Letzte Party vor dem Weltende
Irgendwo im Süden Marokkos: Helfende Hände stapeln abgenutzte Boxen aufeinander. Eine gigantische Lautsprecherwand entsteht vor einer steilen Felswand. Großaufnahmen zeigen, wie Kabel gesteckt und Schalter umgelegt werden. Bald dröhnt der repetitiv schleifende Sound durch den Nachmittag und setzt einen Rave in Bewegung. Beats grummeln, als würden sich tektonische Platten aneinander reiben.
Zu den Klangtexturen des Filmkomponisten und DJ Kangding Ray groovt eine Schar vom Leben gezeichneter Techno-Jünger:innen im staubigen Ambiente. Es ist keiner dieser Raves, bei denen schicke junge Leute einfach nur Spaß haben und flippige Party-Selfies für Instagram produzieren. Vernarbte Haut, Alter, Versehrtheit sind sichtbar, der Wunsch der Raver, die Grenzen des Körpers zu überwinden, alles hinter sich zu lassen und durch Trance in andere Sphären zu wechseln, ist mit Händen zu greifen.
Bald dröhnt der repetitiv schleifende Sound durch den Nachmittag und setzt einen Rave in Bewegung. Beats grummeln, als würden sich tektonische Platten aneinander reiben.
Auch im Kinosaal entfalten die Bässe ihre Wirkung, so dass das Publikum fast schon physisch miterlebt, was die Figuren in »Sirāt«, dem vierten Spielfilm des spanisch-französischen Regisseurs, Drehbuchautors und Schauspielers Óliver Laxe, in den nächsten eineinhalb Stunden durchmachen. Luis (Sergi López) und sein zwölfjähriger Sohn Esteban (Bruno Núñez) stoßen zu den Tanzenden. Der Vater ist auf der Suche nach Tochter Mar, die fünf Monate zuvor auf einem Techno-Event verschwunden ist. Seitdem fehlt jedes Lebenszeichen von ihr, weshalb Luis und Esteban nun mit Handzetteln durch die Menge laufen und nach Hinweisen fragen.
Als am Nachmittag des nächsten Tags marokkanische Militärpolizisten die Party beenden, weil im Land der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, schnappen sich einige Raver zwei klapprige, aber geländegängige Busse, die die Militärpolizei zu ihrem Abtransport mitgebracht hat, und flüchten vor den Schrecknissen dieser Zeit. Durch Gebirge und Wüste dringen sie tiefer in die unwirtliche Landschaft vor, um den nächsten Rave anzusteuern. Krieg und Kata-strophe im Nacken, folgen Luis und Esteban der Gruppe in ihrem kaum wüstentauglichen Familienwagen. Hier verabschiedet sich der Film jedoch von Partys am Rande der bewohnbaren Welt und wendet sich existentielleren Gefilden zu.
Fasziniert von den tätowierten Gestalten
Als die Aussteiger, die Laxe mit Techno-Travellern ohne schauspielerische Erfahrung besetzt hat, das Vater-Sohn-Gespann nach anfänglicher Ablehnung akzeptieren, wächst die ungleiche Gruppe zu einer Familie von in unterschiedlicher Weise Versehrten zusammen. Dabei fehlt dem verschlossen wirkenden Luis zunächst jedes Verständnis für die Besessenheit der Raver. Getrieben von der Sorge um seine Tochter lässt er sich nur aus eigener Bedürftigkeit auf die Gemeinschaft des tribalistischen Kollektivs ein. Das führt zu einigen Verständigungsproblemen, aber mehr und mehr auch zu einer allmählichen Annäherung.
Esteban dagegen ist schnell fasziniert von den tätowierten Gestalten mit ihren wilden Frisuren und der zärtlichen Fürsorge füreinander. Warum Josh (Joshua Liam Henderson) eine Beinprothese und Bigui (Richard »Bigui« Bellamy) einen Armstumpf hat, wird ebenso wenig erklärt wie die charakterlichen Eigenheiten der einzelnen Personen. Angesichts des apokalyptischen Zustands des Planeten und der Herausforderungen der Reise nach Süden entlang tiefer Abgründe sind die Unterschiede zwischen den Personen unwichtig.
