Sozialdemokratischer Sturzflug
Es ist schon erstaunlich, wie schnell der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil das Desaster der Bundestagswahl zur Seite geschoben und sich in die Regierung mit der Union gestürzt hat. Während sich die Parteibasis noch in Selbstmitleid suhlte, hat der mit einem bemerkenswerten Machtbewusstsein ausgestattete 47jährige Niedersachse die Koalition mit der Union gebildet und schließlich eine sozialdemokratische Minister:innenriege präsentiert, die ganz auf ihn zugeschnitten ist.
Wie bei der Neuaufstellung der Parteiführung hat er dabei zwar auf die Parteiströmungen und den regionalen Proporz geachtet, sich aber zugleich weitgehend mit Vertrauten umgeben. Verdiente Genoss:innen, die nicht ins Raster passten, servierte er hingegen ab, inklusive der noch amtierenden Co-Vorsitzenden Saskia Esken.
Für die SPD könnte es sich jedoch als ein zu teuer erkaufter Erfolg erweisen, dass Lars Klingbeil Machtpolitik einer gründlichen Analyse des Wahlausgangs vorgezogen hat.
Seit Gerhard Schröder hat niemand mehr in der SPD einen derartigen Führungsanspruch angemeldet und durchgesetzt. Für die SPD könnte es sich jedoch als ein zu teuer erkaufter Erfolg erweisen, dass Klingbeil Machtpolitik einer gründlichen Analyse des Wahlausgangs vorgezogen hat. Immerhin hat die SPD mit 16,4 Prozent ein desaströses Ergebnis eingefahren – ihr schlechtestes seit 1887. Von 20,1 Millionen Stimmen bei der Bundestagswahl 1998 – ihrem in absoluten Zahlen besten Ergebnis – sind noch 8,1 Millionen übriggeblieben.
Nur in der Altersgruppe der über 60jährigen liegt die SPD über ihrem Gesamtergebnis. Ihren höchsten Stimmenanteil hat sie entsprechend unter den Rentner:innen (24 Prozent), gefolgt von den Beamt:innen (18 Prozent). In der Altersgruppe zwischen 18 und 34 Jahren kommt sie bloß auf zwölf Prozent. Ebenso wurde die einstige Arbeiter:innenpartei nur noch von zwölf Prozent der Arbeiter:innen gewählt. Auch bei den Erwerbslosen schnitt sie mit 13 Prozent unterdurchschnittlich ab.
Wie es gelingen soll, als »pragmatische« Juniorpartnerin der Union von Friedrich Merz eine Trendumkehr zu schaffen, erscheint rätselhaft. An der SPD-Basis herrscht Fatalismus: Bei ihrem Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag stimmten Ende April zwar, mutmaßlich aus staatspolitischer Verantwortung, rund 85 Prozent zu, die Beteiligung lag aber nur bei 56 Prozent.
Die Parteilinke trägt die »pragmatische« Politik Klingbeils kritiklos mit
Es gehört schon einiger guter Wille dazu, das als »große Rückendeckung von der Basis« zu bezeichnen, wie das der damalige kommissarische SPD-Generalsekretär und heutige Bundestagsfraktionsvorsitzende Matthias Miersch getan hat. Er zählt wie Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas, die auf dem SPD-Parteitag Ende Juni in Berlin zur neuen Co-Vorsitzenden gewählt werden soll, zur Parteilinken. Aber beide tragen die »pragmatische« Politik Klingbeils, der dem parteirechten Seeheimer Kreis angehört, kritiklos mit.
Möglicherweise spekuliert Klingbeil darauf, dass ihm als Vizekanzler ein vergleichbarer Wiederaufstieg gelingen wird wie Olaf Scholz in der vergangenen Koalition mit der Union. Das kann allerdings nur erwarten, wer immer noch dem Irrglauben anhängt, der Wahlsieg 2021 wäre das Resultat eigener Stärke gewesen.
