Eine Bannbulle gegen das »Gebilde«
Nach dem Massaker an israelischen Zivilisten am 7. Oktober 2023 – aus ihrer genozidalen Absicht machten die Täter kein Geheimnis – war die Empörung über die Hamas und ihre willigen Vollstrecker weltweit so groß, dass Gaza bald allseits boykottiert wurde. Wer nicht ausdrücklich Stellung bezog gegen die Terrorherrschaft der Jihadisten und deren immer wieder bekräftigte Absicht, den jüdischen Staat und seine Bewohner zu vernichten, musste damit rechnen, zur Unperson, ja zu einem Feind der Menschheit erklärt zu werden. Palästinenser hatten gefälligst Rechenschaft abzulegen und den mörderischen Erlösungsantizionismus ihrer Führer zu verurteilen, um nicht in den Verdacht der Komplizenschaft zu geraten. »Complicit in genocide« lautete die griffige Formel, die Leuten umso leichter über die Lippen ging, als sie dieses Wort, das nun allenthalben besinnungslos hinausposaunt wurde, überhaupt zum ersten Mal gehört hatten.
Damit zurück in die Wirklichkeit – oder was man nach den Ereignissen und den sie überbietenden Erzählungen der letzten 20 Monate noch damit verwechseln mag: Ende Juni dieses Jahres hat auch die Internationale Soziologische Vereinigung (ISA) ihre moralische Integrität demonstriert und mitgeteilt, dass sie »ob ihrer Haltung zum Genozid an den Palästinensern in Gaza keine institutionellen Beziehungen zu israelischen öffentlichen Einrichtungen unterhält«. Bedauerlicherweise hätten die israelischen Kollegen »keine klare Position bezogen, um die dramatische Situation in Gaza zu verurteilen«, weshalb man beschlossen habe, »die kollektive Mitgliedschaft der Israelischen Soziologischen Gesellschaft auszusetzen«.
Der Boykott israelischer Institutionen und Personen im Bereich der Wissenschaft hat gravierende Auswirkungen, nicht zuletzt auch auf die Palästinenser, die an der Hebrew University of Jerusalem immerhin 20 Prozent der Studierenden ausmachen.
Die Israelis, heißt das, bleiben so lange ausgeschlossen, bis sie sich der vollmundigen Dämonisierung ihres Landes beugen und die von der ISA dekretierte »Solidarität mit dem palästinensischen Volk« bekunden, die freilich nur dann unbedingt gefordert ist, wenn sie sich gegen den jüdischen Staat richtet. Wie es jenem Volk unter der Herrschaft der Hamas ergangen ist, ehe diese mit ihrem beispiellosen Massaker vom Oktober 2023 den seit 2008 bereits sechsten Krieg gegen Israel begann – in dem ihr getötete Zivilisten auf beiden Seiten, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, ausdrücklich erwünscht sind –, war nie eine Protestnote wert, geschweige denn eine soziologische Untersuchung.
Dass die Hamas endlich kapitulieren und die israelischen Geiseln freilassen solle, hat bisher kein noch so tief besorgter Verein verlangt. Stattdessen betet auch die ISA in ihrer Bannbulle die inzwischen gebräuchlichen buzzwords herunter: »Siedlerkolonialismus«, »Apartheidstaat Israel« und so weiter.
Vorausgegangen war dem Beschluss die Weigerung der Marokkanischen Soziologischen Vereinigung, Israelis an dem im Juli in Rabat stattfindenden ISA-Forum teilnehmen zu lassen. Man heiße »niemanden willkommen, der mit dem ›zionistischen Gebilde‹ in Verbindung steht«. Die Verleumdung Israels im Stil der iranischen Mullahs entlockte der ISA nicht einmal eine Rüge.
Auch die ihr nach wie vor angehörende Iranische Soziologische Gesellschaft konnte unwidersprochen verlautbaren, die Menschheit – darunter tun sie’s nicht, wenn das Staat gewordene Weltjudentum am Pranger steht – befinde sich »an einem kritischen Wendepunkt, der möglicherweise den Verlauf des Anthropozäns und die Integrität der Biosphäre selbst bestimmen wird. Vor diesem ohnehin schon prekären Hintergrund sind wir besonders alarmiert über die jüngste militärische Aggression der israelischen Regierung auf iranischem Territorium.«
Was genau da aus welchem Grund angegriffen wurde – und ob nicht die Vernichtung Israels seit der Islamischen Revolution von 1979 zur iranischen »Staatsräson« gehört –, wäre an dieser Stelle allzu viel »Kontext« (Judith Butler).
Genau Bescheid wissende Soziologen
Von sich selbst behauptet die ISA, sie vertrete »Soziologen weltweit, unabhängig von Denkschulen, wissenschaftlichen Ansätzen oder ideologischen Meinungen«. Allein für Israelis gelten andere Regeln. Mit dem monströsen Vorwurf eines Genozids, den sie im Einvernehmen mit UN, Amnesty International und anderen für erwiesen hält, lässt sich jeder abkanzeln, der auch nur zögert, Israel eines solchen Verbrechens gegen die Menschheit zu bezichtigen.
