03.07.2025
Linke Wokeness wird von rechter abgelöst

Zyklen der Identitätspolitik

Das Ende der Wokeness ist in aller Munde. Dass man nun jedoch zum aufgeklärten Universalismus zurückkehren könne, ist ein frommer Wunsch. Vielmehr sieht es so aus, als ob eine rechte Wokeness die linke abgelöst hätte.

Woke zu sein, ist seit einigen Jahren das geflügelte Wort dafür, sich vermeintlich diskriminierungssensibel und konform mit den Sprach- und Verhaltenscodes des Intersektionalismus zu verhalten. Nicht selten haben damit einhergehende engstirnige bis inquisitorische Praktiken linke Debatten autoritär verengt und emotionalisiert, bisweilen regelrecht zensiert. Das haben rechte Kulturkämpfer aufgegriffen und reaktionäre Positionen mit dem Argument aufgewertet, dass sie wenigstens nicht woke seien. Der russische Despot Wladimir Putin und der US-amerikanischen Präsident Donald Trump bedienen sich dieser Entwicklung. Ist das Anlass, die Kritik an der Wokeness zu überdenken? Dierk Saathoff plädiert dafür, sich mit der Kritik an der Wokeness besser zwischen alle Stühle zu setzen, als in der rechten Antiwoke-Bewegung die Feinde seiner Feinde auszumachen (»Jungle World« 20/2025). Holger Marcks sieht in der Wokeness der Linken ein Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie (21/2025).  Jens Kastner und Lea Susemichel ver­teidigen die revolutionären Ursprünge der Wokeness (23/2025). Lucas Rudolph ist der Meinung, dass die Wokeness längst an Bedeutung verloren hat (24/2025).

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Wokeness ist seit einigen Jahren zu einer fixen Idee in den westlichen, speziell den englischsprachigen Gesellschaften avanciert. Die Obsession mit der Wokeness geht so weit, dass »woke« als billiges Schimpfwort den vormals gängigen abfälligen Bemerkungen über political correctness und den so­cial justice warrior den Rang abgelaufen hat.

So wurde eine ganze LKW-Ladung an Buchtiteln veröffentlicht, die das Phänomen erklären sollten. Tatsächlich konnte noch jeder rechte Einfaltspinsel, der sich einen Namen machen wollte, seine paar Taler mit einer Veröffentlichung über »wokeism« oder den »woke mind virus« verdienen, in der die Autorin Robin DiAngelo (die unter anderem den Begriff »white fragility« geprägt hat) zur größten Gefahr für die westliche Zivilisation stilisiert wird.

Vielleicht waren liberale Demokratie und der Sozialismus Produkte einer Geschichte, an die einst als eine Hochphase menschlicher Genialität so zärtlich erinnert werden wird wie an die Römische Republik.

Inzwischen hingegen scheint sich einhellig die Auffassung durchzusetzen, man befinde sich in einer post-woke era. Ähnlich wie das von Hegel benutzte Gleichnis der Eule Minervas besagt, die ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, sind die meisten Vorgänge erst in der Rückschau richtig zu begreifen. Und so kommt auch die Proklamation vom Ende der linken Wokeness mit einiger Verzögerung und nicht zufällig, nachdem Donald Trump – mit den Stimmen von Latinos und auch aus der schwarzen Bevölkerung der USA – zum zweiten Mal Präsident geworden war. Die – auch vibe shift genannte – Veränderung reflektiert auf eine tiefgreifende Reorganisation des Kapitalismus von der neoliberalen Ära hin zu einer post-neoliberalen.

Die Leichtigkeit, mit der große Unternehmen und Universitäten die Diversitäts- und Inklusionsprogramme eingestellt haben, die sie insbesondere inmitten des »Erwachens« 2020 nach der Ermordung von George Floyd eingeführt hatten, demonstriert, wie diese Verschiebung in der Praxis aussieht. Auch in der Linken verschiebt sich merkbar etwas. Das zeigen die vielen mea culpa wie jenes der britischen Journalistin Ash Sarkar, die wissen ließ: »woke is dead«, und in ihrem dieses Jahr erschienenen Buch »Minority Rule« kritisiert, dass Identitätspolitik viele durchschnittliche Leute linker Politik entfremdet habe. Die US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez wiederum hat auf ihren Social-Media-Accounts ihre Pronomensangaben she/her gelöscht.

Eine woke Rechte?

Konservative und Neurechte haben ihren Sieg erklärt, derweil ist die Linke zerknirscht. Aber bedeutet das Ende der Wokeness wirklich das Ende von Wokeness? Oder ersetzt nicht vielmehr eine rechts codierte Wokeness die zuvor linke? Konservative Liberale und und antiwoke Moderate haben, um dies zu beschreiben, den etwas schrägen Begriff der woken Rechten gewählt. Das wirft allerdings die Frage auf, was mit Wokeness bisher eigentlich gemeint war.

Tyler Harper Austin, Autor bei The Atlantic, definiert Wokeness nicht als originär linkes Phänomen, sondern als eines, das über politische Lager hinweg zu finden ist. Wokeness sei ein politischen Stil, der »inhaltlich neutral und ideologisch modellierbar« ist, der aber eine »Reihe von rhetorischen Strategien« in sich vereint, zu denen »Sicherheitsbedenken, Umdefinition von emotionalem Unbehagen als Gewalt und natürlich, Sprachrestriktion zur Erhöhung der Sicherheit und als Kampf gegen Gewalt« gehört.

