Karl und die Kasbah
»Marx ist Montag morgen in Algier angekommen, wohin ich und die Ärzte ihn immer haben wollten, aber er hatte keine rechte Lust«, schreibt Friedrich Engels in einem Brief Ende Februar 1882. Dass Marx zu diesem Zeitpunkt wenig unternehmungslustig war, hatte einen Grund: Keine drei Monate zuvor war seine Ehefrau Jenny Marx verstorben, mit der er sich 18jährig verlobt hatte. Ohne sie, so urteilte später ihre Jüngste Tochter Eleanor, hätte »Karl Marx niemals der sein können, der er war«.
Tatsächlich hatte Jenny Marx das Schicksal und die Kämpfe ihres Mannes nicht nur geteilt, sondern selber größten Anteil an ihnen genommen. Doch ihre letzten Monate waren bitter für beide. Nachdem Jenny Marx durch ihre Krebskrankheit ans Bett gefesselt war, erkrankte Karl Marx an Rippenfell- und Lungenentzündung sowie Bronchitis. So lagen sie Zimmer an Zimmer im Krankenbett, konnten aber nicht mehr miteinander sprechen.
Als Jenny Marx Anfang Dezember 1881 starb, verbot der Arzt dem Ehemann sogar die Teilnahme an ihrem Begräbnis. Wegen des miserablen Gesundheitszustands überzeugten ihn seine Ärzte und Vertrauten, zur Genesung den Frühling in der französischen Kolonialhauptstadt Algier zu verbringen, wo er sich dann vom 20. Februar bis zum 2. Mai 1882 aufhielt. Es war das erste und einzige Mal, dass Marx Europa verließ. Die erhoffte Gesundung blieb allerdings aus: Marx starb am 14. März 1883 in London, keine elf Monate nach seiner Rückkehr aus Algier.
Man erfährt, was Marx zur französischen Kolonialherrschaft zu sagen hatte. Vom Auftreten der Einheimischen war er offenkundig beeindruckt, auch wenn er meinte, dass die Bevölkerung ohne eine revolutionäre Bewegung verloren sei.
Viele Briefe, die Marx aus Algier schrieb, sind erhalten geblieben. Dennoch hat seine letzte große Reise erstaunlich wenig Beachtung gefunden. In der klassischen Biographie von Franz Mehring etwa werden ihr gerade einmal zwei Sätze gewidmet. Mit dem Buch »Marx in Algier« hat die Journalistin Marlene Vesper 1995 erstmals eine detaillierte Auseinandersetzung mit seiner Reise veröffentlicht. Das Buch enthält zudem zahlreiche Originaldokumente und Exzerpte.
Einen anderen Zugang zum Thema fand der Schriftsteller und Journalist Uwe Wittstock 2018, dessen überarbeitete Neuausgabe »Karl Marx in Algier. Leben und letzte Reise eines Revolutionärs« gerade bei C. H. Beck erschienen ist. Gestützt auf die Marx’schen Briefe und deren Wortlaut changiert Wittstocks Darstellung zwischen Erzählung und Biographie. Der zehnwöchige Aufenthalt wird in acht Kapiteln aus der Perspektive des alten und kranken Marx erzählt. Die letzte Reise des Revolutionärs ist Anlass, Bilanz zu ziehen. Dazwischengeschnitten sind Stationen aus seinem bewegtem Leben zwischen Trier, Berlin, Paris, Brüssel, Köln und London.
Das Bestechende an diesem Buch ist, dass es Wittstock gelingt, Marx’ Reise lebendig und anschaulich darzustellen. Sie erscheint dem Leser wie ein klares Bild vor dem inneren Auge: das Panorama von Algier, der Hafen mit den Fischerbooten, die Bucht. Gleiches gilt für die nur wenig erbaulichen Umstände des Aufenthalts. Das erhoffte gute Wetter blieb aus und der Trauer um seine Frau konnte Marx nicht entkommen. Er litt er an Schlafstörungen, seine Gesundheit verschlechterte sich, so dass er sich einem strengen medizinischem Prozedere unterziehen musste. Nachdem er immer wieder Blut spuckte, verordnete der Arzt ihm zeitweise ein Sprechverbot.
Verbummeltes Studium, Leben als Staatenloser
Dabei hatte Marx in Albert Fermé einen interessanten Gesprächspartner vor Ort. Der ehemalige Kommune-Kämpfer und Freund seiner Schwiegersöhne Charles Longuet und Paul Lafargue lebte schon länger in Algier. Fermé nahm Marx, der kurz zuvor in Marseille den Dampfer »Said« bestiegen hatte, im Hafen von Algier in Empfang und besorgte ihm eine Unterkunft.
Auch wenn Marx das Zimmer seiner Pension während des gesamten Aufenthalts nur selten verlassen konnte, unternahm er einige Ausflüge, die das Buch aus Marx’ Perspektive schildert. Man erfährt auch, was Marx zur französischen Kolonialherrschaft zu sagen hatte. Vom Auftreten der Einheimischen war er offenkundig beeindruckt, auch wenn er meinte, dass die Bevölkerung ohne eine revolutionäre Bewegung verloren sei.
