09.10.2025
Mitglieder des ­FC-St.-Pauli-Fanclubs in Chicago im Gespräch

»Erklingt die National­hymne, gehen wir Bier holen«

In Chicago gibt es einen Fanclub des Hamburger Fußballvereins FC St. Pauli. Mit dessen Mitgliedern Brad Thomson, Chuck Carlson, Lee Wickham und Gary Norris sprach die »Jungle World« über den Einfluss von Frauenfußball, die dritte Halbzeit und ihre politischen Aktionen.

Wie kommt man auf die Idee, einen St.-Pauli-Fanclub in Chicago zu gründen?
Einige von uns kennen den Verein schon seit den neunziger Jahren, als junge, fußballspielende Anarchopunks. Aber alles lief damals über Mund-zu-Mund-Propaganda. Später sind andere von uns nach Hamburg gefahren und haben dort St.-Pauli-Fans getroffen. Wir waren sofort begeistert. Die Atmosphäre im Millerntor-Stadion war einzigartig, mit Fans jeden Alters und Geschlechts. So etwas hatten wir noch nie erlebt. Zu Hause wollten wir Gleichgesinnte finden.

Und gab es Gleichgesinnte?
Es gab St.-Pauli-Fanclubs in New York, Detroit und einigen kleineren Orten, aber keinen in Chicago. Deshalb haben wir uns 2021 darum beworben, ein vom Verein offiziell anerkannter Fanclub zu werden. Jetzt haben wir sogar unser eigenes Logo. Es zeigt das Vereinslogo, kombiniert mit einem Bild des Haymarket Martyrs’ Memorial. Dieses Denkmal erinnert an die Anarchisten, die nach dem Chicagoer Generalstreik und mehrtägigen Unruhen 1886 ­hingerichtet wurden. Die Haymarket Riots begründeten den 1. Mai als ­Internationalen Kampftag der Ar­beiter:innen.

»Wir haben am 1. Mai ein ›Rock against Trump‹-Soli-Konzert gemacht, bei dem mehrere Tausend Dollar für eine selbstorganisierte Küche von und für neu angekommene geflüchtete Familien gesammelt wurden.«

Was fasziniert euch am FC St. Pauli?
St. Pauli ist bekannt für seine subkulturellen Bezüge, und genau das haben wir gesucht – einen Ultra-Lebensstil, der mit Politik verbunden ist. St. Pauli war für uns der Inbegriff eines anarchistischen, antifaschistischen und kompromisslos linken Clubs. Und die Kultur, die die Fans geschaffen hatten, machte ihn für uns zum spannendsten Fußballverein weltweit.

Was für Aktivitäten verfolgt ihr mit eurem Fanclub?
Was uns zusammenbringt, ist natürlich zunächst einmal, mit Gleichgesinnten gemeinsam die Spiele anzusehen. Das ist wirklich erfrischend, denn die US-Sportkultur ist bestenfalls unpolitisch und selten wirklich links. Ein Spiel schauen, ein paar Bier trinken und mit Leuten zusammen sein, die gleiche Werte teilen – so was ist sehr w­ichtig.

Wann beginnen in der Regel die Spiele, und um wie viel Uhr wird das erste Bier geöffnet?
Als wir noch in der 2. Liga waren, gab es schon zum Anpfiff die ersten Drinks, denn die Spiele wurden am Abend auf dem Streaming-Dienst St. Pauli TV gezeigt. Aber jetzt in der Bundesliga schauen wir alle Spiele live, und die beginnen normalerweise morgens um halb neun. Die meisten von uns trinken Kaffee und frühstücken in der ersten Halbzeit. Aber in der zweiten holen sich Leute dann einen Bloody Mary, ein Bier oder einen Biermosa. Das ist eine Mischung aus Bier und Orangensaft.

Und wo geht es dann zur dritten Halbzeit hin?
Bier ist natürlich nicht genug, um das, wofür der Verein steht, zu repräsentieren. Wir sind zum Beispiel beim Projekt »Bücher für Gefangene« tätig, für das wir nach einem Spiel zusammen Bücherpakete für Inhaftierte packen. Wir haben am 1. Mai ein »Rock against Trump«-Soli-Konzert gemacht, bei dem mehrere Tausend Dollar für eine selbst­organisierte Küche von und für neu angekommene geflüchtete Familien gesammelt wurden. Einige der südlichen Bundesstaaten mit rechten Regierungen haben 2022 damit begonnen, auf widerwärtige Art Migrant:innen dazu zu verleiten, in Busse nach Chicago oder in andere Städte mit demokratischen Bürgermeister:innen zu steigen. Daher leben hier viele Menschen aus Venezuela und anderen Teilen Süd- und Mittelamerikas.

