Blicke durch die Zeit
Mühsam schleppt sich Erika (Lea Drinda) einbeinig auf Krücken durch den Flur eines verwinkelten Hauses. Vom Hof brüllt ihr Vater in niederdeutschem Platt nach ihr: Sie solle endlich die Schweine zurück in den Stall bringen! Es sind die vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, der Ort der Handlung ist ein Vierseithof in der provinziellen Abgeschiedenheit der Altmark. Erikas Einbeinigkeit ist nur gespielt, die Krücken gehören dem bettlägerigen Onkel Fritz (Martin Rother).
Für ihn und seinen Beinstumpf hat die junge Frau eine Obsession entwickelt, von der zahlreiche ihrer Zeichnungen zeugen. Immer wieder schleicht sie heimlich in sein Zimmer, um ihn im Schlaf zu betrachten oder von dem Schweiß zu kosten, der sich in seinem Nabel sammelt. Weil sie über die seltsame Phantasie ihre Pflichten vernachlässigt hat, bekommt sie eine schallende Ohrfeige, als sie wieder im Hof erscheint. Ihre Reaktion auf die brutale Zurechtweisung sind ein verwirrt-trotziges Lächeln und ein Blick durch die Zeit, direkt in die Kamera von Fabian Gamper.
Wie ein Geist schwebt die Kamera bei der Betrachtung des Geschehens durch die Zeiten und registriert die unheimlichen Wiederholungen, ganz so, als sei die Kamera ein eigener, wissender Akteur.
Dessen eng kadrierte, vorwiegend dunkel gehaltene und stets bewegte Bilder verbinden in Mascha Schilinskis zweitem Spielfilm »In die Sonne schauen« die über vier Epochen verstreuten Handlungssplitter, die vom Heranwachsen junger Frauen auf demselben Vierseithof im ländlichen Norddeutschland erzählen. Beim Filmfestival in Cannes hat ihr so sperriges wie nachhallendes Werk zusammen mit Óliver Laxes wuchtigem Endzeitdrama »Sirāt« den Preis der Jury gewonnen. Im August wurde nun bekannt, dass sich der Film als deutscher Vorschlag für die Kategorie Bester Internationaler Film bei der Oscar-Verleihung 2026 durchgesetzt hat.
Wie ein Geist schwebt die Kamera bei der Betrachtung des Geschehens durch die Zeiten und registriert die unheimlichen Wiederholungen und Überlagerungen schmerzbehafteter Motive aus der Erfahrungswelt weiblicher Heranwachsender, ganz so, als sei die Kamera ein eigener, wissender Akteur. Zusammengehalten wird die Reise von einer Tonspur, die mit experimentellem Dröhnen, verstärkten Naturgeräuschen, Erzählstimmen aus dem Off und dem wiederkehrenden Thema von Anna von Hausswolffs Stück »Stranger« die eigensinnig-komischen wie traumatischen Momente zu einem mosaikartigem Ganzen verwebt.
Der Film springt 30 Jahre zurück ins Kaiserreich kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ein Pulk von Geschwistern, unter ihnen die strohblonde neunjährige Alma (Hanna Heckt), tobt durchs Haus und treibt allerlei Schabernack. Als die Kinder für einen Moment unbeobachtet sind, nageln sie in der Diele die Pantoffeln der Magd auf einer Schwelle fest, was zum gewünscht slapstickhaften Unfall führt, als die Frau in die Schuhe hineinschlüpft – wobei die Hausangestellte ins Spiel einsteigt und sich glaubhaft tot stellt, bevor sie ihrerseits die Kinder durch Zimmer und Flure jagt.
Der Tod in all seinen Formen ist weit über diesen Streich und seine Folgen hinaus der unheimliche Begleiter der heranwachsenden Mädchen. So bemerkt Alma beim Betrachten einer Totenfotografie – Verstorbene, insbesondere Kinder, zu fotografieren, war im 19. und frühen 20. Jahrhundert gängige Praxis –, dass sie einer frühverstorbenen Schwester gleichen Namens zum Verwechseln ähnlich sieht. Akribisch stellt sie daraufhin nicht nur das angsteinflößende Bild nach, sondern fürchtet von nun an, bald selbst zu sterben.
Die Angst der Eltern vor dem Tod eines weiteren Kindes lässt das schweigsame Paar eine verhängnisvolle Tat begehen: Weil sie ihren Sohn nicht im Krieg verlieren wollen, treiben sie Almas großen Bruder Fritz (in jungen Jahren: Filip Schnack) brutal in einen Unfall, bei dem er sein Bein und damit seine Selbständigkeit verliert.