Auch die acht Kapitel zu Marx’ Leben sind lesenswert, obgleich sie wenig Neues erzählen. Es geht um sein Elternhaus in Trier und sein verbummeltes Studentenleben; sein Wirken bei den Junghegelianern und die Begegnung mit Friedrich Engels.
Erzählt wird auch von seinem rastlosen Leben als Staatenloser, der aus verschiedenen Ländern ausgewiesen wurde und erst in England ein dauerhaftes Exil fand, nachdem ihm die Teilnahme an der gescheiterten Revolution von 1848 eine Verhaftung wegen Aufrufs zum bewaffneten Aufstand eingebracht hatte; 1849 folgte die Ausweisung aus Preußen, das seinerzeit nahezu ganz Deutschland nördlich des Mains umfasste.
In London lebte der staatenlose Marx mit seiner Familie fast zwei Jahrzehnte weitgehend zurückgezogen, bevor er durch seine Arbeit in der Internationalen Arbeiterassoziation, die Publikation von »Das Kapital« und seine Schriften zur Pariser Commune Bekanntheit erlangte.
Die erste Fassung von Wittstocks Buch erschien vor sieben Jahren unter dem Titel »Karl Marx beim Barbier«. Der Titel ist insofern programmatisch, als Marx sich in Algier »Löwenmähne« und Bart abrasieren ließ und damit den seit Studententagen bekannten Look ablegte.
Auch geht es im Buch um Marx’ schwieriges Verhältnis zum Geld. Kurze Phasen bohemehafter Verschwendung unterbrachen ein von Armut, Pfandhäusern und Bittbriefen geprägtes Dasein. Besonders interessant ist der Blick auf die privaten Verhältnisse von Marx und seinen nicht ganz einfachen Charakter. Ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein hinderte ihn daran, sich ein- oder gar unterzuordnen. Gegen Widersacher oder Kontrahenten zeigte er sich erbarmungslos. Zugleich betont Wittstock Marx’ innige Liebe und die enge Beziehung zu seiner Frau. Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, von denen allerdings nur drei das Kindesalter überlebten.
Nachdem 1856 sein Lieblingssohn gestorben war, zeigte Marx Anzeichen einer Depression. Trotz der widrigen Lebensumstände galt es, dabei nach außen stets die Fassade einer gutbürgerlichen Existenz zu wahren. So stand bei der Familie mit Helena Demuth eine Haushälterin in Diensten; für das uneheliche Kind, das Marx mit dieser zeugte, musste Friedrich Engels zumindest inoffiziell die Vaterschaft übernehmen.
Die erste Fassung von Wittstocks Buch erschien vor sieben Jahren unter dem Titel »Karl Marx beim Barbier«. Der Titel ist insofern programmatisch, als Marx sich in Algier »Löwenmähne« und Bart abrasieren ließ und damit den seit Studententagen bekannten Look ablegte, welcher ihn als politischen Oppositionellen kenntlich gemacht hatte.
Revolutionär, dem es um die Ergebnisse der politischen Praxis ging
Wittstocks Überlegungen, warum dieser Barbierbesuch für Marx bedeutungsvoll gewesen sein könnte, sind ebenso instruktiv wie plausibel. Überhaupt muss man Wittstock lassen, dass es ihm gelungen ist, sowohl Marx’ widersprüchliche Persönlichkeit als auch dessen politische Ambitionen zu erfassen. Er schildert Marx als einen Revolutionär, dem es stets um die Ergebnisse der politischen Praxis ging und nicht um ewige Wahrheiten.
Was die theoretische Leistung von Marx betrifft, liegt Wittstock jedoch weit daneben. Hier gibt er zu oft die gängigen Missverständnisse wieder, die der Staatssozialismus als Glaubenssätze predigte und die auf der anderen Seite bereits von vielen Gegnern als Vorwurf erhoben wurden. So habe bereits der junge Marx eine fertige geschichtsphilosophische Doktrin entworfen, die er im Kommunistischen Manifest von 1848 dargelegt habe. Dabei wird die eigentliche Leistung von Marx, die Wesenslogik des Kapitalverhältnisses in einem jahrzehntelangen Prozess entschlüsselt zu haben, komplett übersehen beziehungsweise umgedeutet zu einer Art Entwicklungssoziologie.
Die vermeintlich offenen Fragen, die Wittstock an Marx’ ökonomische Theorie stellt – gerade auch zu dessen angeblich nur halbherzigem Interesse für ökologische Aspekte –, ließen sich allesamt durch eine aufmerksame Lektüre von »Das Kapital« klären.
Marx hatte sich gegen eine solche Interpretation stets verwahrt. Einem Kritiker hielt er spöttisch entgegen, dass dieser seine »historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln (würde), der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen«.
Die vermeintlich offenen Fragen, die Wittstock an Marx’ ökonomische Theorie stellt – gerade auch zu dessen angeblich nur halbherzigem Interesse für ökologische Aspekte –, ließen sich allesamt durch eine aufmerksame Lektüre von »Das Kapital« klären. Daran hat Wittstock allem Anschein nach kein Interesse. Umso erstaunlicher ist es, dass ihm dennoch ein originelles und allemal lesenswertes biographisches Werk gelungen ist.
Uwe Wittstock: Karl Marx in Algier. Leben und letzte Reise eines Revolutionärs. C. H. Beck, München 2025, 249 Seiten, 26 Euro