das wie auch die restlichen Titel des ersten Teils komplett großgeschrieben wird, singt er über Schmerz und Angst vor Veränderung.
Der anschließende Song »Speyside« ist tatsächlich puristischer Folk mit Gitarre und Streichern, das lyrische Ich erzählt von Fehlern in der Vergangenheit und Reue. »Sable« ist übrigens das englische Wort für Zobel, ein Tier mit dunklem Fell aus der Gattung der Marder, das als Einzelgänger gilt. Thematisch passt das gut zu den Themen der EP-Songs, die sich vor allem um Einsamkeit und Isolation drehen. Doch das ist eben nur der erste Teil der Geschichte.
Ab dem fünften Lied des Albums beginnt der zweite Teil, eine romantische Fabel, ganz gemäß dem Albumtitel, in dem das Komma schon einen thematischen Bruch ankündigt. Neun Songs widmen sich einer Liebesgeschichte, es geht um Vertrauen und Zweisamkeit. Der einsame Zobel findet eine Begleitung. Die Stimmung wird hoffnungsvoller, die Klangfarbe heller. »Everything Is Peaceful Love« verknüpft zum Beispiel Streicher, Soul-Elemente, eine an Prince gemahnende E-Gitarre und die damit einhergehende Achtziger-Jahre-Soundästhetik.
Stilistisch spielt Vernon nun Popmusik im weitesten Sinne: »If Only I Could Wait«, ein Song mit der Musikerin Danielle Haim, paart R & B mit gedämpften Saxophon-Klängen und Drum-Loops. In »Walk Home« trifft US-amerikanische Gitarrentradition auf Beats und warme Synthesizer. Vernon singt über Glück: »Can we stay inside this place? / Pull me close up to your face / Honey, I just want the taste.«
In »Popcast«, dem Musik-Podcast der New York Times, erzählte Vernon im März, dass er unter Angst und Überarbeitung litt: »Ich fühlte mich wirklich sehr müde, dieser Zustand hielt für lange Zeit an. Tatsächlich fühlt sich dieses Album nun wie das persönlichste Werk von mir an und zwar in dem Sinne, dass ich selbst diese Musik gebraucht habe.« Frühere Texte von ihm wirkten enigmatischer, die neuen Lieder kommen größtenteils ohne Metaebene aus. Trotzdem gibt es einige Referenzen: Anspielungen auf Literatur, die Kletterkünste eines Zobels, den eigenen Song-Katalog sowie die mittlerweile 70jährige US-Singer-Songwriterin Rickie Lee Jones, deren Musik Vernon wohl stark beeinflusst hat.
Wie ein modernes Indie-Pop-Märchen
Wie Jones wurde auch Vernon schon mehrfach bei den Grammy Awards ausgezeichnet. Doch der 44jährige Musiker hat mit dem Ruhm gefremdelt, wirkte auch bei Dankesreden fast überfordert. 2011 hat sogar der damalige Bürgermeister von Milwaukee, der Demokrat Tom Barrett, den 22. Juli zum offiziellen »Bon Iver Day« erklärt – der eigenbrötlerische Musiker habe schließlich viel für den US-Staat Wisconsin getan, aus dem er stammt.
Die Geschichte von Bon Iver liest sich, kann man schlussfolgern, wie ein modernes Indie-Pop-Märchen: Das Debüt entstand in einer abgeschiedenen Jagdhütte, unter dem Einfluss von Trennungsschmerz und Pfeifferschem Drüsenfieber schrieb Vernon Songs, die er später in Eigenregie veröffentlichte. Selbst als Superstars ihn treffen wollten, soll er seine winzige Heimatstadt nur selten verlassen haben. Plötzlich war Wisconsin auf der Landkarte der Popkultur. Dabei wollte Vernon seine Ruhe haben, das Rampenlicht interessierte ihn nicht.
Isolation, Natur, eine einsame Hütte: Dieses Setting erinnert mitunter an Henry David Thoreau. Der US-amerikanische Philosoph und Schriftsteller zog 1845 in den Wald, wo er sich eine Blockhütte baute. In »Walden« plädierte Thoreau für ein Leben im, wie man so sagt, Einklang mit der Natur. Auch der bärtige Vernon wirkt oft fast wie ein (sympathischer) Waldschrat. In seinen Musikvideos findet man oft Naturkulissen, die Jahreszeiten spielen in seinem Songwriting eine große Rolle. Dabei spielt er aber auch mit Zuschreibungen und vermeintlicher Natürlichkeit: Im Video-Clip zu »There’s a Rhythm« vom neuen Album sieht man ihn in einer malerischen Blockhütte, in der es wohl keine Steckdose gibt. Drinnen brennt Feuer, draußen schneit es. Doch man kann erkennen, dass die karge Hütte nur eine Beamer-Projektion an einer Wand ist.
Heute scheint Vernon außerdem Gefallen an Promo-Aktionen zu finden. Ein aktuelles Foto zeigt ihn barfuß mit einem großen Fisch in den Händen: ein Verweis auf das lachsfarbene Cover von »Sable, Fable«. Auch Schallplatten gibt es in dieser Farbe, im Merchandise-Sortiment ließ sich bis vor kurzem sogar in Dosen abgepackter Räucherlachs finden.
»Sable, Fable« erzählt von quälender Isolation und dem Wagnis, eine Liebesbeziehung einzugehen. Am Ende ist da die Erkenntnis, dass es sich lohnt, sich auf einen anderen Menschen einzulassen und an einem gemeinsamen Rhythmus zu arbeiten.
Vernon fischt also keineswegs nur für den eigenen Bedarf. Nicht nur das unterscheidet ihn von Thoreau. Der schrieb in »Walden«, dass Menschen, die alleine in der Natur leben und über ihre fünf Sinne verfügen, keinen Weltschmerz kennen würden: »Noch nie habe ich einen besseren Gesellschafter gefunden als die Einsamkeit.«
Bei Vernon ist es genau andersherum: »Sable, Fable« erzählt von quälender Isolation und dem Wagnis, eine Liebesbeziehung einzugehen. Am Ende ist da die Erkenntnis, dass es sich lohnt, sich auf einen anderen Menschen einzulassen und an einem gemeinsamen Rhythmus zu arbeiten. Sowieso war Teamarbeit für das Album essentiell. Vernon hat es mit dem DJ und Songwriter Jim-E Stack produziert, die Musikerin Jenn Wasner, bekannt unter dem Namen Flock of Dimes, singt auch mit. Klassische Instrumente werden zudem eindrucksvoll mit modernen, digital erzeugten Sounds verbunden. Kurzum, diese Musik klingt einfach fabelhaft.
Bon Iver: Sable, Fable (Jagjaguwar)