»Weitet man den Blick, erscheint das Wahlergebnis 2021 weniger als ein Wahlsieg der SPD und mehr als eine Niederlage der anderen«, heißt es zutreffend in dem Leitantrag, den die nordrhein-westfälische SPD auf ihrem Parteitag am 10.Mai in Duisburg beschlossen hat. Aus dem damaligen knappen Wahlsieg seien daher »nicht die richtigen Schlüsse gezogen worden«.
»Sozialdemokratisches Jahrzehnt«
Spitz formulieren die nordrhein-westfälischen Genoss:innen: »Aussagen, die gar den Beginn eines sozialdemokratischen Jahrzehnts sehen wollten, wirken nicht nur aus heutiger Sicht realitätsfern.« Das zielt auf Klingbeil, der auf dem SPD-Bundesparteitag im Dezember 2021 vollmundig verkündet hatte, vor der Partei liege »ein sozialdemokratisches Jahrzehnt«.
Auch Gerd Mielke und Fedor Rose sehen den Wahlerfolg von 2021 nur als einen situativ bedingten »Ausreißer« in einem langen Niedergang, wie sie in einem Beitrag für die Zeitschrift Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit schreiben. Mielke, Honorarprofessor an der Universität Mainz, und Rose, Chef der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei, sehen deren Ausgangspunkt im neoliberalen Schwenk der SPD zu Zeiten der Kanzlerschaft Schröders ab 1998, wofür exemplarisch die »Agenda 2010« stehe. Dieser Schwenk habe »zu einer tiefgreifenden und dauerhaften Abkehr und Entfremdung weiter Teile der sozialdemokratischen Wählerschaft« geführt, vor allem der Unterschicht und unteren Mittelschicht.
Das führt zum zweiten Faktor, der den Wahlerfolg von Scholz 2021 ermöglicht hatte: dessen Niederlage beim Mitgliederentscheid über den SPD-Parteivorsitz Ende 2019. Die Entscheidung der Parteibasis für das Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans war der Versuch, sowohl mit dem Parteiestablishment als auch mit dem politischen Erbe Schröders zu brechen.
Richtung »neoliberale Pampa«
Walter-Borjans skizzierte damals die SPD als einen großen Bus, auf dem als Fahrtziel zwar vorne noch »soziale Gerechtigkeit und Zukunft« angezeigt werde. Aber es stiegen kaum noch Fahrgäste ein, »weil sie uns nicht glauben, dass wir da noch hinfahren«.
Mit ihrem Versprechen, nicht länger in Richtung »neoliberale Pampa« zu fahren, gaben die beiden der Partei neuen Mut und Hoffnung. Dass sie dann ausgerechnet Scholz zum Kanzlerkandidaten machten, ließ den einstigen »Agenda 2010«-Propagandisten als geläutert erscheinen – ein Fehler.
Auf dem Parteitag der nordrhein-westfälischen SPD verkündete Lars Klingbeil, mit ihm werde es keine »Kehrtwende in der Programmatik« geben, die Partei werde nicht »mehr nach links« rücken.
Walter-Borjans war klug genug, sich schon im Dezember 2021 aus der Parteispitze zurückzuziehen. Esken jedoch machte weiter und entwickelte sich zu einer bis zur Selbstaufgabe loyalen Verteidigerin der miserablen Regierungspolitik von Scholz. Damit hat sie sich selbst überflüssig gemacht.
Zuletzt hatte Esken nur noch die Funktion, als Sündenbock für die Misere der SPD herzuhalten. So musste Klingbeil auf sie auch keine Rücksicht mehr bei der Auswahl des sozialdemokratischen Regierungspersonals nehmen. Ihr Verzicht auf eine erneute Kandidatur ist nur konsequent.
Auf dem Parteitag der nordrhein-westfälischen SPD verkündete Klingbeil, mit ihm werde es keine »Kehrtwende in der Programmatik« geben, die Partei werde nicht »mehr nach links« rücken. Das klingt sehr nach: Augen zu und durch. In früheren Zeiten wurde die SPD mit einem – schwer beweglichen – Tanker verglichen, heutzutage scheint der Vergleich mit der »Titanic« passender: Das Bordorchester spielt unverdrossen weiter, bis das Schiff endgültig gesunken ist.