Leistung vom Rauschen trennen
In der Fußball-Bundesliga können vom 1. Juli bis zum 1. September Sommertransfers abgeschlossen, also Spieler ge- und verkauft werden. Der Sportfernsehsender Sky überträgt das große Transferfinale, den sogenannten Deadline Day, sogar live. Es geht um sehr viel Geld. Die beiden Transferperioden im Sommer und im Winter sind die Hauptarbeitszeiten der Spieleragenten, Teammanager, Finanzabteilungen – und seit mindestens zehn Jahren auch der Datenanalysten, die ihr Wissen bei der Entscheidung einbringen, welche Spieler gekauft werden sollen.
Schaut man sich auf dem Karriereportal Linkedin um, findet man Stellenanzeigen großer Bundesligisten, die sich vor dem Start der Transferzeit personell verstärken wollen. Die systematische Arbeit mit Datenanalysten begann in der Bundesliga in den frühen zehner Jahren. 2014 schloss der DFB mit dem IT-Konzern SAP eine Partnerschaft, um die »sportlichen Leistungen der deutschen Nationalmannschaft« zu verbessern. Dem Team um Joachim Löw wurde eine Datenbank mit rund 7.000 Spielen gegnerischer Mannschaften zur Verfügung gestellt. Dieses Engagement von SAP gilt als ein Baustein des deutschen WM-Erfolgs 2014 in Brasilien.
Fußballkonservative wie Mehmet Scholl verspotteten anfangs die von ihm als »Laptop-Trainer« betitelten Analytiker.
Fußballkonservative wie Mehmet Scholl verspotteten anfangs die von ihm als »Laptop-Trainer« betitelten Fachleute. Diese verließen sich auf Taktik und Datenanalyse statt auf Intuition und Autorität, wie sie einem Coach aus seiner Spielerkarriere erwachsen können. Scholl meinte, dieser Trainertyp sei »nicht wirklich an den Menschen und Fußballern interessiert«. Ein guter Trainer müsse, so der ehemalige Spielmacher von Bayern München, »oben mitgespielt« haben, statt mit »Kursbestergesicht« die Inhalte der Trainerakademie aufzusaugen.
Zehn Jahre später lässt sich konstatieren, dass die Sportgeschichte den Laptop-Trainern recht gegeben hat. Mehmet Scholl hat es zwar als Kommentator in diverse Sportsendungen geschafft, aber nie auf die Trainerbank eines Bundesligisten. Einer, der den geschmähten Laptop-Trainern gegen Scholl öffentlich zur Seite sprang – mit der fehlformulierten Frage: »Welche Daseinsberechtigung hat Mehmet Scholl, über Trainer zu urteilen?« –, wurde selbst zu einem der erfolgreichsten Coaches im internationalen Fußballgeschäft: Jürgen Klopp.
In seinen erfolgreichen neun Jahren beim englischen Spitzenteam Liverpool Football Club (LFC) ab 2015 hat Klopp nicht nur national und international Titel gewonnen, sondern auch den Kaderwert auf rund 1,4 Milliarden Euro gesteigert – vorbei an Konkurrenten wie Manchester City. Die kluge Transferpolitik zahlte sich aus, besonders in den Jahren des Champions-League-Gewinns 2019 und des Meistertitels in der Premier League 2020. Liverpool gehörte zwar zu den »Big Six« des englischen Fußballs und konnte entsprechend investieren, verfügte jedoch bei Klopps Amtsantritt über weniger finanzielle Mittel als die Konkurrenz aus Manchester oder London, die dank der Unterstützung russischer Oligarchen oder Golfmonarchien mit Ölmilliarden unter keinem unmittelbaren Druck stand, sich zu refinanzieren.
Ein Spiel in viele Einzelhandlungen zerlegen
Einen Einblick in diese erfolgreiche datenbasierte Transferpolitik gibt nun der Physiker und Cambridge-Absolvent Ian Graham in seinem gerade auf Deutsch erschienenen autobiographisch geprägten Buch »Wie man die Premier League gewinnt – Die Inside-Story der Datenrevolution im Fußball«. Von 2012 bis 2023 arbeitete Graham für den FC Liverpool und baute an dessen Heimstätte an der Anfield Road die erste interne Datenanalyseabteilung der Premier League auf.
Datenanalyse im Fußball bedeutet für Graham, ein Spiel in viele Einzelhandlungen wie Torschüsse, Pässe oder das Überspielen von Gegenspielern zu zerlegen und die Erfolgswahrscheinlichkeiten dieser Aktionen zu ermitteln. Ziel ist es, herauszufinden, ob ein Tor oder Sieg nur Glück war oder das Ergebnis einer statistisch erfassbaren Leistung. Den Wert dieser auf Wahrscheinlichkeiten ausgerichteten Sichtweise sei es, »Leistung bzw. Signal von Glück bzw. Rauschen zu trennen«. Die Aufgabe der Datenanalyse bestehe also darin, »die langfristig zugrunde liegende Leistung von kurzfristigen, nicht wiederholbaren Schwankungen zu unterscheiden«.
Das ist besonders wichtig für Spieler, die auf ihren Positionen in Verteidigung oder Mittelfeld selten Tore schießen – deren Wert wird so über Pässe, Dribblings oder Ballgewinne erfasst. Bei Stürmern ist die Bewertung einfacher: Wie viele Chancen sie kreieren oder verwerten, ist der Maßstab für den Erfolg. Deshalb kassieren Angreifer in der Regel höhere Gehälter und erzielen höhere Ablösesummen.
