Boxen für Erez Israel
»Juden, lernt Boxen«, appellierte der Sportjournalist Ben Jakow in der Jidisze Sport-Cajtung leidenschaftlich an die Shoah-Überlebenden in den Camps der displaced persons (DP) und fügte sarkastisch hinzu: »Es tut ein bisschen weh, aber Juden sind an den Schmerz gewöhnt.« In den DP-Camps warteten ab 1945 bis zu 200.000 Überlebende der Shoah, zumeist aus Osteuropa, auf eine Auswanderung in den noch zu gründenden Staat Israel oder klassische Immigrationsländer.
Getreu dem Ruf »Jüdischer Sportler! Wir wollen die Tradition des jüdischen Heldentums fortführen« organisierten sich in den DP-Lagern Leichtathleten, Turner, Fußballer und natürlich Boxer. Durch die Körperkultur sollte die Jugend »im Geiste von Stärke, Heldenmut, Gesundheit und allgemeiner physischen Vorbereitung« erzogen werden.
»Nach dem großen Unglück unseres Volkes muss Boxen bei uns zu einem Massensport werden, weil es die Bedeutung von Selbstverteidigung hat.« Jüdische Funktionäre der DP-Lager
Lieblingssport der Massen war der Fußball, doch die zionistischen Parteifunktionäre favorisierten das Boxen, weil bei diesem Sport ihrer Ansicht nach »Schnelligkeit, Ausdauer, Kaltblütigkeit, Kampfeslust, Siegeswillen und das Schönste: der Heldenmut« entwickelt wird. »Nach dem großen Unglück unseres Volkes«, so ihre Forderung, »muss Boxen bei uns zu einem Massensport werden, weil es die Bedeutung von Selbstverteidigung hat.«
Auch wenn es in den ersten Monaten nach der Befreiung ums physische Überleben ging und an sportliche Betätigung kaum zu denken war, versammelten sich die nur knapp dem Tod Entronnenen schon bald und gründeten erste Sportvereine. Im DP-Lager Landsberg am Lech entstand bereits im Oktober 1945 der Sportverein Ichud (Einheit) mit mehreren Sparten, darunter Leichtathletik, Tischtennis, Fußball und Boxen. Durch Wettkampf und Spiel wollte man sich körperlich ertüchtigen und neues Selbstvertrauen gewinnen. Der Sport diente aber auch dazu, den Alltag zu strukturieren und etwas Abwechslung und Freude ins triste Lagerleben zu bringen.
Ein erstes jüdisches Boxturnier nach dem Zweiten Weltkrieg fand am 5. und 6. Juli 1946 im Frankfurter DP-Camp Zeilsheim statt, mit Mannschaften aus Föhrenwald, Bad Wörishofen, Landsberg und dem Gastgeber. Souveräner Sieger wurde die Staffel aus Landsberg, die nach Abschluss der Wettkämpfe den silbernen Pokal erhielt.
Bei der Sportveranstaltung im Lager Gabersee (Wasserburg) vom 30. November bis 1. Dezember 1946 kämpften dann bereits Boxer aus sechs Camps um Sieg und Platz. »Der erste Tag begann mit dem imponierenden Einmarsch der Teilnehmer. Das Herz hüpfte vor Freunde, als die Zuschauer die Parade der Sportler erblickten«, schrieb ein Journalist der jiddischen Zeitung Ibergang, der diesen Auftritt als eine »körperliche Wiedergeburt der jüdischen Jugend« bejubelte. Die 45 Kämpfer traten in sechs Klassen an: Fliegen-, Feder-, Papier,- Leicht-, Halbmittel- und Halbschwergewicht. Diesmal belegten die Boxer aus dem Lager Pocking den ersten Platz.
Rund zwei Monate später fand ein weiteres vielbeachtetes gesellschaftliches Großereignis statt, nun in München, der ehemaligen »Hauptstadt der Bewegung«: die jüdische Boxmeisterschaft in der US-Zone Deutschlands. Schon am Vorabend, dem 26. Januar 1947, trafen die ersten Sportler mit ihren Betreuern und Funktionären ein. Insgesamt hatten über 120 Personen, darunter 68 Boxer, die beschwerliche Reise aus allen Ecken der US-Zone angetreten. Staffeln aus den DP-Lagern Föhrenwald, Landsberg, Zeilsheim, Pocking, Weilheim, Gabersee, Bad Reichenhall, München, Bamberg, Deggendorf, Dorfen, Backnang und Wasseralfingen kämpften um Ruhm kämpfen.