Diskutiert ihr auch über Inhalte oder geht es eher um praktischen Unterstützung?
Wir haben kürzlich eine Diskussionsveranstaltung zu transnationalem Antifaschismus in Deutschland und den USA organisiert. In dieser zweiten Trump-Ära scheint es wichtiger denn je, alle uns zur Verfügung stehenden Räume und Communitys zu nutzen, um uns gegen die reaktionären Eingriffe in unser Leben zu wehren und gleichzeitig Menschen, die von rassistischen Angriffen am meisten betroffen sind, materielle Unterstützung zu bieten. Das ist ein ganz anderer Ansatz, als er in der US-Fußballkultur üblich ist.

»Vorvergangenen Monat brachten Fans unseres lokalen Vereins Chicago Fire Banner mit der Aufschrift »Fuck ICE« – die Einwanderungs- und Zollbehörde der USA – mit zum Spiel. Die Sicherheitskräfte kamen, entfernten die Banner, verprügelten einige Fans und verhängten ein zweijähriges Stadionverbot gegen sie.«

Welche Rolle spielt Politik denn im US-Fußball?
Die professionelle Fußballliga ist unpolitisch. Trotz der Forderungen vieler Fans ist es nicht erlaubt, politische Banner mit ins Stadion zu nehmen. Vorvergangenen Monat brachten Fans unseres lokalen Vereins Chicago Fire Banner mit der Aufschrift »Fuck ICE« – die Einwanderungs- und Zollbehörde der USA – mit zum Spiel. Die Sicherheitskräfte kamen, entfernten die Banner, verprügelten einige Fans und verhängten ein zweijähriges Stadionverbot gegen sie. Die Unterdrückung der Fankultur erfolgt auf sehr US-amerikanische Weise: Die Liga behauptet, die Spiele zu einem »familienfreundlichen« Ereignis machen zu wollen. Und nicht nur als Punk weiß man, was »familienfreundlich« bedeutet. Erstens: kein Spaß, kein Singen, kein Trommeln. Zweitens: keine offen politischen Aktionen. Das ist ein großer Unterschied zu Vereinen wie St. Pauli, bei denen eine echte Fanbasis Teil der Vereinskultur ist.

Warum gibt es keine richtige Fankultur in den USA?
Das liegt einfach daran, wie der US-Sport organisiert ist: als Unternehmen, in dem jedes einzelne Team ein Franchise ist. Es ist ein von oben gesteuertes Geschäftsmodell, das von den Eigen­tümer:innen bestimmt wird. Daher gibt es für Fans keine Möglichkeit, die Ausrichtung der Clubs zu beeinflussen. Natürlich sind auch St. Pauli und andere europäische Vereine kommerzialisiert worden. Aber bei ihnen gab es zuerst eine Fangemeinde, dann kam die Kommerzialisierung. In den USA haben wir die Kommerzialisierung, aber die Fangemeinde entstand nie.

Ist es vorstellbar, dass so eine Fankultur in den USA entsteht?
Schwer. Und genau deshalb ist St. Pauli so attraktiv, weil sie uns das ermöglicht. Wenn wir eine Aktion gegen Trump organisieren, weiß ich, dass alle, die bei einem St.-Pauli-Spiel dabei sind, mitmachen. In Chicago kriegen wir oft Besuch von St.-Pauli-Fans aus London, Hamburg oder New York City. Es ist phantastisch, Fanclubs auf der ganzen Welt zu haben.

