Trotzige Phantasie
Kinder haben Künstlerinnen seit jeher fasziniert. Jüngst haben etwa in der Berlinischen Galerie die Porträts der niederländischen Foto- und Videokünstlerin Rineke Dijkstra Eindruck gemacht, die bis vor kurzem im Rahmen einer Retrospektive zu besichtigen waren. Sie zeigen Kinder und Jugendliche an alltäglichen Orten, etwa im Park oder am Strand. Dijkstra stellt mit Hilfe der Kamera vor allem die Individualität ihrer kindlichen und jugendlichen Sujets aus, die sie aber auch oft in Gruppen aufnimmt.
Der belgische, in Mexiko-Stadt lebende Künstler Francis Alÿs, dessen Ausstellung »Kids Take Over« derzeit im Museum Ludwig in Köln zu sehen ist, interessiert sich mehr für die Tätigkeiten der Kinder. Das belegt die Rahmung der Ausstellung, aus der sich der Titel erklärt: Alÿs hat einen Teil der Ausstellungsräume von zwei Schulklassen gestalten lassen, die sich dafür Werke aus der Moderne-Sammlung des Museums aussuchen und sie kommentieren durften. So haben die Kinder etwa Tierskulpturen zu einem eigenwilligen Zoo versammelt.
Manche der Videoarbeiten kehren eher die unbeschwerten, andere die bedrückenden Momente hervor; immer wieder geht beides auch ineinander über.
Auch Alÿs Videoarbeiten zeigen das Interesse am kindlichen Tun. Über die letzten 25 Jahre rund um den Globus entstanden, widmen sie sich den unterschiedlichsten Spielen. Zum einen zeigen die Videos die spielenden Kinder selbst, wobei die Betrachterin einige Zeit braucht, um die Regeln zu durchschauen. Zum anderen führen sie vor, inwiefern die Spiele, ihre Regeln, die in das Spiel einbezogenen Objekte und Orte durch das bedingt sind, was den Kindern zur Verfügung steht. Damit rücken die Videos den sozialen Hintergrund der Spiele und die Lebensverhältnisse der Spieler ins Bild.
Die Arbeit »Children’s Game #39: Parol« (deutsch: Passwort) ist im Jahr 2023 nach der russischen Invasion in der Ukraine entstanden. Davon zeugen Einschusslöcher, die zu Beginn aus einem fahrenden Auto heraus zu erkennen sind – bis es von drei Jungen angehalten wird, die in übergroßen Soldatenuniformen stecken und mit Holzgewehren ausgerüstet sind. Ihr Spiel: Sie halten Autos an, fragen nach Ausweisen und nach einem Passwort: »paljanizja«, der Name eines traditionellen Brots, den Russen angeblich nicht richtig aussprechen können. Das Ziel: Damit sollen russische Spione identifiziert werden. Trotz dieses ernsten Auftrags und der von Misstrauen geprägten Atmosphäre, von der er zeugt, erscheinen die Kinder wie die von ihnen Angehaltenen ausgelassen.
Ein solches Spiel wäre unter friedlichen Bedingungen undenkbar. Es ist ein Kriegsspiel, das nur dank der Ereignisse erdacht wurde, mit denen die ukrainischen Kinder konfrontiert sind. Man mag es als einen spielerischen Umgang mit einer schrecklichen Realität verstehen: Die Kinder haben nicht trotz, sondern wegen der scheinbar ernsten Aufgabe daran ihre Freude. Zugleich zeichnet sich an dem Spiel der Preis ab, den die ganze Gesellschaft für die Verteidigung zu entrichten hat: Selbst die Spiele der Kinder nehmen die Bedingungen des Kriegs auf. Folglich verschwimmen die Grenzen zwischen dem bloßen Spiel und einer folgenschweren Realität.
Den drei Jungs an der Schwelle ihrer Jugend kann man unmöglich zuschauen, ohne an ihre Zukunft zu denken. In wenigen Jahren werden sie wohl ihre hölzernen Gewehre gegen echte eintauschen. Diese Antizipation des Publikums verleiht Alÿs’ Video eine melancholische Atmosphäre. Als Zuschauer weiß man, dass eben das, was den Kindern die Idee zu einem Spiel gibt, bald die Fähigkeit zerstören wird, Glück und Unbeschwertheit zu erfahren, die Kindern eben insbesondere im Spiel ausüben. Anlässlich des Spiels »Parol« zeichnet Alÿs ein schillerndes Bild, in dem sowohl solch kindliches Sentiment als auch dessen drohender Widerruf aufscheint.
Diese Spannung wohnt den meisten der in Köln gezeigten Videoarbeiten aus der Serie »Children’s Games« inne. Sie schließen damit einen spezifisch kindlichen Erfahrungsraum auf, der sich durch sein ambivalentes Verhältnis zu dem der Erwachsenen bestimmt. Die Erfahrungen von Kindern unterscheiden sich schon aufgrund ihrer geistigen und körperlichen Disposition grundsätzlich von denen der Erwachsenen, denen jene nicht mehr zugänglich sind. Zugleich sind sie konstitutiv für das spätere Selbst. Schließlich erleben Kinder eine Welt, die von Erwachsenen beherrscht wird. Auch ihre Spiele sind davon affiziert.
Manche der Videoarbeiten kehren eher die unbeschwerten, andere die bedrückenden Momente hervor; immer wieder geht beides auch ineinander über. So scheint etwa »Children’s Game #31: Slakken« ganz der Freude belgischer Kinder an einem Schneckenrennen gewidmet. Liebevoll werden Kreidekreise gezogen, Schnecken mit Farbe markiert und dann mit Verve angefeuert: »Allez! Allez!« Alles zeugt von der besonderen Nähe, die Kinder zu Tieren empfinden. Doch als es plötzlich zu regnen beginnt, kippt die Situation: Die Kinder springen auf und davon, scheinen sich nicht darum zu kümmern, dass sie beinahe die Schnecken zertreten.