»Montag, dem 27. Januar 1947, ab vier Uhr nachmittags strömten die sportbegeisterten Massen in Richtung Circus Krone«, berichtete die jiddische Presse. »Im Publikum sah man aber nicht nur Juden, auch nichtjüdische Boxfans, zumeist Amerikaner, waren darunter.« Dazu viele geladene Ehrengäste: Abgeordnete des Zentralkomitees der befreiten Juden sowie Repräsentanten der US-Militärregierung und verschiedener Hilfsorganisationen.
Ein Orchester spielte die Hatikvah
Pünktlich um fünf Uhr wurde der Wettkampf feierlich eröffnet. Starke Scheinwerfer leuchteten die Halle aus, unter Trommelwirbel marschierten die Aktiven und Funktionäre mit blau-weißen Fahnen und dem US-Sternenbanner in die Arena ein. Ein Orchester spielte die Hatikvah und die US-Nationalhymne. Nachdem jüdische Funktionäre und Vertreter der Militärregierung ihre Grußworte gehalten hatten, ergriff Philipp Auerbach, der Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte, das Wort. Er erinnerte an Hitlers Auftritt im Circus Krone vor zwölf Jahren: »Und jetzt finden unsere Wettkämpfe hier statt«, sagte er unter tosendem Beifall der Zuschauer. »Es ist ihm nicht gelungen, uns vollständig zu vernichten, und unsere Jugend wird beweisen, dass es an der Zeit ist, unsere Ehre zu verteidigen – nicht nur im Ring oder auf dem Sportplatz!«
Als erste Kämpfer betraten zwei zehnjährige Jungen aus dem DP-Camp Landsberg den Ring und führten einen ansprechenden Schaukampf auf, den der Ringrichter mit einem salomonischen Urteil als unentschieden wertete. Wurde der Nachwuchs noch milde belächelt, so offenbarte sich am nächsten Tag schon bei den Vorkämpfen, dass viele Boxer ihren Sport vor dem Krieg professionell ausgeübt hatten. Am letzten Tag des Turniers standen die besten 16 Boxer für die acht Endkämpfe fest.
»Voller Spannung wartete das Publikum auf interessante und anspruchsvolle Kämpfe«, schrieb der Sportreporter hoffnungsvoll – und er und die Zuschauer wurden nicht enttäuscht. Zeilsheim stellte fünf Boxer, Landsberg vier, Föhrenwald vier und Deggendorf, Wasseralfingen und Dorfen jeweils einen Kämpfer. Die Männer aus dem Camp Zeilsheim setzten sich erwartungsgemäß durch; sie belegten mit vier Meistern in den Klassen Feder,- Fliegen-, Halbmittel-, Halbschwergewicht unangefochten den ersten Platz. Landsberg, Deggendorf und Föhrenwald mussten sich mit jeweils einem Meister zufriedengeben. Das Ergebnis im Leichtgewicht konnte der Berichterstatter nicht mitteilen, »da gegen den Schiedsspruch Protest eingelegt« wurde.
»Ein Muskel-Judentum schaffen«
Angesichts des dreitägigen Turniers mögen einige damals an den bekannten Ausspruch Max Nordaus auf dem Zweiten Zionistischen Kongress 1898 gedacht haben: »Wir müssen trachten, wieder ein Muskel-Judentum zu schaffen. Wieder! Denn die Geschichte bezeugt, dass es einst ein solches gegeben hat.«
Manche sahen den Sport auch als Training für den sich abzeichnenden militärischen Kampf um Palästina. »Jüdischer Sportler! Melde dich unverzüglich zum Wehrdienst! Das Land ruft und braucht dich«, proklamierte die Jidisze Sport-Cajtung im Frühjahr 1948 klar und eindringlich. »Wir Sportler müssen beweisen, dass wir die Avantgarde unseres Volkes sind, aus unseren Reihen werden die Helden kommen, die die Fahne der Befreiung und Unabhängigkeit von Erez Israel tragen.« Dieser Aufruf blieb nicht ungehört – mitunter machten sich komplette Sportvereine auf den Weg nach Palästina.
Wenngleich im Frühling 1948 nochmals eine jüdische Boxmeisterschaft stattfand, wurde mit der Abwanderung der Juden aus Deutschland und der Schließung der letzten DP-Camps in den frühen fünfziger Jahren das Ende einer jüdischen Sportkultur eingeleitet, wie sie hier nicht wieder entstehen sollte. Eine dritte Boxmeisterschaft der »frajer jidiszen Jugnt«, wie die Jidisze Sport-Cajtung die Faustkämpfer nannte, fand in Deutschland nicht mehr statt.