Entwürdigt altern
Jürgen geht zu Fuß von Neu-Ulm in die benachbarte Stadt Ulm – um einzukaufen und Wäsche zu waschen. Zu Hause wäscht er nicht mehr, weil es zu teuer ist. Dafür geht er zur Caritas. Und zu Fuß legt er die Strecke auch nicht freiwillig zurück. Er kann sich einen Fahrschein für den öffentlichen Nahverkehr schlicht nicht leisten. Jürgen gehört zu der großen und stetig wachsenden Gruppe der Menschen, die von Altersarmut betroffen sind.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamts bezogen im Dezember 2024 über 1,2 Millionen Menschen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Damit waren es rund 49.000 Menschen mehr als im Vorjahr, ein Anstieg von 4,1 Prozent. Die Zahl derer, die im Alter auf Grundsicherung angewiesen sind, steigt stetig. Die Deutsche Rentenversicherung gibt als einfache Faustregel an: »Wenn Ihr gesamtes Einkommen unter 1.062 Euro liegt, sollten Sie prüfen lassen, ob Sie Anspruch auf Grundsicherung haben.«
Das Wort »Altersarmut« taucht im Koalitionsvertrag nicht auf.
Jürgen lebt von 900 Euro im Monat. »Dazu bekomme ich noch 212 Euro Wohngeld. Aber die Mieten sind in Neu-Ulm genauso teuer wie in Ulm«, erzählt der 59jährige im Gespräch mit der Jungle World. Über 22 Jahre hat er als Lagerist gearbeitet, im Obst- und Gemüsebereich, wie er erzählt. Vier Jahre war er davor auch mal arbeitslos. Doch die schwere körperliche Arbeit im Lager machte ihm immer mehr zu schaffen; vor drei Jahren ging es dann nicht mehr. Er ging in Frührente. »Jetzt reicht es eigentlich nicht fürs Leben. Meine Einzimmerwohnung genügt mir vollkommen, aber ich muss 450 Euro Miete zahlen.«
Jürgen besuchte die Sonderschule, eine Ausbildung besitzt er nicht und hat zeit seines Lebens als Aushilfe gearbeitet. Einen Mindestlohn gab es im Lager- und Logistikbereich lange Zeit nicht. Sorgen bereiten ihm die immer weiter steigenden Preise. Da er auch noch Schulden abbezahlen muss, bleiben ihm 400 Euro zum Leben. Ein Deutschlandticket? Unerreichbar. Mal ein Stück Fleisch? Nicht drin. Einmal pro Monat gönnt sich Jürgen im Sommer aber ein Eis.
Im Supermarkt achtet Jürgen immer auf Angebote. Eine Urlaubsreise oder einen Restaurantbesuch kann er sich ebenfalls nicht leisten. Die Preise sind in den vergangenen drei Jahren so stark gestiegen, dass das Geld einfach nicht reicht. Ohne zusätzliche Unterstützung schafft er es deshalb nicht: An drei Tagen in der Woche besucht er den »Offenen Treff«, den der Verein »Altersarmut Ulm nein« von Donnerstag bis Samstag anbietet. Dort treffen sich Menschen, die von Altersarmut betroffen sind. Es gibt Kaffee und Kekse und viel Raum für Gespräche, Beratung und soziale Kontakte.
Zu stolz, um zum Amt zu gehen
Christiane Blessing-Win hat den Verein vor vier Jahren gegründet. Dazu bewogen haben sie teils professionelle, teils persönliche Gründe. »Ich habe lange beim UNHCR gearbeitet und bei meinen Einsätzen in vielen Ländern immer gemerkt, dass in Konfliktgebieten Arme und Alte oftmals die Ersten sind, die ohne Hoffnung leben«, erzählt Blessing-Win der Jungle World.
Das Thema Altersarmut holte sie dann auch in ihrer eigenen Familie ein. Ihre Mutter hatte ihr Leben lang mit ihrem Mann einen Blumenladen betrieben. Den Selbständigen blieb aber wenig übrig, um Rücklagen fürs Alter zu bilden. Als sich die Eltern dann auch noch trennten, stand Blessing-Wins Mutter mit 600 Euro Rente da. Zum Amt wollte sie allerdings nicht gehen. Dafür sei sie zu stolz gewesen.
Die Idee, einen Verein zu gründen, kam der 65jährigen im Ruhestand. Schnell waren sechs Mitstreiter gefunden und »Altersarmut Ulm nein« wurde ins Vereinsregister eingetragen. Seitdem wird das Angebot von immer mehr Menschen wahrgenommen. »Die Zahlen steigen stetig. Aktuell kommen rund 100 Personen jeden Monat bei uns vorbei«, erzählt Blessing-Win. Der Verein versteht sich explizit als Verein für alle, unabhängig von Alter und Einkommen. So freut sich Blessing-Win auch über Besucher, die selbst nicht von Altersarmut betroffen sind, aber helfen wollen.
