Keine Regulierung, traumhafte Profite

Utopie für wenige Auserwählte: So soll die Privatstadt Telosa einmal aussehen. Im Hintergrund der verstorbene Althippie und Internetphilosoph John Perry Barlow
Kalifornien erlebt derzeit einen beispiellosen Landkaufrausch. Seit 2017 hat die Firma Flannery Associates – mittlerweile bekannt als California Forever – über 800 Millionen US-Dollar in Land in Solano County investiert. Hinter dem Projekt stehen Prominente wie der IT-Investor Marc Andreessen, Laurene Powell Jobs, die Witwe des Apple-Gründers Steve Jobs, und Reid Hoffman, der Gründer von Linkedin. Ihr Ziel: eine komplett neue, futuristische Großstadt mit Zehntausenden Wohnungen, eigener Infrastruktur und Hightech-Industrie aus dem Boden zu stampfen.
Dabei geht das Unternehmen aggressiv gegen Bauern vor, die nicht mitspielen wollen. Landwirte, die nicht verkaufen wollten, wurden wegen illegaler Preisabsprachen verklagt. Um politische Unterstützung für ihr Vorhaben zu erhalten, hat die Firma Millionen Dollar in Public Relations und Lobby-Aktivitäten investiert.
Die Grundüberzeugungen des Cyberlibertarismus formuliert John Perry Barlow in seiner »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace«, in der er in schwülstigem Ton das Internet zu einem eigenen Rechtsraum erklärte.
Während das Unternehmen die bestehenden Gesetze nutzt, um ihre Geschäftsinteressen rücksichtslos durchzusetzen, versucht es gleichzeitig, dafür zu sorgen, dass es selbst möglichst wenig an Gesetze gebunden ist. Derzeit versucht die Firma, den Flächennutzungsplanung von Solano so zu verändern, dass schneller gebaut werden kann. Man will die Stadt auch nicht »inkorporieren«, sondern gemeindefrei bleiben; so könnte das Unternehmen viele Verpflichtungen einer Gemeindeverwaltung umgehen. Die Stadt wäre eher eine Art Sonderwirtschaftszone mit maßgeschneiderten Strukturen für IT-Unternehmen und Bewohner. Die Proteste der Anwohner haben California Forever zwar inzwischen etwas gebremst. Aber wie ein Anwohner, der sich an den Protesten gegen das Immobilienprojekt beteiligt hat, der New York Times sagte: »Geld schläft nicht.«
Und California Forever ist nur eines der Stadtprojekte, das Silicon-Valley-Unternehmer derzeit planen. Schon 2008 gründete der rechte Investor Peter Thiel das Seasteading Institute, das vor der Küste von Französisch-Polynesien auf Plattformen im Meer eine eigene Privatstadt errichten wollte, deren erste Entwürfe an die untergegangene aztekische Hauptstadt Tenochtitlan erinnerten. Steuern sollte es dort nicht geben, dafür eine eigene Kryptowährung.
Nach dem Scheitern des Projekts investierte Thiel zusammen mit anderen IT-Unternehmen wie dem sogenannten Anarchokapitalisten Patri Friedman in das Hightech-Stadtprojekt Próspera, das in einer Sonderverwaltungszone in Honduras entstehen soll. Weitere ähnlich gelagerte Projekte sind Telosa, Spectra oder Praxis; bei Letzterem soll eine internet-native nation im Mittelmeer entstehen. Aspirierende Unternehmer versuchten sogar, auf einer Südseeinsel ein »Cryptoland« zu errichten, in dem man seinen »Krypto-Lifestyle« zelebrieren soll.
Problem mit Demokratie und Rechtsstaat
Was diese Projekte gemeinsam haben, ist nicht nur die Tatsache, dass ihre Investoren ihr Geld in Internetgeschäft oder mit Kryptowährungen wie Bitcoin gemacht haben. In den meisten dieser Projekte sollen sich staatliche Strukturen auf ein Minimum beschränken, demokratische Teilhabe ist unerwünscht: In Próspera sollen nicht die Gesetze und Rechtsprechung von Honduras gelten, sondern das Regelwerk des Betreibers, einem Privatunternehmen.
