05.06.2025
Es gilt, die ­revolutionären Ursprünge der Wokeness zu bewahren

Libertär statt autoritär

Wokeness steht in der Tradition des anarchistischen Libertarismus, der das Handeln der Einzelnen als politische Praxis begreift, die bereits in der Gegenwart auf die zu erkämpfende Gesellschaft verweist. Statt dagegen zu polemisieren, sollten Linke vielmehr einen auf woke Weise erweiterten Klassenkampf führen.

Woke zu sein, ist seit einigen Jahren das geflügelte Wort dafür, sich vermeintlich diskriminierungssensibel und konform mit den Sprach- und Verhaltenscodes des Intersektionalismus zu verhalten. Nicht selten haben damit einhergehende engstirnige bis inquisitorische Praktiken linke Debatten autoritär verengt und emotionalisiert, bisweilen regelrecht zensiert. Das haben rechte Kulturkämpfer aufgegriffen und reaktionäre Positionen mit dem Argument aufgewertet, dass sie wenigstens nicht woke seien. Der russische Despot Wladimir Putin und der US-amerikanischen Präsident Donald Trump bedienen sich dieser Entwicklung. Ist das Anlass, die Kritik an der Wokeness zu überdenken? Dierk Saathoff plädiert dafür, sich mit der Kritik an der Wokeness besser zwischen alle Stühle zu setzen, als in der rechten Antiwoke-Bewegung die Feinde seiner Feinde auszumachen (»Jungle World« 20/2025). Holger Marcks sieht in der Wokeness der Linken ein Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie (21/2025).

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»Feminismus, Diversität, Inklusion, Gleichberechtigung, Einwanderung, Abtreibung, Ökologismus, Gender-Ideologie, das sind die Köpfe desselben Monstrums«, wetterte der argentinische Präsident Javier Milei beim Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar und beschwor den drohenden Untergang der westlichen Zivilisation herauf. Wer ihm in ein »neues, goldenes Zeitalter« der Freiheit folgen wolle, der müsse mit den ideologischen Fesseln« des Wokismus brechen.

In der Vergangenheit, so Milei, hätten sich Institutionen wie das Weltwirtschaftsforum in dieser Hinsicht nicht mit Ruhm bekleckert, seien sie doch ganz vorne mit dabei gewesen, »die unheilvolle Agenda der Wokeness« zu verbreiten. Heute aber stünden Elon Musk, Giorgia Meloni, Viktor Orbán und Donald Trump an seiner Seite, meinte Milei triumphierend. Er ist sich sicher: Beim Kampf gegen den »Krebs« der linken Wokeness steht »die stille Mehrheit hinter uns«.

»Woke-Krieg gegen unsere Kinder«

Wahrscheinlich hat er damit sogar recht. Es würde erklären, warum sich mit Antiwokeness so hervorragend Politik machen lässt. Auch in Trumps Wahlkampf wurde in transfeindlichen Fernsehspots ein »Woke-Krieg gegen unsere Kinder« heraufbeschworen. Die oft gar nicht so stillen Mehrheiten ergeben sich auch dadurch, dass selbst innerhalb der Linken gegen Wokeness mobilisiert wird.

So jubelten nicht nur Rechte in aller Welt, als Mitte April der Supreme Court in London urteilte, dass das Gleichstellungsgesetz (Equality Act 2010) das biologische Geschlecht zur Grundlage hat – sondern auch viele Radikalfeministinnen. Tatsächlich ging die Entscheidung auf eine Klage der Frauenrechtsorganisation For Women Scotland (FWS) zurück, die sich 2019 gegründet hatte, um gegen die schottische Rechtspraxis vorzugehen, die in Fragen der Gleichstellung die von den betroffenen Personen selbst gewählte Geschlechtsidentität zugrunde legt.

Die globale Faschisierung dieser Tage fällt mit dieser mächtigen Querfront gegen eine vermeintlich woke Hegemonie zusammen. Bisher basierte der Aufstieg noch eines jeden Faschismus auf der Mobilisierung von Abstiegs­ängsten, besonders der Mittelschicht, und einem Gefühl der kollektiven politischen Demütigung. Die Mittelschicht, so schrieb es der italienische Schriftsteller und Semiotiker Umberto Eco vor fast 30 Jahren in »Der ewige Faschismus«, fürchte »sich vor dem Druck subalterner gesellschaftlicher Gruppen«.

Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt verzeichneten für das Jahr 2024 einen Anstieg von queerfeindlichen Angriffen um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die Furcht vor dem derzeit als woke bezeichneten Druck ist, wie vieles andere am Faschismus, irrational. Sie übertreibt die Macht der Subalternen maßlos und dient ihren Gegner:innen schließlich als Instrument und Legitimation, sie und ihre Forderungen nach Gleichberechtigung zu bekämpfen. Ähnlich wie mit dem Schlagwort Wokeness funktioniert das auch mit political correctness und Identitätspolitik.

Dabei haben sich dem Kampf gegen eine vermeintlich linke Hegemonie mit ihren angeblichen Sprech- und Denkverboten auch in der Vergangenheit schon nicht selten Linke angeschlossen und den Vorwurf des »autoritären Tribalismus« (Dierk Saathoff) erhoben. Wokeness sei schlicht denkfaul, regressiv, reaktionär. So manche sahen und sehen in dem Appell zur Aufmerksamkeit (wokeness) für diverse Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen nicht die Erweiterung des Klassenkampfs, sondern dessen Abschaffung.

Dass es in linker Theorie und Praxis überhaupt eine Haltung gibt, auf die jetzt als »woke« so eingedroschen wird, ist allerdings nicht dem Durchmarsch durchgeknallter Egoman:innen zu verdanken, sondern steht tatsächlich in linker Tradition, und zwar in keiner schlechten. Es sollte also diskutiert werden, wie diese Tradition heutzutage angemessen treu zu bleiben wäre, anstatt sie zu verwerfen. Jedenfalls führt der Vormarsch der Ultrarechten die Behauptung, »woke« sei »eine Technik, um Macht auszuüben« (Saathoff), als Verkennung realer Machtverhältnisse ad absurdum.

Wachsam gegenüber rassistischer Diskriminierung sein

Wokeness bedeutete in der Geschichte schwarzer Befreiungskämpfe die Aufforderung, wachsam gegenüber rassistischer Diskriminierung zu sein. Aber auch in der föderalistischen, später anarchistisch genannten Strömung in der Arbeiter:innenbewegung zu Zeiten der Ersten Internationale gab es einen Anspruch, den man als woke bezeichnen könnte: die neue Gesellschaft schon in der bestehenden vorwegzunehmen. Deshalb, zum Abbau von Herrschaft und nicht als Machttechnik, wurde das individuelle und kollektive Verhalten als politisch betrachtet.

Es geht dabei nicht um Moralismus, sondern um die politische Relevanz von Alltagspraxis. Denn wenn Geschichte gemacht wird, kommt es eben auch auf das Handeln Einzelner an. An diesen Ansätzen orientieren sich heute Bini Adamczak, die für neue »Beziehungsweisen« eintritt, oder Jule Govrin, die Formen der »Gegenhabitualisierung« gegen die Vorgaben und Routinen der »Dominanzkultur« (Birgit Rommelspacher) propagiert. Vor dem Hintergrund dieser Traditionslinien, so könnte man argumentieren, hat auch der Privilegiencheck einen libertär-sozialistischen Ursprung.

Nicht nur das Ausmaß an Spott und Häme von rechts und links hat den Begriff der Wokeness in Verruf gebracht. Anlässe woker Empörung wirken nicht selten ebenso überdreht wie übertrieben, und mitunter ist es auch mit der Kapitalismuskritik tatsächlich nicht allzu weit her. Dass das an sich antiautoritäre Motiv jener an Alltagspraktiken orientierten linken Tradition in zuweilen kleinliche Kämpfe um Begriffe selbst autoritäre Züge annimmt, steht außer Zweifel. Eine linke Kritik sollte das unbedingt problematisieren, aber ohne dabei die Errungenschaften linker Identitätspolitiken aus den Augen zu verlieren: den Kampf gegen gruppenspezifische Exklusion und die Ausweitung von Partizipation.