»Mad Max«, »Zabriskie Point«, »Near Dark«
In »Sirāt« verschmilzt Óliver Laxe nicht nur Bewegungen und Geschichten souverän miteinander, die auf den ersten Blick kaum in einen Erzählfluss zu passen scheinen. Auf dem Weg seiner Figuren wandelt sich auch der Film selbst einige Male, nimmt Motive aus Wüsten- und Abenteuerfilmen auf und stößt ins Genre der Endzeiterzählungen vor. Deutlich fühlt man sich an die 1979 begonnene »Mad Max«-Reihe von George Miller erinnert; aber auch Assoziationen an die sich im Wüstensand liebenden Hippies aus Michelangelo Antonionis »Zabriskie Point« (1970) oder die Gemeinschaft der ständig in Bewegung bleibenden Vampire in Kathryn Bigelows »Near Dark – Die Nacht hat ihren Preis« (1987) stellen sich ein.
Zusammengehalten wird die Erzählung von den kontrastreichen 16-Millimeter-Bildern des Kameramanns Mauro Herce. Im Mittelteil des Films lassen sie die nächtliche Reise der gleichsam durch die Wüste schwebenden stählernen Vehikel in langen Überblendungen wie eine Raumschiffflotte in den Weiten des Alls wirken. Irgendwann scheinen sich dann aber gerade die Bilder, die mittags bei senkrecht am Himmel stehender Sonne aufgenommen worden sind, mehr und mehr zu verdunkeln. Dabei trägt die mit dem Rave eingeführte Filmmusik bis zuletzt dazu bei, die Atmosphäre bei allen Richtungswechseln und Stimmungsumbrüchen konstant dicht zu halten.
Vor der Ahnung des Eintritts der Welt in einen Dritten Weltkrieg und nach einer kurzen Phase der gemeinsamen Sorge aller Beteiligten um Estebans Hündin Pipa, die Vergiftungserscheinungen zeigt, nachdem sie vermutlich von LSD-haltigen Exkrementen der Raver gekostet hat, ereignen sich Dinge, die sich unterschwellig schon länger angekündigt haben. In ihrer Wucht verlangen sie Protagonisten wie Zuschauern einiges ab und machen den Film, wie Laxe es im Interview mit Arte formuliert, zu einem Übergangsritual voller Überraschungen. Nach einer kurzen Phase der Heilung, in der es weniger darum geht, wieder auf die Beine zu kommen, als überhaupt die Situation zu verstehen, geht es dann weiter zum absurd-spannenden Ende, das gleichermaßen an den Kinosessel fesselt wie den Wunsch weckt, den Blick abzuwenden.
Der titelgebende Begriff al-sirāt bezeichnet, wie eine dem Film vorangestellte Schrifttafel verrät, im Islam die Brücke, dünn wie ein Haar, scharf wie ein Messer, die Verstorbene überqueren müssen, um ins Paradies zu gelangen. Laxe, der mit schwarzem Bart und wallendem Haar ein wenig wie ein Sufi auftritt, bezeichnet seinen Film denn auch als im etymologischen Sinne des Wortes »religiös«.
Der Film »Sirāt«, der zusammen mit »In die Sonne schauen« (2025) den Preis der Jury bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes gewonnen hat, ist eine beatgestützte Meditation über die Lage des Menschen am Abgrund der Zeit.
Dabei bezieht er sich auf die Bedeutung des lateinischen Verbs ligare, von dem sich das Wort »Religion« ableitet und das unter anderem verbinden und vereinigen heißt. »Ich wollte einen Film machen, der die Wiederverzauberung in der heutigen Welt feiert. Ich gehöre zu denen, die an die Rückkehr des Heiligen glauben«, erklärte er im Interview auf dem Festival La Semaine de la critique.
Der Film »Sirāt«, der zusammen mit dem ebenfalls so ungewöhnlichen wie sehenswerten deutschen Wettbewerbsbeitrag »In die Sonne schauen« (2025) von Mascha Schilinski den Preis der Jury bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes gewonnen hat, ist eine beatgestützte Meditation über die Lage des Menschen am Abgrund der Zeit. Er wirft seine Figuren auf Fragen des nackten Überlebens zurück, wie man es im Kino in dieser Intensität länger nicht erlebt hat. Dennoch findet er zuletzt ein Schlussbild, das zwar die vorherigen Schrecken nicht ungeschehen macht, aber durchaus als Plädoyer dafür zu verstehen ist, die Hoffnung nicht aufzugeben.
Sirāt (Frankreich/Spanien 2025). Buch: Óliver Laxe, Santiago Fillol. Regie: Óliver Laxe. Darsteller: Sergi López, Bruno Núñez, Jade Oukid. Filmstart: 14. August