Gesundheitsversorgung und Bildungswesen werden dort, so der Plan, ebenso von privaten Anbietern übernommen wie die Aufgaben von Polizei und Justiz, welche auf Basis des angelsächsischen Common Law operieren sollen. Die Bewohner müssen einen Vertrag mit dem Betreiber schließen, in dem sie unter anderem zustimmen, die Volkssouveränität an das Próspera-Unternehmen abzugeben, »soweit es notwendig ist, die Macht und Autorität aufrechtzuerhalten«. Dafür zahlt man auch nur zehn Prozent Steuern in der offiziellen Währung: Bitcoin.
Doch warum wollen Menschen, die ihr Vermögen mit immateriellen Nullen und Einsen, mit Bits und Bytes in Datennetzwerken verdient haben, auf einmal Siedlungen im physischen Raum erbauen? Und warum haben sie – nicht nur dabei – so ein Problem mit Demokratie und Rechtsstaat?
Die Antwort liegt in einer wenig bekannten, aber extrem wirkmächtigen Internet-Ideologie aus den neunziger Jahren: dem Cyberlibertarismus, einer zunächst digitalen Utopie, die sich durch solche Projekte immer weiter zu einer Methode der physischen Kontrolle von Territorien und Menschen entwickelt.
Der Cyberlibertarismus des John Perry Barlow
Die Grundüberzeugungen des Cyberlibertarismus formulierte 1996 der Althippie und Internetphilosoph John Perry Barlow in seiner »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace«, in der er in schwülstigem Ton das Internet zu einem eigenen Rechtsraum erklärte. In diesem Paralleluniversum sollte es keine staatliche Eingriffe und Regulierungen geben, um den Nutzern maximale persönliche Freiheit zu gewähren.
Über die Multimillionäre, die sich mit Wahlkampfspenden in Millionenhöhe in den inneren Kreis Donald Trumps eingekauft haben, hat der Cyberlibertarismus auch Einzug in die Politik der neuen US-Regierung gehalten. Abgesehen von Elon Musk, dessen »Bromance« mit Trump offenbar vorbei ist, sind hier vor allem der Próspera-Investor Peter Thiel und der Wagniskapitalist Marc Andreessen zu nennen, der Geld in California Forever gesteckt hat.
Der Einfluss dieser Ideen für die Entwicklung des Internets und damit auch auf unsere Gesellschaft bis in die Gegenwart kann kaum überschätzt werden. So verabschiedete der US-Kongress bereits 1996 einen bis heute gültigen Telecommunications Act, der »jedem Kommunikationsunternehmen erlauben sollte, auf jedem Markt mit jedem anderen zu konkurrieren«. Um diesen neoliberalen Traum zu ermöglichen, wurden Regulierungen des Internets weitgehend vermieden. So wurde aus dem ehemaligen Universitätsnetzwerk Internet ein globaler Marktplatz.
Von der Content Moderation verabschiedet
Besonders folgenreich war und ist Artikel 230 des Gesetzes, der Plattformbetreiber im Netz von der Verantwortung für die Inhalte enthebt, die von ihren Nutzern erstellt werden. Auf diese Regelung beriefen sich Social-Media-Anbieter wie Facebook oder Youtube jahrelang, während ihre Plattformen zu Distributionszentren für Fake News, Propaganda und Hass und Hetze wurden – man liefere ja nur die Infrastruktur, für die Inhalte seien allein die User verantwortlich. Bereits der Erfolg von Donald Trumps Lügenkampagnen und Beleidigungsorgien in seinem ersten Wahlkampf wäre ohne diese weitgehend unregulierten Kanäle nicht möglich gewesen.
Erst als die öffentliche Empörung über extremistische Propaganda, Verschwörungstheorien und Desinformation wuchs, begann man zähneknirschend, problematische Beiträge zu sperren und wenigstens für ein Mindestmaß an zivilisiertem Umgang zu sorgen. Doch Elon Musk leitete eine Kehrtwende ein, nachdem er Twitter (heute X) übernommen hatte; nun, da Trump wieder im Amt ist, hat man sich auch bei Facebook und Co. weitgehend von der Content Moderation verabschiedet, obwohl die wenigstens in der EU vorgeschrieben ist. In den USA wurden die Faktenchecker entlassen; Lügen und Falschbehauptungen können nun nur noch durch »community notes« korrigiert werden – also durch unbezahlte Mitarbeit der Nutzer.
