09.10.2025
Das Buch »Keine Macht für Niemand« fragt nach Widerständigkeit im deutsch-deutschen Pop

Würstchen mit Salat

Die Geschichte des deutsch-deutschen Pop hat der Kulturwissenschaftler Marcus S. Kleiner für sein Buch »Keine Macht für Niemand« aufgeschrieben und sein besonderes Augenmerk dabei auf das Widerstandspotential von Musik gelegt.

Der Titel des neuen Buchs von Marcus S. Kleiner ist vielsagend. »Keine Macht für Niemand« heißt es, bei diesem Slogan erscheint natürlich sofort die in Fankreisen als »weißes Album« firmierende LP gleichen Namens von Ton Steine Scherben vor dem inneren Auge, die 1972 so etwas wie der gegenkulturelle Urknall im westdeutschen Pop war.

Um das Widerstandspotential des Pop, darum, wie sich der deutsch-deutsche Pop – Ost wie West – über die Jahrzehnte kritisch mit der Gegenwart auseinandergesetzt hat, geht es dem Medien- und Kulturwissenschaftler auch in seinem mehr als 400 Seiten umfassenden Buch: »Pop und Politik in Deutschland« lautet der Untertitel.

Kleiner hat den Anspruch, deutsche Popmusik und ihre Texte von den fünfziger Jahren bis heute auf utopische und dystopische Inhalte und ihr »politisches und politisierendes Potential« hin zu untersuchen.

Kleiner hat den Anspruch, deutsche Popmusik und ihre Texte von den fünfziger Jahren bis heute auf utopische und dystopische Inhalte und ihr »politisches und politisierendes Potential« hin zu untersuchen. Dazu hat er rund 260 deutschsprachige Popsongs analysiert, zudem mit Jan Müller (Tocotronic), Kersty Grether und Sandra Grether (The Doctorella), Thorsten Nagelschmidt (Muff Potter) und einigen anderen prägenden Figuren der Indie- und Punkszene gesprochen.

Parallel erzählt der Autor eine Geschichte der Kontinuität rassistischer Gewalt und der Ausgrenzung in Deutschland. Einige Todesopfer – etwa des NSU – werden namentlich genannt und hervorgehoben, Kleiner erzählt, wie Rassismus und Diskriminierung im Pop verhandelt wurde und wird. So gut wie alle Genres kommen vor, deutsche und deutschsprachige Popmusik von Caterina Valente bis Slime, von Franz Josef Degenhardt bis Eko Fresh, von Panta Rhei über Rammstein bis Kraftklub wird analysiert. Der Autor greift zudem im politischen Sinne wichtige Ereignisse des deutschen Pop auf, zum Beispiel das Burg-Waldeck-Festival, die Internationalen Essener Songtage und das »Wir sind mehr«-Festival in Chemnitz 2018.

Dies ist auch das große Verdienst des Buchs: Es bietet einen weiten und weitenden Blick auf die hiesige Pop-Geschichte von der Adenauer- bis zur Scholz-Ära. Diesbezüglich ist das Buch stringent, man springt mit dem Autor durch die Epochen: Bully Buhlan singt im Nachkriegs-Berlin von der »Sehnsucht nach Würstchen mit Salat«, Freddy Quinn stimmt Verdrängungsschlager an (»Heimweh (Dort wo die Blumen blüh’n)«), politische Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt und Wolf Biermann legen den Finger in die Wunde, Rio Reiser revoltiert, Marius Müller-Westernhagen kommentiert die Rasterfahndung im Deutschen Herbst, Udo Lindenberg singt über Gastarbeiter – diese Liste könnte man fortführen bis in die Gegenwart, in der auch Frauen eine größere Rolle im Pop spielen. Viele Musiker:innen stehen hier pars pro toto für spezifische Abschnitte deutscher Geschichte. Vor allem für weniger Bejahrte taugt das Buch als Kompendium.