Sexuell konnotierte Gewalt
Der »Arbeitsunfall« verändert auch das Leben der Magd Trudi (Luzia Oppermann) für immer, die den behinderten Mann fortan waschen und sich um seine intimen Bedürfnisse kümmern muss. Sie habe, sagt sie an einer Stelle, völlig umsonst gelebt. Wie viele Leidensgenossinnen ist sie von ihren Dienstherren zwangssterilisiert worden, um, wie es einmal heißt, keine Gefahr für die Knechte und Männer des Hofs darzustellen. Sexuell konnotierte Gewalt fließt »In die Sonne schauen« wie nebenbei in den Erzählreigen ein, spiegelt sie dann aber im Schicksal weiterer Charaktere und erzeugt so einen weiten Resonanzraum traumatischer Erfahrungen.
Die Erzählung geht danach in die DDR-Zeit über, zu Angelika (Lena Urzendowsky), der Tochter von Erikas Schwester Irm (Claudia Geisler-Bading), die in einer bäuerlichen Familie auf dem Vierseithof lebt. Als Jugendliche entdeckt sie ihren Körper und die Blicke, die seine Entwicklung auf sich zieht. Zum einen ist da ihr Schwimmtrainer und Onkel Uwe (Konstantin Lindhorst), der sie gegen kleine Gefälligkeiten sexuell ausnutzt, woraus sich ein inzestuöses Abhängigkeitsverhältnis entwickelt. Zum anderen gibt es dessen Sohn und ihren Cousin Rainer (Florian Geißelmann), der so unglücklich wie ungeschickt in sie verliebt ist. Zwischen Lebensgier und Düsternis entwickelt Angelika eine Sehnsucht, die sie, während mit einer Polaroidkamera aus dem Westen unter großer Begeisterung der übrigen Beteiligten ein Familienfoto aufgenommen wird, in eine einsame Entscheidung treibt.
An dieser Stelle lässt Schilinski die Geisterhaftigkeit ihres Erzählzusammenhangs – ähnlich wie Andrea Arnold in »Bird« mit der von Franz Rogowski gespielten Gestalt des vogelartigen Beschützers der Protagonistin – für einen filmischen Wimpernschlag in einen tatsächlichen Spukmoment münden. Erzählt wird das aus Rainers Perspektive mit der einzigen männlichen Off-Stimme des Films.
Während der Hof in der Vergangenheit von patriarchalen Familien bevölkert ist, bewohnt ihn in der Gegenwart der 2020er Jahren eine Kleinfamilie aus Berlin mit den Töchtern Lenka (Laeni Geiseler) und Nelly (Zoë Baier). Auch ihr Heranwachsen erfährt, obwohl sie nicht mit den Charakteren aus den anderen Epochen verwandt sind, eine starke Prägung durch den Ort, der außer dem Hof mit den engen und nun mit dem Vorschlaghammer lichter gemachten Zimmern auch die umgebenden Felder und vor allem den nahen Fluss mit seinen Badestellen und dunklen Geheimnissen umfasst.
Nicht die Fragmente ihres Erzählkosmos in einen herkömmlichen Plot zwingen
Dort lernen die Schwestern Kaya (Ninel Geiger) kennen, ein verschlossenes Mädchen aus der Nachbarschaft, deren Mutter vor kurzem verstorben ist. Das stellt eine erste Verbindung der Gegenwartserzählung in eine von Tod und Gefahr geprägte Vergangenheit dar.
Schilinski und ihre Co-Autorin Louise Peter versuchen nicht, die Fragmente ihres Erzählkosmos in einen herkömmlichen Plot zu zwingen. Ähnlich wie im Kino von Andrea Arnold oder Carla Simón (»Alcarràs – Die letzte Ernte«, steht in »In die Sonne schauen« der Ort mit den Kollektiven, die sich in und um ihn herum bilden, im Mittelpunkt.
Er organisiert die assoziativ gereihten Impressionen und bietet eine Gelegenheit für Projektionen und Reflexionen zu generationsübergreifenden Fragen wie der, wie lange man wohl Glück vorspielen kann, ohne dass es jemand merkt. Dabei reflektiert der Film auch augenzwinkernd die Möglichkeiten des Kinos, zum Beispiel wenn Angelika feststellt, dass Mutti Sachen weiß, an die sie sich eigentlich gar nicht erinnern dürfte.
An einigen Stellen macht sich bemerkbar, dass das Budget knapp war. Die Idee des Films, die, wie Schilinski im Interview im Presseheft sagt, darauf beruht, dass der Zuschauer zuerst fühlt, bevor er versteht, beschädigt das nicht. »In die Sonne schauen« ist ein intensiver Film mit ganz eigener Handschrift, der zu Recht als Oscar-Hoffnung gilt.
In die Sonne schauen (Deutschland 2025). Regie: Mascha Schilinski. Drehbuch: Mascha Schilinski und Louise Peter. Mit Lena Urzendowsky, Luise Heyer, Laeni Geiseler. Bereits angelaufen