Gibt es außer eurem weitere linke, antifaschistische Fußballfanclubs in den USA?
In Städten wie Seattle und Portland gibt es Teams, bei denen die antifaschistischen Teile der Fangemeinde stärker sichtbar sind. Minnesota United hat eine linke Fangruppe namens Red Loons, die seit über zehn Jahren besteht. Der Independent Supporters Council ist eine lose Gruppe von Fans, die sich dafür einsetzt, dass politische Banner wie Antifa- oder Regenbogenflaggen während der Spiele erlaubt bleiben. Fans des US-Zweitligisten Vermont Greens haben während eines Ausscheidungsspiels auf Bundesebene am 2. August ein riesiges Bernie-Sanders-Tifo – ein großes, bemaltes Banner – ins Stadion geschmuggelt. Und in den unteren Ligen hat beispielsweise Union Omaha aus Nebraska eine unglaublich LGBTQ-freundliche Fangemeinde. Und die Fanclubs der National Women’s Soccer League sind sehr transfreundlich.

Im Vergleich zu Europa scheint Frauenfußball in den USA schon seit längerer Zeit populär zu sein …
Fußball ist hier für junge Frauen seit Jahrzehnten ein Weg ins College, da sie Stipendien erhalten können. Wenn sie gut sind, können sie kostenlos studieren. Aus diesem Grund ist die US-amerikanische Frauennationalmannschaft so erfolgreich. Frauen haben diesen Sport auf nationaler Ebene wirklich geprägt. Zudem haben Spielerinnen des US-Fußballverbands vor Gericht jahrelang darum gekämpft, dass die Gehälter der Frauen- und Männer-Nationalmannschaften angeglichen werden – und hatten Erfolg. Spielerinnen wie Megan Rapinoe haben LGBTQ-Themen sichtbar gemacht. Politik und Frauenfußball gehen Hand in Hand.

Welche Rolle spielt Rassismus in der US-Fußballkultur?
Fußball ist eine Sportart, die in den Vereinigten Staaten jahrzehntelang nur dank Einwanderern überlebt hat. In den späten sechziger Jahren begann sich dann der Profifußball zu entwickeln. Und viele Organisatoren dieses Sports waren weiß. Mal offen, mal unbeabsichtigt wurden die Dinge so organisiert, dass Nichtweiße ausgeschlossen wurden. Das änderte sich erst nach und nach in den letzten 25 Jahren. Heute ist Fußball ein multiethnischer Sport.

In Deutschland gibt es Fußballvereine, die für ihre rechten Anhänger bekannt sind. Manche haben sogar Verbindungen ins Nazi-Milieu, Re­krutierung findet im Stadion statt. Gibt es solche Verbindungen zur rechtsextremen Szene auch hier?
Es gibt Spieler, die christlich-fundamentalistische, sexistische oder anderweitig reaktionäre Positionen vertreten und dafür im Stadion eine öffentliche Bühne bekommen.. Aber das ist nicht organisiert und es gibt keine Re­krutierung im eigentlichen Sinne. Doch in gewisser Weise ist das auch nicht nötig, weil der US-amerikanische Sport bereits stark von Nationalismus geprägt ist.

»Selbst bei unserem Verein Chicago Fire wird vor dem Spiel die Nationalhymne gespielt. Und man denkt sich: Warum zum Teufel? Ich meine, wir kommen aus Chicago. Warum spielen wir die Nationalhymne?«

Wie zeigt sich dieser Nationalismus im US-Sport?
Wenn man zu einem Baseball-Spiel geht, wird zu Beginn die Nationalhymne gesungen. Später gibt es einen militärischen Gruß. Ein Veteran wird auf das Spielfeld gebracht, alle stehen auf und klatschen. Bei einem Football-Match sieht man die US-Flagge, Werbung für die Armee und Überflüge von Militärjets. Und der Fußball ist diesem Beispiel gefolgt. Selbst bei unserem Verein Chicago Fire wird vor dem Spiel die Nationalhymne gespielt. Und man denkt sich: »Warum zum Teufel?« Ich meine, wir kommen aus Chicago. Warum spielen wir die Nationalhymne? Aber das wird erwartet, Nationalismus ist fest in den Sport eingebettet. Alle stehen einfach für die Nationalhymne auf.

Was passiert, wenn man während der Nationalhymne nicht aufsteht?
Nichts, aber fast alle stehen eben auf. Es gibt jedoch einige Leute, die sitzenbleiben, nicht mitsingen oder ihre Mützen nicht abnehmen. Und der Bierstand und die Toiletten sind geöffnet. Wenn also die Nationalhymne erklingt, gehen wir auf die Toilette und holen uns zudem ein Bier. Das ist der perfekte Zeitpunkt.