Die Holocaust­überlebende Lin Jaldati (auf einem Foto von 1938)

Die Holocaust­überlebende Lin Jaldati (auf einem Foto von 1938) lebte ab 1952 als Sängerin in Ostberlin

Bild:
Henk Wanink (CC BY 4.0)

Zumal, auch das ist hervorzuheben, der Pop der Marginalisierten hier immer berücksichtigt wird. Zum Beispiel jüdische Musiker wie die niederländische Sängerin Lin Jaldati, die drei Konzentrationslager überlebte und in den Fünfzigern in die DDR ging. Jaldati sang jiddische Lieder, erinnerte 1966 in dem Stück »Ist das alles schon wieder vergessen?« auch an die Terrorherrschaft der Nazis und sprach ihre mangelhafte Aufarbeitung an. Die Gastarbeiter:innen und der ihnen entgegenschlagende Rassismus ziehen sich thematisch ohnehin durch das Werk, der türkische Rocksänger Cem Karaca und sein 1984 im Exil entstandenes Album »Die Kanaken« werden natürlich gewürdigt. Auch an die Selbstverbrennung der türkischen Arbeitsmigrantin und Schriftstellerin Semra Ertan 1982 in Hamburg erinnert der Autor.

Kleiner arbeitet dabei das politische Potential des Pop immer wieder heraus. »Gerade in unseren gegenwärtigen Zeiten, die sich durch eine fortschreitende Tribalisierung, Entsolidarisierung bzw. den destruktiven Impuls gegen den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer polarisierten und fragmentierten Gesellschaft auszeichnen, kann die popkulturelle Utopie der Solidarität weiterhin als ein demokratiestützendes Korrektiv fungieren«, schreibt er beispielsweise. Wie hier ist die Sprache dabei meist akademisch-substantivisch, also nicht immer allzu packend zu lesen.

Das Buch hat aber auch Mängel und Lücken. Das Sujet scheint einfach viel zu groß gewählt. Wenn man eine Geschichte des (politischen) deutsch-deutschen Pop schreiben will, bräuchte man sicher mehr Raum, müsste vielleicht eher 260 Songs pro Jahrzehnt analysieren, daher muss es hier zwangsläufig Leerstellen geben. Auch stellen sich Fragen wie die, ob es wirklich reicht, die »Neue Deutsche Härte« und damit eine Band wie Rammstein auf nur zwei Seiten abzuhandeln? Ob man Aggro Berlin und Gangsta-Rap nicht mehr Raum geben müsste? Funktioniert es, sich so sehr auf die linke Popkultur zu konzentrieren? Andere Entscheidungen erscheinen willkürlich; so wird eine (einzige) Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2000 herangezogen, um Aussagen über die Millennial-Generation zu treffen (Entpolitisierung, steigende Ausländerfeindlichkeit) – für viele andere Generationen fehlen fundierte soziologische Einordnungen ganz.

Changieren in Stil, Ton und Perspek­tive

In einem Seitenstrang die Geschichte des Rassismus in Deutschland zu erzählen, ist lobenswert. Doch konsequent wird auch das nicht verfolgt: Der Autor widmet sich im Kapitel über die Jahre seit 2020 der Covid-19-Pandemie, dem Ukraine-Krieg und dem 7. Oktober ausführlich – nicht aber dem rechten Terroranschlag in Hanau 2020.

Negativ fällt auch auf, dass »Keine Macht für Niemand« in Stil, Ton und Perspek­tive zu stark changiert. Persönlich-anekdotisch beginnt es, in den Songanalysen und Ergebnissen springt es in den literaturwissenschaftlichen Duktus, zwischendurch verfällt Kleiner in einen lakonischen Feuilleton-Ton.

Vielleicht hätte das Buch einfach mehr Zeit gebraucht. Dann würden gegen Ende vielleicht auch nicht eher banale und allgemeine Erkenntnisse stehen wie: »Politische deutschsprachige Popmusik allein kann keinen grundlegenden Politikwandel herbeiführen. Die Popmusik hat jedoch das Potential, politische Erfahrungen in ihren Texten zu reflektieren, das Bewusstsein für relevante Themen zu schärfen und zur Selbstvergewisserung innerhalb bestimmter politischer Milieus beizutragen.«

Gleichzeitig kann man es aber schätzen, wie viel wertvolle Recherche hier geleistet worden ist und welche Anstöße dieses Buch gibt. Kleiner gelingt es durchaus zu erzählen, wie Pop und Deutschland überhaupt zusammengehen konnte (oder eben nicht!); er zeigt, dass auch hierzulande Emanzipation durch Pop möglich war und ist, und er gibt einem jede Menge Anknüpfungspunkte für neue Pop-Erzählungen. Vielleicht aber eben zu viele für nur ein Buch.


Buchcover

Marcus S. Kleiner: Keine Macht für Niemand. Pop und Politik in Deutschland. Reclam-Verlag, Stuttgart 2025, 462 Seiten, 34 Euro