Es ist offenbar, wie sich die Rechte diesen Modus von Identitätspolitik nutzbar machen kann: Die »woken Eliten« kontrollieren Unternehmen und Institutionen, die dann weiße Männer diskriminieren. All diese Jahre haben Rechte neidisch beobachtet, wie effektiv Linke mit cancel culture und no platforming vorgingen und entdeckten diese Strategien für sich selbst. Einen kleinen Vorgeschmack darauf bot der vielbeachtete Fall einer Mitarbeiterin der US-amerikanischen Baumarktkette Home Depot, die gefeuert wurde, nachdem US-amerikanische Rechte darauf aufmerksam gemacht hatten, dass sie online den gescheiterten Anschlag auf Donald Trump im vergangenen Jahr begrüßt hatte.

Denken in Rassenkategorien

Viel entscheidender aber ist, was linke Identitätspolitik und die ethnonationalistische neue Rechte verbindet: die Vorstellung von Politik als Konflikt um Ressourcen und staatliche Anerkennung zwischen Gruppen, zu denen Rasse und Gender-Identitäten naturalisiert werden; ihr Hauptsubjekt ist ein rassifizierter Opferapostel; charakteristisch ist die Bevorzugung von kultureller Exklusivität und »anderem Wissen« einerseits und die Ablehnung von Universalismus als idealistisch oder liberalem Kitsch andererseits.

Die Parteigänger der linken Wokeness sehen es sicher nicht gern, wenn man ihre »gute« Identitätspolitik neben die »schlechte« Identitätspolitik der Rechten stellt, und halten das wohl für moralische verkommene Gleichmacherei.

Sie können sich jedoch nicht wirklich wundern, dass ihr Denken in Rassen, angefangen bei ihrem unterschiedslosen Hantieren mit dem Begriff der »whiteness« bis hin zu wirklich reaktionären Dekolonisierungsforderungen (»Dekolonisiert das Curriculum! Dekolonisiert das Museum!«), dazu führt, dass die Rechte diese »weiße« Identität mobilisiert, um zurückzuschlagen. Ganz zu schweigen davon, wie die linke woke Rhetorik dazu beigetragen hat, das Denken in Rassenkategorien zu verbreiten, und das sogar unter dem Mantel das Antirassismus.

Rückfall in Tribalismus?

So absurd und elendig die progressive Wokeness daherkam – was auf sie folgt, kann noch schlimmer sein. Man nehme die neurechte Antieinwanderungspolitik. Sie kommt als Schutzmaßnahme für eine belagerte »weiße« ethnische Mehrheit daher, die Opfer der Massenimmigration geworden sei und deren Kultur und nationale Souveränität nun von einem die vermeintliche Ursprungskultur verwässernden Multikulturalismus und »Globalismus« bedroht werde. Das ist der bedrohliche Folge dessen, dass Rassendenken unter dem Schleier einer Art von kulturellem Protektionismus kultiviert wurde.

Läuft das alles auf einen allgemeinen Rückfall in Tribalismus hinaus? Ist jede Politik irgendwie Identitätspolitik? So jedenfalls stellte sich der Nazi-Philosoph Carl Schmitt Politik im Grunde vor – als einen Machtkampf zwischen Stämmen, die ihn in kriegsähnlicher Manier austragen: »Die spezifische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.« Schmitt und seine diversen Epigonen liegen damit falsch. Nicht alle Politik ist Identitätspolitik. Kämpfe, die darauf abzielen, die Gesellschaft im Namen universeller Emanzipation zu transformieren, damit die Freiheit eines jeden zur Bedingung der Freiheit für alle wird, hat es gegeben und wird es hoffentlich wieder geben.

Moderne Politik wurde von den zivilisierenden Kräften der aufsteigenden Bourgeoisie und der organisierten Arbeiterklasse geformt. Trotz des Klassengegensatzes beriefen sich doch beide auf eine Politik, die für sich beanspruchte, dem Interesse der Gesellschaft als ganzer zu dienen. Die Auflösung dieser Kräfte hat eine Lücke entstehen lassen, die ohne Weiteres dazu führen kann, Politik zu einem kruden interkommunal-mafiösen Wettbewerb um Ressourcen degenerieren zu lassen, der nur in einer Negation der liberalen Demokratie in ihrem ehrenwertesten Sinne bestehen kann.

»Die spezifische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.«  Carl Schmitt

Man vergebe den Pessimismus, aber vielleicht waren der Kapitalismus mit seiner liberalen Demokratie und der Sozialismus nur historisch vorübergehende Erscheinungen? Produkte einer Geschichte, an die einst als eine Hochphase menschlicher Genialität so zärtlich erinnert werden wird wie an die Römische Republik und die griechische Demokratie. Wird schließlich der Stammeskonflikt (in Verbindung mit der Herrschaft des Kapitals) als historischer Normalfall den Sieg davontragen?

Wünschenswert ist das jedenfalls nicht. Aber in einer sich fortwährend desintegrierenden Gesellschaft ist es unwahrscheinlich, dass diese Arten der Identitätspolitik alsbald verschwinden werden. Sie zeigen sich womöglich nur in Zyklen: In einem Moment hat die linke Identitätspolitik die Oberhand, wenn sich dann Ermüdung breitmacht, übernimmt die rechte Identitätspolitik, und wenn die Leute davon genug haben, geht das Staffelstab zurück an die Linke. Und so geht es immer weiter.