Elon Musk zeigt den Hitlergruß, Kanye West singt »Heil Hitler«

Denn spätestens die Politik der Regierung Trump sollte deutlich machen, wo der tatsächlich zu bekämpfende neoliberale Autoritarismus waltet. Sobald rechte Despot:innen die Macht haben, verbannen sie LGBTIQ-Fahnen von öffentlichen Gebäuden und Bücher aus Bibliotheken, verbieten Schreibweisen und Diversitätsprogramme. Der Kampf gegen das Programm zur Förderung von Diversität, Chancengleichheit und Inklusion in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen (DIE), den die US-Regierung auch auf die Dependancen europäischer Unternehmen ausweitet, hat bereits Auswirkungen. Sie bestehen in der Vertiefung sozialer Ungleichheit, die mit solchen Programmen abgefedert werden sollte. Mitte Mai hat auch Volkswagen die Diversitätsprogramme in seinen Tochterunternehmen in den USA gestrichen.

Diese rassistischen, sexistischen und queerfeindlichen Politiken sind es, die zensieren, Menschen ausschließen und soziale Ungleichheit vergrößern. Dass Elon Musk den Hitlergruß zeigt und Kanye West unzensiert »Heil Hitler« singt, dass queer- und insbesondere transfeindliche Übergriffe, angefacht durch die politische Hetze, auch in Deutschland zunehmen, sollte all jene Linken alarmieren, die sich an der Wokeness abarbeiten. So verzeichneten die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt für das Jahr 2024 einen Anstieg der Zahl von queerfeindlichen Angriffen um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Eine vergleichbare Bedrohung stellte die Wokeness nie auch nur annähernd dar.

Völlig unbeeindruckt von als woke bezeichneten Protesten singen Zehntausende Zuschau­er:innen auf Konzerten weiterhin sexistische Lieder von Rammstein mit, während zig Millionen US-Ameri­ka­ner:innen Donald Trump zum Präsidenten wählen.

Wokeness, Cancel Culture und tatsächliche Herrschaftsverhältnisse

Auch in der Debatte über die mit dem Attribut woke assoziierte Cancel Culture werden die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse gerne ausgeblendet. Während abgesagte Veranstaltungen und ausgeladene Gäste regelmäßig als »Zensur« gebrandmarkt werden, hat das eigentliche Problem andere Dimensionen. So weist etwa der ehemalige französische Fußball-Nationalspieler Lilian Thuram in seinem Buch »Das weiße Denken« darauf hin, dass nicht nur die Millionen Toten, die der Kolonialismus verursacht hat, nach wie vor kaum in Schulbüchern auftauchen.

Nicht nur Tötungen, Raub und Vergewaltigungen werden verschwiegen, sondern auch die Artefakte und Gewohnheiten der überfallenen Bevölkerungen wurden, wenn nicht zerstört, dann gegenüber den europäischen stark abgewertet. Hier sei »die Cancel Culture am Werk«, schreibt Thuram.

So autoritär und so skurril die Auswüchse woker Haltungen zuweilen sein mögen, vom Irrationalismus und Autoritarismus des Faschismus, wie Eco sie beschrieben hat und wie sie rechtspopulistische Regierungen an den Tag legen, sind sie weit entfernt.

Dass die Geschichte des Kolonialismus in die Gegenwart fortwirkt, sollte für Linke eine selbstverständliche Erkenntnis sein. Mit der Kritik an der Wokeness postkolonialer Ansätze wird aber nicht selten auch der Blick auf den Kolonialismus und seine Effekte entsorgt. Das ist nicht nur deshalb bedenklich, weil der Antikolonialismus immer auch Teil des linken Internationalismus war, ob proletarisch oder sozial bewegt, ob anarchistisch oder marxistisch.

So autoritär und so skurril die Auswüchse woker Haltungen zuweilen sein mögen, vom Irrationalismus und Autoritarismus des Faschismus, wie Eco sie beschrieben hat und wie sie rechtspopulistische Regierungen an den Tag legen, sind sie weit entfernt. Es ist auch nicht eine überkandidelte Wokeness, die diesen neuen Faschismen den Weg bereitet hat. Ganz im Gegenteil: Ihren Vormarsch verdanken die Ultrarechten den reaktionären Ressentiments einer tiefsitzenden Antiwokeness, auf die sich so viele einigen können. Leider auch in der Linken.