»Die Leistung für jedes ausgegebene Pfund maximieren«
Doch wie bewertet man den Rest – zum Beispiel die Arbeit des Trainers und ob dieser zur Mannschaft passt? Den passenden Trainer zu finden, gelang dem LFC just in der Zeit, als Graham dem Transferkomitee angehörte. Jürgen Klopp war damals »unterbewertet und arbeitslos« – und führte Liverpool, unterstützt von Grahams Datenabteilung, in die Spitze der weltweit führenden Clubs zurück.
Graham beschreibt seine Arbeit für den traditionsreichen LFC so: »Neben der Datenanalyse führten wir auch Finanzanalysen durch, ein wichtiger Teil davon war das Verstehen von Ablösesummen und Gehältern – wofür der Markt zu viel und wofür zu wenig zahlt.« Es ging nicht nur darum, die Leistung von Spielern oder des Spielsystems zu verbessern, »sondern die Leistung für jedes ausgegebene Pfund zu maximieren«. Diese kapitalistisch-rationale Denkweise kollidiert häufig mit der Angst von Fußballmanagern, den nächsten Superstar zu verpassen – und führt zu Investitionen in Spieler, die bei einem Spiel besonders glänzen, statt sich über eine ganze Saison hinweg als konstant leistungsstark zu erweisen.
Graham schreibt in seinem Schlusswort, dass der FC Barcelona 2019 zwar ebenfalls eine gute Datenabteilung hatte, diese aber im Gegensatz zu Liverpool offenbar wenig Einfluss auf die Transferentscheidungen nahm. Bei Barça galten bekannte Namen als besseres Argument für einen Kauf als statistisch fundierte Datenprofile. Liverpool kaufte hingegen gezielt Spieler von Absteigern, die durch die schwache Teamleistung als »beschädigt« galten und günstig zu haben waren, sich dann aber zu Leistungsträgern entwickelten. Als Beispiel nennt Graham den Niederländer Georginio Wijnaldum, der vom Erstligaabsteiger Newcastle United kam und bei Liverpool zum »Meister des vorletzten Passes« wurde.
Mit Graham in die Big Six des englischen Fußballs
Ein lohnender Transfer war auch der von Joël Matip, der ablösefrei von Schalke 04 zu Liverpool wechselte. Matip war in einem Spiel, bei dem Scouts des FC Bayern München anwesend waren, durch Fehler negativ aufgefallen – in Liverpool hingegen wurde er zum Star.
Bevor Graham, der seit seiner Kindheit Liverpool-Fan ist, an die Anfield Road wechselte, arbeitete er bei der Beratungsfirma Decision Technology, für die er zwischen 2005 und 2012 unter anderem den Londoner Club Tottenham Hotspur beriet. Als externer Dienstleister hatte er dort jedoch kein Mitspracherecht bei Transferentscheidungen – was ihn immer mehr frustrierte. Zudem stieß seine datenbasierte Herangehensweise häufig auf Widerstand. Dennoch reklamiert Graham: »Die Arbeit von Decision Technology half den Spurs, zusammen mit Manchester City, wo ab 2008 Abu Dhabi mit Ölgeld einstieg, aus den ›Big Four‹ die ›Big Six‹ des englischen Fußballs zu machen.«
Für Tottenham entwickelte Graham das Statistikwerkzeug »Possession Value Model«, das er später in Liverpool weiter verfeinerte. Hinzu kam das Modell »Pitch Control«. Mit dem »Possession Value Model« (Nutzen von Ballbesitz) wird berechnet, wie stark eine Handlung auf dem Spielfeld die Wahrscheinlichkeit eines Tores beeinflusst. Wird der Ball in gefährlichere Zonen gebracht oder den Gegner unter Druck gesetzt, steigert das den »Possession Value«; Ballverluste oder ungefährliche Aktionen senken ihn. So wird versucht, objektiv zu messen, wie ein Spieler zum Erfolg oder Misserfolg der Mannschaft beiträgt.
»Pitch Control« (Spielfeldkontrolle) wiederum misst die Fähigkeit eines Teams, gefährliche Räume zu kontrollieren und durch gutes Passspiel Ballbesitz und Spielfluss zu sichern – ein Indikator auch für die taktische Qualität des Trainers. Hier geht es mehr um Teamfähigkeit und strategische Ausrichtung als um individuelle Athletik.
Am Ende ist auch der englische Profifußball nichts anderes als kapitalistischer Konkurrenzkampf, der auf dem Feld ausgetragen wird – zwischen Eigentümern verschiedener Clubs.
Für den Fernsehzuschauer hat Grahams Herangehensweise den englischen Fußball spannender gemacht. Mehrere Teams konkurrieren um die Krone – anders als in Deutschland mit Dauermeister Bayern München. Technologische Innovation hat die großen Kapitalflüsse externer Geldgeber zumindest temporär ausgeglichen. Am Ende ist auch der englische Profifußball nichts anderes als kapitalistischer Konkurrenzkampf, der auf dem Feld ausgetragen wird – zwischen Eigentümern verschiedener Clubs. Demokratisch organisierte Sportvereine kennt der englische Spitzenfußball kaum. Hier agieren Kapitalfraktionen, die sich einen Fußballclub als Investition halten.
Da ist es folgerichtig, dass der Erfolgstrainer Jürgen Klopp nach seinem Abschied von Liverpool FC seit dem 1. Januar 2025 »Global Head of Soccer« bei Red Bull ist. In dieser Rolle verantwortet er die fußballerische Ausrichtung und Weiterentwicklung aller Clubs des österreichischen Konzerns weltweit. Sicherlich hat ihn dabei auch Ian Grahams datenbasierte Herangehensweise geprägt.
Ian Graham: Wie man die Premier League gewinnt – Die Inside-Story der Datenrevolution im Fußball. Aus dem Englischen übersetzt von Olaf Bentkämper. Bielefeld 2025, Verlag Die Werkstatt, 336 Seiten, 29,90 Euro