Aber das Gesetz des Dschungels, das heute wieder in den sozialen Medien gilt, ist nur ein Erfolg des Cyberlibertarismus. Um den Staat aus dem Netz und aus den eigenen Daten herauszuhalten, entwickelten cyberlibertäre Hacker Verschlüsselungstechniken, die auch staatliche Institutionen wie die Polizei nicht knacken können. Wenn sich Apple heutzutage weigert, die Verschlüsselung der iPhones von mutmaßlichen Terroristen, Mördern und Drogenhändlern zu öffnen, folgt das Unternehmen den Postulaten dieser »Cypherpunks« und einer Ideologie, die den Schutz der Privatsphäre und die Integrität der Technik über die Interessen der Strafverfolgung stellt.
Nachdem Donald Trump im Wahlkampf angekündigt hatte, in den USA zehn »Freedom Cities« bauen zu lassen, wittert die Szene Morgenluft.
Auf die Vorarbeit dieser Hacker-Kryptographen geht auch eine weitere Technologie zurück, die kaum übersehbare negative Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft hat und von der Regierung Trump inzwischen mit Begeisterung gehypt wird: Kryptowährungen wie Bitcoin. Diese dienten von Anfang an dazu, staatliche Regulierung und Kontrolle beim Geldverkehr zu verhindern und Institutionen wie Zentralbanken zu umgehen. Zur Abwicklung normaler Zahlungsgeschäfte, wie einst verheißen, sind sie bis heute unbrauchbar. Stattdessen eignen sie sich wegen ihrer dramatischen Kursschwankungen hervorragend für Spekulation und Hochstapeleien.
Auch die versprochene Anonymität bei Zahlungsvorgängen bringt die erwartbaren Probleme mit sich: Bitcoin wurde zum Zahlungsmittel bei allen möglichen Arten von illegalen Finanztransaktionen und bei der Umgehung von Sanktionen. Das scheint den vorbestraften Betrüger Trump beeindruckt zu haben. Bei seiner eigenen Meme-Coin » Dollar Trump« ist vollkommen unklar, wer da größere Beträge investiert hat, unzweifelhaft ist hingegen, dass Trump selbst einen hübschen Teil Gebühren einbehält. Korruption und Bestechung ist so Tür und Tor geöffnet. Als Geste an die crypto community begnadigte Trump als eine seiner ersten Amtshandlungen den zu zweimal lebenslänglich verurteilten Schwerverbrecher Ross Ulbricht. Der gilt Krypto-Fans als Held, weil man auf seiner illegalen Börse »Silk Road« im Dark Web Bitcoin als Zahlungsmittel verwenden musste – unter anderem konnte man dort Waffen, gefälschte Pässe und Drogen wie Fentanyl kaufen.
So erfolgreich die »Tech-Bros« mit unregulierten sozialen Medien und Kryptowährungen Geld verdient haben, bei der Verwirklichung ihrer cyberlibertären Ideen von real existierenden start-up cities sind sie bisher regelmäßig gescheitert. Selbst dem angeblichen Geschäftsgenie und Superhirn Peter Thiel ist es bisher nicht gelungen, eine eigene Stadt mit eigenen Regeln zu erbauen.
Doch nachdem Donald Trump im Wahlkampf angekündigt hatte, in den USA zehn »Freedom Cities« bauen zu lassen, wittert die Szene Morgenluft: Die Frontier Foundation, ein Zusammenschluss von Unternehmen, die eigene Städte gründen wollen und sich dabei durch »veraltete und unnötig restriktive Bundesvorschriften erheblich behindert« fühlen, hat sich schon mit Vertretern der Regierung Trump getroffen, wie die Zeitschrift Wired berichtet. Trey Goff, der Geschäftsführer von Thiels Stadtprojekt Próspera, ist sich sicher: »Das ist nicht nur eine Marketingstrategie – sie nehmen das sehr wörtlich. Sie beabsichtigen, alle Versprechen, die sie im Wahlkampf gemacht haben, zu halten.«
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Tilman Baumgärtel ist Professor für Medienwissenschaften an der Hochschule Mainz und gibt derzeit das Seminar »Maga und Dark Enlightenment«, über die ideologischen Unterströmungen der Regierung Trump.