Unbeschwertheit und Rücksichtslosigkeit
Die Unbeschwertheit offenbart ihr Gegenstück, die Rücksichtslosigkeit, mit der auch die spezifisch kindliche Grausamkeit aufblitzt. Alÿs findet am Ende ein berückendes Bild: In Großaufnahme zeigt er zwei der Schnecken, denen der Regen die blaue beziehungsweise grüne Farbe von ihrem Gehäuse wäscht, die langsam in Fäden davonfließt, bis das Bild immer unschärfer wird und alles ineinander verschwimmt.
Vor denkbar bedrückender Kulisse spielt »Children’s Game #19: Haram Football« – und ist doch ein Zeugnis ungebrochener Lebensfreude. In den Ruinen der am selben Tag von der Terrorherrschaft des »Islamischen Staats« befreiten irakischen Stadt Mossul treffen sich Jugendliche und spielen Fußball auf der Straße – nur dass sie keinen Ball dafür haben. Ihre an Ballett erinnernden Bewegungen sind nicht nur von einer grazilen Schönheit, in ihnen artikuliert sich auch der Trotz einer Phantasie, die sich selbst der denkbar grausamsten Realität nicht unterwerfen mag. Nur zwei Jahre zuvor, so verrät eine Einblendung im Video, waren 13 Jungen vom IS auf offener Straße erschossen worden, weil sie ein Fußballspiel im Fernsehen angesehen hatten. Jetzt triumphiert wieder das Leben auf diesen Straßen – bis plötzlich die Realität ihren Tribut fordert: Schüsse fallen und die Spieler rennen davon.
Solche Wendungen im Blick zu behalten, feit Alÿs‘ Arbeiten vor einer Romantisierung der Kindheit und des Spielens. Ihre besondere Stärke liegt darin, vorzuführen, wie eng sich die Unbeschwertheit des Spielens mit der Gewalt der Verhältnisse verschränkt. Stets droht diese Gewalt, jene Unbeschwertheit zu zerstören. Und wo es zu Glücksmomenten im Spiel kommt, sind sie diesen Verhältnissen abgerungen. Um dieses Spannungsverhältnis geht es Alÿs.
Auch das Spielen selbst kommt darin keineswegs so unzweideutig daher, wie es nach dem Schiller’schen Spruch wirken mag, nach dem der Mensch »nur da ganz Mensch« sei, »wo er spielt«. Das Spielen ist nicht nur Medium einer Humanisierung des Lebens, sondern kann auch Vehikel des glatten Gegenteils, nämlich seiner Zurichtung sein. Das ukrainische Soldatenspiel »Parol« macht deutlich, wie das Spiel zugleich Einübung gesellschaftlicher Anforderungen ist.
Andere der Spiele weisen eine Nähe zur Lohnarbeit auf. Das gilt für »Children’s Game #29: La roue«. Die in einer postindustriellen Landschaft gelegene Abraumhalde einer Kobaltmine in der Demokratischen Republik Kongo dient Kindern als Piste. Sie rollen Autoreifen bergauf, in die sie sich hineinklemmen, um sich dann halsbrecherisch die grauschwarzen Hänge hinunterzustürzen. Den Mühen des Aufstiegs widmet Alÿs ausgedehnte Sequenzen: Er erfolgt auf rutschigem Grund, barfuß und in der prallen Sonne. Diese Mühen werden zum Bild für die Härte einer Arbeit, zu der im Kongo bis heute gerade im Bergbau zahlreiche Kinder gezwungen sind. Als endlich der Moment der Abfahrt erreicht ist, wirkt das auch wie eine Befreiung, wobei die im Reifen installierte Kamera das Strahlen auf dem Gesicht des Kindes zeigt. Kaum unten angelangt, beginnt die Sisyphusarbeit des Aufstiegs von Neuem.
Den Zusammenhang von Kinderspiel und Kinderarbeit greift Alÿs auch in seinen Notizbüchern mehrfach auf. Deren Seiten zeigt die Ausstellung zusammen mit einer Reihe kleinformatiger Gemälde, die Spielszenen aus den Videos aufgreifen, in einem separaten Kabinett. Sie zeugen von Alÿs multimedialer Arbeitsweise. Besonders eindrücklich sind die Notizbuchseiten, in denen sich Textfragmente, Zitate, Assoziation und Skizzen zu den einzelnen Spielen und ihren Kontexten vermischen. Bisweilen hat das etwas vom Storyboard in der Filmproduktion und gewährt Einblick in den künstlerischen Produktionsprozess. Oft kann das Zusammenspiel von Kritzelei und Zeichnung aber auch als künstlerische Arbeit eigenen Rechts gelten.
Insgesamt handelt sich bei Alÿs Arbeiten um mehr als eine ethnographische Dokumentation von Spielweisen. Der Kamerablick lässt sich auf die Kinder und ihre Spiele ein. Er zeigt vor allem die Kraft der kindlichen Phantasie, mit der die des Künstlers offen sympathisiert. Dass sich beide darin treffen, rettet Alÿs Arbeiten davor, wie so vieles in der heutigen Kunstwelt zum Nachteil der ästhetischen Qualität politisch engagiert oder moralisch belehrend zu wirken. Sie finden für die Spiele der Kinder eine selbst spielerische, oder eben: eine künstlerische Form.
Die Ausstellung ist noch bis zum 3. August im Museum Ludwig in Köln zu sehen. Alle Video der Serie »Children’s Games« können auf Francis Alÿs’ Website angesehen werden: https://francisalys.com/category/childrens-games/