Wer es genauer wissen will als die offenbar schon genau Bescheid wissenden Soziologen, könnte zum Beispiel die Studie des Begin–Sadat Center for Strategic Studies lesen, in der die seit 2023 gegen Israel erhobenen Vorwürfe minutiös untersucht werden; oder den Bericht des US-amerikanischen Historikers Norman J. W. Goda, der darlegt, wie, warum und von wem der Staat Israel seit seiner Gründung stets aufs Neue eines Verbrechens beschuldigt wird, das seinen heute allgegenwärtigen Namen der Vernichtung der europäischen Juden verdankt.
Wer die katastrophale Lage im Gaza-Streifen, die Israel allerdings nicht allein zu verantworten hat, zu einem Genozid erklärt (oder obszöne Vergleiche mit dem Warschauer Ghetto oder gar Auschwitz anstellt), hilft damit vor allem der Propaganda der Hamas und nicht etwa der notleidenden Bevölkerung, die jene selbst erst mutwillig in diese Lage gebracht hat.
Wer die katastrophale Lage im Gaza-Streifen, die Israel allerdings nicht allein zu verantworten hat, zu einem Genozid erklärt (oder obszöne Vergleiche mit dem Warschauer Ghetto oder gar Auschwitz anstellt), hilft damit vor allem der Propaganda der Hamas und nicht etwa der notleidenden Bevölkerung.
Es dürfte die angeblich um Palästina besorgten neuen »Antideutschen« in aller Welt, die ausgerechnet dieses Land hier für den übelsten Komplizen Israels halten, nicht wundern, dass gerade die Deutsche Gesellschaft für Soziologie gegen den Ausschluss des israelischen Verbands protestiert hat. Es sei, so heißt es in einer Stellungnahme, »nicht mit den Grundsätzen einer internationalen Wissenschaftsgemeinschaft, wie die ISA sie für sich beansprucht, vereinbar, von der israelischen soziologischen Fachgesellschaft eine bestimmte Form der Distanzierung von Kriegshandlungen zu verlangen oder sie für Handlungen der Regierung ihres Landes in Haftung zu nehmen. Eine solche Forderung hat eine diskriminierende Wirkung und unterminiert das Prinzip wissenschaftlicher Kooperation auf Augenhöhe. Sie maßt sich zudem an, entscheiden zu können, welche Formen des Protests unter bestimmten Bedingungen die richtigen und möglichen sind. Bei der Suspendierung werden dabei im Umgang mit der israelischen Fachgesellschaft strengere Kriterien angelegt als an Fachgesellschaften anderer Länder.«
Tatsächlich hat der Boykott israelischer Institutionen und Personen im Bereich der Wissenschaft gravierende Auswirkungen, nicht zuletzt auch auf die Palästinenser, die an der Hebrew University of Jerusalem immerhin 20 Prozent der Studierenden ausmachen. Israelische Universitäten müssen ihre Wissenschaftsfreiheit nun nicht nur gegen die Forderungen der eigenen Regierung, sondern ebenso gegen die selbstgerechten Erpressungsversuche internationaler Kollegen behaupten, die sie für einen »Genozid«, nebst »Epistemizid« und »Scholastizid« (ISA), in Sippenhaftung nehmen.
Der Jude muss sich rechtfertigen, das gilt seit jeher und übrigens nicht nur für Israelis. »Glückselig waren wir jungen Juden, zu einem Volk zu gehören, das den Heiligenschein des Unglücks trug, wir warteten nur darauf, dass einer daherkommen und uns als ›Itzig‹ bezeichnen würde«, schrieb Alain Finkielkraut in »Der eingebildete Jude« (1980): »Doch statt dieses Hohlkopfes, dieses Faschisten kamen nun alle naselang Leute, die vor gutem Gewissen trieften, die uns belehrten, die uns nicht unsere Rasse vorwarfen, sondern unseren Rassismus, die uns die Schuld gaben am Machtmissbrauch eines Staates, den sie als theokratisch, imperialistisch und militaristisch beschrieben. In uns hasste man den Landräuber oder den Ledernacken, nicht den Verbannten oder den Nomaden. Keine verfolgte Minderheit waren wir mehr, sondern arrogante Unterdrücker. Allerdings blieb uns eine Chance, unser einstiges Image wiederzuerlangen: Wir konnten das Dokument unserer Scheidung von Israel vorlegen. In progressiven Kreisen herrschte damals eine inquisitorische Atmosphäre. Um als Jude akzeptiert zu werden, hatte man konsequent mit dem Zionismus zu brechen. Genauso wie das liberale Frankreich den Status des Israeliten nur jenen Nachkommen der Propheten zubilligte, die sich auch vom letzten jüdischen Stäubchen gereinigt hatten. Die Position des Juden hatte sich in ihr Gegenteil verkehrt, die Kriterien waren nicht mehr die gleichen, unverändert aber war, wenn man so sagen darf, der Reinigungsimperativ, die Verpflichtung, Rechenschaft abzulegen.«