Schuldnerberatung, Tafel, Caritas
Auch einige Geflüchtete kommen regelmäßig in den Verein. Sie helfen spülen oder servieren Kaffee. »Nebenbei üben sie Deutsch. Ein Gewinn für alle«, sagt Blessing-Win begeistert. Man backt zusammen, Lesungen finden statt und manchmal wird auch ein Tagesausflug organisiert. Zudem gibt es Angebote wie eine Schuldnerberatung, die Begleitung zu Behörden, aber auch Sachspenden werden vermittelt.
Jürgen kommt gern in den Verein. Wenn er wieder etwas fitter ist, würde er sich gern ehrenamtlich einbringen; im Verein, aber auch bei der Caritas, zu der er ein- bis dreimal pro Woche geht. Hier bekommt er Essen, kann Duschen und seine Wäsche waschen. »Manchmal gehe ich auch zur Tafel. Da stehen aber immer so viele Menschen an, dass ich manchmal nicht hingehe«, erzählt er.
Im Koalitionsvertrag mit der Union konnte sich die SPD zwar damit durchsetzen, das Rentenniveau bei 48 Prozent zu sichern; allerdings nur bis 2031 und nicht, wie ursprünglich von den Sozialdemokraten gewünscht, bis 2039. Genau ausgedrückt bedeutet das: Seit dem 1. Juli 2025 beträgt die sogenannte verfügbare Standardrente abzüglich der Sozialbeiträge 1.612,53 Euro, also 48 Prozent des statistisch ermittelten derzeitigen Durchschnittseinkommens in Deutschland.
Um sie zu beziehen, muss man 45 Jahre lang eingezahlt haben und die gesetzlich festgelegte Regelaltersgrenze erreicht haben. Da diese Standardrente nicht mehr allein aus den Beiträgen zur Rentenversicherung bezahlt werden kann, wird zur Finanzierung auf Steuermittel zurückgegriffen. Doch was hilft das Menschen wie Jürgen? Das Wort »Altersarmut« taucht im Koalitionsvertrag jedenfalls nicht auf.
Carsten Linnemann und die angeblich faulen Rentner
Ein neues Element im Koalitionsvertrag hingegen ist die Aktivrente. »Wer das gesetzliche Rentenalter erreicht und freiwillig weiterarbeitet, bekommt sein Gehalt bis zu 2.000 Euro im Monat steuerfrei«, liest man dazu im Koalitionsvertrag. Was dahintersteckt, machte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann am 26. Mai in Caren Miosgas gleichnamiger ARD-Talkshow deutlich. Während einer Debatte über angeblich mangelnde Leistungsbereitschaft fragte Miosga den Generalsekretär, wer seiner Meinung nach zu wenig arbeite. »Zum Beispiel – ja, machen wir es konkret – Rentner in Deutschland«, antwortete der.
Berechtigterweise macht sich Christiane Blessing-Win Sorgen, dass die Debatte zu Lasten der Armen geführt wird. Jürgen hegt auch keine großen Hoffnungen, dass sich an seiner Lage etwas ändert. »100 bis 200 Euro pro Monat mehr wären klasse«, träumt er. Dann könnte er sich ein Deutschlandticket leisten und vielleicht mal ins Kino gehen. Es sind bescheidene Wünsche, wie ihn jemand hegt, der von sehr wenig Geld lebt.
Jürgen würde sogar gerne arbeiten, schafft es in seinem derzeitigen Gesundheitszustand aber schlicht nicht. Er passt nicht in das Bild eines unwilligen und im Extremfall sogar faulen Bürgergeld- oder Wohngeldempfängers, das auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) so gern zeichnet.
»Wenn die Brille kaputtgeht oder Geld für Essen fehlt, springen wir mit einer Notfallhilfe ein«, erzählt Blessing-Win.
Dem Verein »Altersarmut Ulm nein« sind solche Fälle auch nicht bekannt. Im Gegenteil: Die Gründe, aus denen Menschen im Alter arm sind, sind vielfältig. Es trifft vormals Selbständige, die ihre Altersvorsorge vernachlässigt haben oder schlicht kein Geld für sie übrig hatten; Menschen nach einer Trennung oder Krankheit; viele Frauen, die nur in Teilzeit gearbeitet und Kinder großgezogen haben; Menschen, die ihre Angehörigen gepflegt haben oder durch die hohen eigenen Pflegekosten verarmt sind. Der Verein versucht, die Leute so gut wie möglich zu unterstützen. »Wenn die Brille kaputtgeht oder Geld für Essen fehlt, springen wir mit einer Notfallhilfe ein«, erzählt Blessing-Win.
Jürgen ist froh, dass es Vereine wie »Altersarmut Ulm nein« gibt. Sein Mobiltelefon ist kaputt und Geld für ein neues ist nicht da. Er kann manchmal das Handy von Christiane nutzen. Sorge bereitet ihm, dass seine Miete erhöht werden könnte, denn einen Umzug kann er sich nicht leisten. 22 Beitragsjahre lang hat Jürgen eingezahlt. Zum Verein und zur Caritas wird er wohl auch in Zukunft zu Fuß gehen, der ÖPNV ist zu teuer.